Jede Demokratie hat die Regierung, die sie verdient. In Deutschland demonstrieren seit Dezember einige Minister (und ganz besonders Ministerinnen) der Ampel-Koalition von Kanzler Olaf Scholz (SPD) augenfällig die Dominanz von Mittelmaß und Quoten-Pflicht; deutlich wurde, wie wenig Erfahrung, Expertise und Führungsstärke es heute braucht, um in der viertgrößten Industrienation der Welt Spitzenämter zu besetzen.
Karl Lauterbach denkt sicher, er werde in die Geschichte eingehen als der führende Politiker im Kampf gegen Corona in Deutschland, zunächst als meist beachteter Experte des Bundestags, dann als Fachminister. Vermutlich ist das ein Irrtum. Er wird in Geschichtsbüchern eher als herausragendes Beispiel für die noch immer in ihrer Dimension nur unzureichend erkannte Macht der Medien genannt werden. Denn ohne deren übergroße Gunst – insbesondere die der Fernsehmacher – wäre der Sozialdemokrat wohl kaum einer der beliebtesten Politiker des Landes oder gar Minister eines Schlüssel-Ressorts geworden.
„Wissenschaftler mit autistischen Zügen“
Selbst in der SPD gab es nach dem Wahlerfolg im September 2021 nur wenige, die sich den Sonderling aus dem rheinischen Düren mit seinem transusig wirkenden, rheinischen Singsang als Bundesgesundheitsminister vorstellen konnten. Zumal der Einzelgänger als nicht sehr loyal zur SPD galt, hatte er doch in der Vergangenheit mit seinen Statements herzlich wenig Rücksicht auf Parteiinteressen genommen.
„Am ehesten kann man ihn wohl als einen Wissenschaftler mit autistischen Zügen charakterisieren“, schrieb sein Parteifreund, der Ex-Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, in der Zeitschrift Cicero. Lauterbach gelte „als der vielleicht eigenbrötlerischste und eigensinnigste Sozialdemokrat“ in der SPD-Bundestagsfraktion. Für den Mediziner sei es ein Glücksfall gewesen, so Brodkorb, dass er als Abgeordneter ohne politische Verantwortung in der Exekutive während der ersten 18 Monate der Pandemie in den Fernseh-Talkshows gelassen über den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft plaudern und mit düsteren Prognosen beeindrucken konnte. So erkläre sich seine Popularität.
Fernsehstar Lauterbach: „Gesundheitsminister der Herzen“
In der Tat galt Lauterbach in den vergangenen zwei Jahren als der unumstrittene Star der deutschen TV-Talkshows. Allein 2021 gewann er mit seiner ruhigen und bedächtigen Art in insgesamt 40 Sendungen der Moderatoren Anne Will, Sandra Maischberger, Maybrit Illner, Frank Plasberg und Markus Lanz eine einzigartige, bundesweite Popularität. Der Sozialdemokrat wurde neben dem früheren CDU-Gesundheitsminister Spahn das politische Gesicht des Kampfes gegen Corona in Deutschland.
Er war zwar mit seinen düsteren Warnungen und Prognosen oft die Kassandra der Republik; aber er gab auch Orientierung in Zeiten, in denen die Menschen genau danach lechzten. Maybrit Illner präsentierte Lauterbach in ihrer Sendung nicht einmal sonderlich ironisch als „Gesundheitsminister der Herzen“. Der Sozialdemokrat schien seine plötzlich so bedeutsame Rolle sichtlich zu genießen. „Lauterbach ist süchtig nach … Aufmerksamkeit. Er kann an keinem Mikrofon vorbeigehen“, lästerte die Neue Züricher Zeitung (NZZ).
Lauterbach errang die Sympathien der Deutschen, zeitweise war er bei Umfragen – zuletzt noch im Januar 2022 – der beliebteste deutsche Politiker. Im März, der Ukraine-Krieg hatte das Pandemie-Thema in den Hintergrund gedrängt, hatte er noch immer Platz drei hinter Scholz und Wirtschaftsminister Habeck inne. Trotz oder vielleicht auch wegen seiner zuweilen fast apokalyptischen Pandemie-Vorhersagen gewann der Sozialdemokrat das Vertrauen der tief verunsicherten Bürger.
