Tichys Einblick
Ukraine-Hilfe

Des Kanzlers vergessene „Zeitenwende“

Olaf Scholz hat nicht nur seine Gespräche mit dem Hamburger Banker vergessen, sondern auch seine Versprechungen für die Ukraine und die Nato. Von Annette Heinisch

Bundeskanzler Olaf Scholz in der Kabinettssitzung, 24.08.2022

IMAGO / photothek

Olaf Scholz ist bekanntlich ein Mann, der – wie soll ich es sagen – „gedächtnismäßig herausgefordert“ ist. Man muss Verständnis haben, er weiß vieles einfach nicht mehr. Wir wissen nun, seine Erinnerungslücken sind so groß, da verschwinden Millionen von Euro. Kein Wunder, dass auch Versprechungen seinem Gedächtnis entfallen, als wäre sein Kopf ein schwarzes Loch. Dennoch: Deutschland ist ein inklusives Land, hier kann man sogar mit diesem Problem Kanzler werden! 

Aber irgendein netter Mitbürger oder Mitarbeiter des Kanzlers sollte ihm helfen und die Lage erklären. Zum Beispiel so: 

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
„Lieber Herr Bundeskanzler, am 24.02. dieses Jahres hat Russland die Ukraine angegriffen. Das war böse, wie Ihre Amtsvorgängerin gesagt hätte. Drei Tage später haben Sie eine Regierungserklärung abgegeben, bei der sie von einer ‚Zeitenwende‘ sprachen. Sie schienen völlig überrascht von dem Überfall, ihnen waren die früheren Aggressionen Russlands offenbar völlig entgangen. Oder Sie hatten diese einfach vergessen, wer weiß. Jedenfalls meinten Sie, es sei nun eine neue Realität vorhanden, auf die man reagieren müsse. Sie sagten:

‚Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen.

Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns.

Erstens. Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen. Das haben wir auch in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren in großem Umfang getan. Aber mit dem Überfall auf die Ukraine sind wir in einer neuen Zeit. In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen.

Als Demokraten, als Europäer stehen wir an ihrer Seite, auf der richtigen Seite der Geschichte.

Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben: Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird. Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben.

Das waren Ihre martialischen Worte. Nur die Taten fehlten, also die Waffen. Zwar wurden ein paar schultergestützte Panzerfäuste und Ähnliches aus den Beständen der Bundeswehr geliefert, nur – wie will man mit so etwas sein Land verteidigen? Gegen Russland? 

Genau, das funktioniert nicht. 2.700 Flugabwehrraketen waren auch versprochen, es kamen aber nur rund 500 an. Sie mögen sagen, Schwund ist immer, aber das ist ja das Problem, das Ganze mit der Lieferung von Waffen entschwand offenbar Ihrem Gedächtnis. So richtig passierte nämlich nichts mehr. Die verzweifelten Ukrainer fragten bei den Rüstungsunternehmen an, die waren und sind bereit zu liefern, auch Panzer wie Marder und Leopard, aber die Exportgenehmigung erfolgt nicht. Sie sagen, schwere Waffen dürften nicht geliefert werden, das sei mit den Verbündeten so abgesprochen. Tatsächlich ist eine Unterscheidung von schweren und leichten Waffen ebenso schwierig wie willkürlich, wird auch von Verbündeten nicht gemacht. 

Ende April riss erst dem Bundestag und dann den Verbündeten der Geduldsfaden. Sie wurden mit Parlamentsbeschluss dazu verdonnert, auch von Ihnen als schwer bezeichnete Waffen zu liefern. Bei der Ukraine-Konferenz in Rammstein Ende April haben dann die Verbündeten sehr deutlich gemacht, dass Deutschlands Verhalten grenzwertig als unfreundlicher Akt angesehen wird. Es ähnelt mehr der Kollaboration mit dem Feind als der Unterstützung eines Freundes. Danach mussten zumindest eilig ein paar Gepard-Panzer geliefert werden, auch wenn denen angeblich zunächst die Munition fehlte. Außerdem gab es noch ein Iris-Flugabwehrsystem, drei Mehrfachraketenwerfer und die heiß ersehnte Panzerhaubitze. 

Und danach? Praktisch nichts. 

Immerhin ein Kompliment muss ich Ihnen machen, selten hat ein Politiker so viel versprochen und so wenig gehalten! Dabei haben Sie auch unglaublichen Einfallsreichtum an den Tag gelegt, so viele Ausreden wie Ihnen einfallen, das ist schon fast genial.

Nur langsam wird es wirklich peinlich. Schaut man sich die Regierungshilfe Deutschlands für die Ukraine gemessen am BIP an, so rangieren wir an 14. Stelle, noch hinter Zypern. Was militärische Hilfen angeht, so liefert das Vereinigte Königreich für 2,7 Milliarden Euro, wir nur für 0,7 Milliarden Euro. Gut, Sie können natürlich sagen, Großbritannien sei besser dran, ist ja nicht mehr in der EU, aber vermutlich wäre das eher nicht so Ihre Sichtweise. Oder Sie könnten sagen, Großbritannien möchte unbedingt Europa verteidigen. Aber das wäre wahrscheinlich nicht so ganz die Sichtweise der Briten. Wie man es auch dreht und wendet, so richtig in die Gänge sind Sie bisher nicht gekommen, oder?

Lage in der Ukraine
Russlands Armee-Chef Sergei Schoigu gesteht indirekt strategisches Versagen ein
Nun hat Präsident Biden der Ukraine zum Unabhängigkeitstag weitere 3 Milliarden Dollar an Unterstützung zugesagt, damit sie echte, schwere Waffen kaufen kann. ‚Damit kann die Ukraine Luftabwehrsysteme, Artilleriesysteme und Munition, unbemannte Luftabwehrsysteme und Radare erwerben, um sich langfristig verteidigen zu können‘, sagte Biden. Da konnten Sie natürlich nicht mit leeren Händen dastehen und haben flugs auch etwas versprochen. 500 Millionen Euro, wenn ich das richtig verstanden habe. Wissen Sie eigentlich, wie der Euro so im Verhältnis zum Dollar steht, das heißt, wie viel das Versprechen Wert ist? Aber egal, immerhin ist es ja etwas. Und dafür, so las ich, soll sich die Ukraine dann Pick-Ups kaufen. Mit aufmontierten Raketenwerfern, sagten Sie. Klar, das geht, Maschinengewehre kann man darauf auch montieren, kennt man von den Taliban oder schlecht ausgestatteten Terrororganisationen. 

Nur mal eine Frage: Meinen Sie wirklich, dass man damit sein Land effektiv gegen Russland verteidigen kann? Klar, es soll noch ein bisschen mehr kommen, auch Bergepanzer zum Beispiel. Das ist prima, dann könnten die Panzer, die Deutschland nicht schickt, wenigstens geborgen werden, wenn sie dort wären. Der größte Teil der Waffen soll ohnehin erst 2023 geliefert werden.

Bei allem Respekt, Herr Kanzler, aber das reicht nicht, damit kommen Sie nicht durch. Verbündete haben wir dann bald keine mehr. Alle wissen, dass die Ukraine versuchen muss, noch vor dem Winter die Russen zurückzudrängen. Vor dem Winter, also bevor der Boden zu matschig wird – und Sie und Ihre europäischen Amtskollegen auch innenpolitisch in allzu große Turbulenzen kommen. Ihre europäischen Kollegen müssen dann nämlich den Kopf dafür hinhalten, dass die Energie knapp wird, woran maßgeblich Deutschland schuld ist. Was meinen Sie, wie schnell Deutschland dann allein auf weiter Flur steht? Insbesondere, weil wir nicht willens sind, das Problem, das wir geschaffen haben, in den Griff zu bekommen.

Also braucht die Ukraine Panzer, sowohl die Schützenpanzer Marder als auch die Kampfpanzer Leopard. Sie braucht auch keine alten russischen Panzer, sondern moderne westliche, damit sie den Feind sehen kann, bevor er sie sieht. Auch ein gewisser Schutz der Soldaten durch die Panzerung wäre durchaus wünschenswert. Pick-Ups bieten das leider nicht und alte russische Panzer auch nicht. Nur mit modernem Gerät hat die Ukraine eine Chance, den Angreifer zurückzuschlagen, sonst wird das nichts mit der Verteidigung. Die Ukraine braucht das jetzt, sofort, besser gestern als heute. Fachleute haben schon längst festgestellt, dass EU und Nato viel zu zögerlich mit den Waffenlieferungen waren, man hätte die Erfolge der Russen verhindern können. Dann wären auch Friedensverhandlungen deutlich wahrscheinlicher. Aber Waffenlieferungen erst 2023 kommen bei weitem zu spät. Man weiß ja nicht einmal, ob Sie dann überhaupt noch Kanzler sind.“

So in etwa könnte die Unterhaltung laufen, wenn man davon ausginge, dass der Kanzler gedächtnismäßig herausgefordert ist. Geht man davon aus, dass er intellektuell durchaus auf der Höhe der Zeit ist, dann allerdings könnten äußerst kritische Fragen gestellt werden.