Einseitigkeit der deutschen Medien
Medienwissenschaftliche Untersuchungen von elf Leitmedien wie die Online-Angebote von FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt, Bild und Spiegel sowie von ARD– und ZDF-Nachrichtensendungen belegen, dass im ersten Pandemiejahr (April 2020 bis April 2021) eine überwältigende Zahl der Medienbeiträge mehr oder minder unkritisch die Pandemie-Strategie der Bundesregierung referierte und massiv unterstützte. „Einseitigkeit war zur Tugend geworden“, schrieb der Mediendienst „heise.de“, der die Studien der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgewertet hatte.
Die Medien fühlten sich demnach vor allem berufen, „Politik und Gesellschaft zu warnen“, und sangen deshalb „ein Loblied auf die Regierungspolitik“. Regierungskritisch seien Medien vor allem dann gewesen, wenn ihnen die Maßnahmen nicht hart genug erschienen oder aus ihrer Sicht zu spät kamen. Lauterbach habe dabei eine zentrale Rolle gespielt, „weil viele Medien dessen harte Linie im Kampf gegen die Pandemie kannten und schätzten“.
Der Sozialdemokrat hütete sich allerdings, die Politik der Großen Koalition frontal oder grundsätzlich zu kritisieren; Lauterbach verteidigte oder forderte meist besonders strikte und gravierende Eingriffe und Verbote im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Alltag, für Betriebe, Schulen, Veranstaltungen und beim Einkauf.
Die positive Resonanz der Öffentlichkeit auf den gesundheitspolitischen Oberlehrer war eigentlich erstaunlich; denn bei seinen unzähligen Interviews und Stellungnahmen zeigte sich rasch, dass Lauterbach oft genug daneben lag, zuweilen seine Positionen binnen kurzer Zeit veränderte, er zudem mit radikalen Forderungen den Bundesbürgern enorme Belastungen und Einschränkungen zumuten wollte.
Lauterbach hat auch Verdienste
Lauterbach hat sicher manche Verdienste, indem er beispielsweise schon früh die Dramatik der Pandemie erkannte und erläuterte. Seine unermüdlichen Anstrengungen, den Bürgern die harten Maßnahmen verständlich zu machen, sein stetes und sicher aufrichtiges Suchen nach der besten Strategie zur Eindämmung von Corona in Deutschland sind aller Ehren wert. Problematisch ist nur, dass er sich zuweilen selbst widersprach oder seine Sichtweisen radikal änderte, dass er mit falschen Angaben operierte und mit dystopischen Prognosen verunsicherte – von dem beliebten und etwas billigem Vorwurf der eitlen Selbstdarstellung gar nicht zu sprechen.
Wie befürchtet, erwies sich der Epidemiologe mit Harvard-Abschluss trotz seiner parlamentarischen Erfahrung mehr als typischer Seiteneinsteiger, der zwar fachlich vieles mitbringt, mit der Aufgabe der politischen Führung, der klugen Kommunikation und der Praxis eines riesigen Apparats als Laie aber schnell an seine Grenzen kommt. Bei der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes im März brachte es Lauterbach mit viel Ungeschick und mangelnder Kommunikation fertig, Verbände, Experten, Länder und Gemeinden gegen sich aufzubringen. Lauterbachs Kernkompetenz sei „Irrlichtern mit Erzeugung von Durcheinander en gros und en détail“, schrieb polemisch, aber nicht unzutreffend der Publizist Jens Peter Paul.
Irrtümer und Kassandra-Rufe
Die Liste von Lauterbachs Irrtümern und Fehleinschätzungen ist lang. Da behauptete er wahrheitswidrig, dass Deutschland die höchste Inzidenz in Europa habe. Oder dass nicht nur die PCR-Tests, sondern auch die Schnelltests von den Gesundheitsbehörden für die Statistik mit verwendet werden würden – was einfach nicht stimmt. Um die Wirksamkeit von Ausgangssperren zu begründen, verwies er auf eine Oxford-Studie, die aber bei genauer Prüfung keineswegs zu dem Ergebnis kam, solche Maßnahmen hätten eine positive Auswirkung auf die Begrenzung der Reproduktionsrate. Lauterbach bestritt eine Zeitlang, dass die Omikron-Variante deutlich weniger gefährlich sei als frühere Virus-Varianten.
Auch bei der Sinnhaftigkeit einer vierten Impfung änderte der Arzt, der allerdings nach seinem Studium nie praktizierte, seine Meinung mehrfach. Dass er sich inzwischen für eine zweite Booster-Impfung der Menschen ab 60 Jahren einsetzt, begründen manche mit der fragwürdigen Bestellung von zusätzlichen 70 Millionen Dosen Impfstoff im Dezember. Für das erste Quartal 2022 stehen damit 128 Millionen Booster-Impfungen (viele mit bedrohlich nahem Verfalldatum) zur Verfügung – bei einer Bevölkerungszahl von 83 Millionen.
Lauterbach, der gerne suggeriert, „die Wissenschaft“ sei sich einig und habe unbestrittene Erkenntnisse, verstieg sich immer wieder auch zu gewagten Prognosen: „Der Ausnahmezustand wird zur Normalität“, meinte er einmal, oder „die Katastrophe ist die neue Normalität“. Zu Ostern 2021 malte er wahre Horrorszenarien von Infizierten und einem Mangel an Intensiv-Betten an die Wand, die sich dann als haltlos entpuppten. Im Januar betonte der frisch gebackene Gesundheitsminister im Bundestag, dass er den Ungeimpften keinen Vorwurf machen würde. Zwei Monate später beschuldigte er die Ungeimpften, sie nähmen „das ganze Land in Geiselhaft“.
Nachsicht mit Lauterbach
Zumindest bis vor Kurzem wurde Lauterbach in den Medien nur ausnahmsweise mit den offensichtlichen Widersprüchen und Übertreibungen konfrontiert, so beispielsweise von Markus Lanz, der ihn wegen sich auffallend widersprechenden Aussagen binnen weniger Wochen offen in der Live-Sendung auslachte. Die Bild-Zeitung lästerte „Lauterja, Lauternein, Lauterhin, Lauterher“… Eine deutliche Kritik in den Medien gibt es an dem studierten Gesundheitsökonomen erst, seitdem er seinen Traumjob wirklich bekommen hat und manche Probleme im täglichen Krisenmanagement einfach nicht zu übersehen sind.
Der nette Nerd
Das Geheimnis seines Erfolgs liegt vermutlich auch in der ungewöhnlichen Kombination von Expertentum und Nahbarkeit. Der Rheinländer mit seiner oft langatmigen Ausführung in einem etwas leiernden, weichen Dialekt des Dürener Platt und seine spürbare Außenseiter-Rolle im politischen Profi-Betrieb lassen den Gedanken an elitäre Arroganz und Abgehobenheit kaum aufkommen.
Auch seine vielen Macken machen ihn irgendwie menschlich: Lange Zeit trug er nur Fliegen am Hemd; er schildert bereitwillig seine Essgewohnheiten: Er sei „Fisch-Vegetarier“, nehme so gut wie kein Salz und so wenig Zucker wie nur möglich zu sich. Lauterbach war es auch nicht peinlich, vor einem Millionenpublikum zu erzählen, dass er nach dem Scheitern einer Ehe und einer Langzeit-Beziehung (er ist Vater von fünf Kindern) nun wieder Single sei und eine Frau suche. Ein schräger, sympathischer Vogel mit profunden Medizinkenntnissen eben, ein richtig netter Nerd.
Einer repräsentativen Umfrage im Dezember 2021 zufolge sprachen sich fast zwei Drittel der Bundesbürger für Lauterbach als Gesundheitsminister aus. „Hätte man nur Journalisten befragt, wäre der Wert wohl noch höher gewesen“, schrieb über seine Zunft lästernd Jonas Hermann, leitender NZZ-Redakteur. Der Versuch mancher Journalisten, „Lauterbach als Minister herbeizuschreiben“, habe wohl dazu „beigetragen, dass er den Posten nun bekommen hat“.
Warum aber liebten die deutschen Medienmacher diesen Mann so? Da gibt es gleich mehrere Aspekte. Er war für Journalisten immer ansprechbar, gab Interview auf Interview, folgte fast jeder Einladung in die Fernsehstudios, war auskunftswillig und meinungsfreudig. Seine Kassandra-Rufe waren stets für Schlagzeilen gut. Auch dank seiner Medienpräsenz hatte er rasch politischen Star-Glamour.
Ein überzeugter Linker
Lauterbach ist zudem ein überzeugter Linker, er setzt sich beispielsweise schon lange für die Abschaffung der privaten Krankenversicherungen, eine allgemeine „Bürgerversicherung“ und massive Reduzierung der Zahl der Krankenhäuser zugunsten großer Zentralkrankenhäuser ein.
Der Sozialdemokrat will in allen Bereichen mehr Staat und mehr Reglementierung, da war es auch nur konsequent, während der Pandemie an vorderster Front zu sein, wenn es um die Durchsetzung von Lockdown, Sicherheitsabstand und Maskenpflicht ging, um gravierende Einschränkungen des beruflichen und privaten Alltags. Lauterbach konnte dem rabiaten Vorgehen des totalitären China sehr viel mehr abgewinnen als dem des in der Pandemie-Frage sehr liberalen Schweden.