Professor Boris Kotchoubey, Professor am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, hat in seinem Beitrag „Wer gegen wen“ auf die Divergenz zwischen der Rhetorik und dem tatsächlichen Handeln vieler westlicher, allen voran der deutschen Regierung hingewiesen und ausgeführt: 

„Aber während die Position der USA noch als ambivalent und nur eingeschränkt antirussisch bezeichnet werden kann, ist die deutsche Politik entgegen aller Rhetorik ganz offensichtlich prorussisch. Seit bald einem Vierteljahrhundert stehen die deutschen Regierungen fest auf der Seite Russlands. Für Schröder war der russische Präsident ‚der lupenreine Demokrat‘, zugleich aber auch ein Garant seines (Schröders) persönlichen Wohlstands. Die ‚beste Frau Putins‘ (Boris Reitschuster) führte eine feinere Politik und verband harmlose, aber medienwirksame Sanktionen gegen Russland mit kolossalen wirtschaftlichen Verträgen, die die Schäden von den Sanktionen ums Hundertfache kompensierten. Alle Versuche anderer EU-Länder, schärfer gegen Putin vorzugehen, blockierte Merkel unnachgiebig. Die Kremlbeziehungen des gegenwärtigen Bundeskanzlers sind legendär und reichen von seinen jugendlichen Freundschaften mit hochrangigen SED-Funktionären bis zu dem Mann, der heute in Moskau lebt und bei Gelegenheit erzählen kann, wie man direkt vor den Augen eines Bundesfinanzministers 2,5 Milliarden (in Ziffern: 2 500 000 000) Euro Steuergelder in die eigene Hosentasche steckt…Vom deutschen Steuerzahler bekam Russland das Luxusgeschenk Nord Stream II… Ohne die kolossalen Wirtschaftsverträge, von denen vor allem ein kleines Grüppchen der deutschen Top-Manager und Top-Politiker zusammen mit den russischen Oligarchen profitiert hat, wäre die russische Armee nicht in der Lage, die ukrainischen Städte in dem Maße zu verwüsten, in dem dies jetzt passiert…Dieses Grüppchen baute im Laufe der letzten Jahrzehnte jene absolute Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den russischen Energieträgern auf, deretwegen wir jetzt vor einer Energiehungersnot stehen.“

Wollen die Profiteure ihr einträgliches Geschäft tatsächlich gar nicht aufgeben? Streuen sie der Öffentlichkeit nur Sand in die Augen? Dieser Verdacht steht im Raum. Die minimalistische Weise, in der Hilfe geleistet wird, ist nicht – wie Scholz denken mag – eine Art Mittelweg, durch den er es sich mit niemandem verdirbt. Im Gegenteil verstärkt er die Skepsis, mit der Deutschland von seinen westlichen Partnern betrachtet wird. Die Achse Russland–Deutschland hatte sich im letzten Jahrhundert als verheerend für den Kontinent erwiesen, dies hat sich wiederholt. Die Fortführung der besonderen Beziehungen zu Russland entgegen allen Ratschlägen und Warnungen der Partner hat längst die Alarmglocken im Ausland schrillen lassen. Deutschland, Geisterfahrer in so vieler Hinsicht, wird daher sehr genau beobachtet. 

Scholz scheint dies sehr deutlich bewusst zu sein und lässt sich mit dem Gepard ablichten. Von diesem wissen wir dank unserer Verteidigungsministerin immerhin, dass es kein Panzer ist, sondern ein Infrastrukturschützer. Aber Fotoshootings reichen nicht.

Die Prüfsteine der Bündnistreue haben drei Namen: Marder, Leopard und Nord Stream 2. Deutschland ist auf dem direkten Weg ins Abseits.

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