All diese Positionen scheinen den wohlversorgten Redakteuren mit fast unkündbaren Arbeitsplätzen in den öffentlich-rechtlichen Sendern entgegenzukommen. Was immer auch Reglementierungen in der Wirtschaft des Landes anrichten würden, was immer auch Einschränkungen für Selbständige, Künstler oder die Veranstaltungsbranche haben würden, ARD- und ZDF-Mitarbeiter werden davon existenziell kaum betroffen.
Noch stärker als die Printmedien gibt es bei den öffentlich-rechtlichen Sendern in der Pandemie-Politik eine weitgehend unkritische Unterstützung der Regierungsmaßnahmen. Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen in Wissenschaft und Politik kamen kaum zu Wort, sie wurden ebenso wie die protestierenden Montags-Spaziergänger gerne in die rechte Ecke oder gar die Gruppe der Verschwörungstheoretiker, der anrüchigen „Querdenker“ und Hass-Botschafter gedrängt.
Medien vernichten, Medien befördern
Im Fall Lauterbach lässt sich bei genauem Hinschauen erkennen, welchen ungeheuer großen Einfluss die Medien letztendlich heute haben. Politiker wie der frühere Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck oder Ex-Bundespräsident Christian Wulff (CDU) können als Opfer von Pressekampagnen gelten, in denen ihre jeweiligen politischen Karrieren wegen weitgehend nichtiger Anlässe ruiniert wurden. Der penetranten Skandalisierung von belanglosen Zitaten, angeblich anstößigen Privatgeschäften oder parteipolitischen Ungeschicklichkeiten hatten selbst Politiker in hohen Ämtern nichts entgegenzusetzen.
Lauterbach dagegen wurde von Journalisten hochgejubelt und damit ins Scholz-Kabinett befördert. In allen Fällen, in denen die Medien die Politik vor sich hertrieben, gab es aber weder eine entsprechende Order von Verlegern und Chefredakteuren noch gar von staatlichen Institutionen oder eine Absprache zwischen den Redaktionen und Journalisten. Die Wirkungskraft entfaltet sich dank eines kollektiven politischen Bewusstseins – dem Mind-Setting – der überwältigenden Mehrheit der Journalisten. Das Phänomen ist erstaunlicherweise nicht einmal auf Deutschland begrenzt. In den Medien dominieren seit vielen Jahren Journalisten mit einem ähnlichen Werdegang und Weltbild. Sie kommen meist aus bürgerlichen Schichten, sind in der Regel geprägt von geistes- oder gesellschaftspolitischen Studiengängen und definieren sich politisch mehr oder minder links.
Insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Medien entdeckten die Redakteure angesichts der Gebühren-finanzierten Existenzgrundlage und einer äußerst erfolgreichen Gegenwehr vor direkter politischer Einflussnahme ihre fast grenzenlose Freiheit. Genutzt wird dieser Freiraum vor allem zu einer durch und durch ideologisch geprägten Programmgestaltung – ohne dass es dazu wirklich Anweisungen und Direktiven gibt, ohne dass in der Regel ein anderer Druck als der des Opportunitäts- und Gruppendrucks existiert.
Die vierte Gewalt ist enorm stark und kaum kontrolliert
Medien werden oft als die „vierte Gewalt“ in der Demokratie bezeichnet, eine kontrollierende Ergänzung der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber, Exekutive und Justiz. Zumindest in der Pandemie erwiesen sich die Medien weniger als kritische Kontrollinstanz gegenüber den Mächtigen im Land, sondern eher als freiwilliges Sprachrohr der Regierung. Früher meinten viele, die Medien als „vierte Gewalt“ zu beschreiben, sei zu viel der Ehre für diese Branche und eine Übertreibung. Heute muss man sich eher fragen, ob es nicht eine Untertreibung ist. Ihre Macht scheint zuweilen größer als die der drei anderen Gewalten – vor allem unterliegt sie so gut wie keiner Kontrolle.
Zur Verantwortung kann man Medien nicht ziehen, die meisten Journalisten würden ihre angeblich enorme Macht zudem lächelnd bestreiten. Demokratien haben zwar die Regierung, die sie verdienen, aber zu verdanken haben die Bürger das heute wohl ganz besonders dem schreibenden Fußvolk der Streitmacht Medien, die mit Parteilichkeit und „Haltung“ zwar auf allen politischen Ebenen erobert und vernichtet, aber so tut, als ob sie gar nicht auf dem politischen Schlachtfeld steht.