In der neuen Lage ist die Frage, ob die Türkei aufgrund ihrer innenpolitischen Verfassung und ihres außenpolitischen Handels Mitglied der NATO bleiben kann, kein Nebenkriegsschauplatz. Erdogan ist nicht nur ein Problem für die Türkei, sondern ein geopolitisches.
I.
Am 15. Juli 2016 wurde in der Türkei geputscht. Und ab dem 16. Juli 2016 wurde in der Türkei gesäubert. Das hat die Einführung eines „Präsidialsystems“ in der Türkei überhaupt erst ermöglicht. Vor dem Putsch vom 15. Juli 2016 waren jahrelang alle Versuche von Erdogan und seiner AKP gescheitert, ein Präsidialsystem auf legalem Wege in der Türkei einzuführen.
Und auch das Ergebnis des Referendums vom 16. April 2017 ist nur unter Verletzung bestehender Gesetze zustande gekommen. Nach geltender türkischer Rechtslage hätten 2,5 Millionen ungestempelter Stimmzettel nicht berücksichtigt werden dürfen. Die Wahlkommission hat die 2,5 Millionen ungestempelter Stimmzettel trotzdem durch eine spontane Entscheidung am Abstimmungstag zugelassen, alle Beschwerden der Opposition und anderer Personen zurückgewiesen und türkisches Recht gebeugt. Der Abstimmungssieg beträgt gerade einmal 1,3 Millionen Stimmen. Ohne die Säuberungen seit dem 16. Juli 2016, durch die unzählige Staatsbeamte, Staatsanwälte und Richter aus ihren Ämtern entfernt worden sind, ist das Verhalten der türkischen Wahlkommission nicht zu erklären. Die Türkei ist weitgehend gleichgeschaltet. Eine Gewaltenteilung besteht nur noch auf dem Papier.
Geopolitisch hat sich nicht nur ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union auf absehbare Zeit erledigt. Obwohl US-Präsident Donald Trump in einem Telefonat Recep Tayyip Erdogan zum Referendumssieg gratuliert haben soll, wird sich die Frage, ob die Türkei Mitglied der NATO bleiben kann, nicht weiter unter den Teppich kehren lassen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor wenigen Wochen wollte dieses Thema zwar noch niemand offen ansprechen. Angesichts der auch in Europa schwelenden Gefahr „Neuer Kriege“ und „Hybrider Kriegführung“ und die daraus entstandene strategische Sicherheitslücke in Europa, könnte jedoch die Ignorierung dieser Frage die NATO in eine sicherheitspolitische Existenzkrise führen. Denn Recep Tayyip Erdogan will durch die Einführung eines Präsidialsystems ein neues Sultanat als Kommandozentrale für ein neues Osmanisches Reich errichten, welches über die Grenzen der heutigen Türkei hinausreicht. Erdogan wird so zu einem geopolitischen Problem für Europa, die USA und die NATO.
II.
Sowohl aus der innenpolitischen Verfassung der Türkei als auch aus ihren außenpolitischen Zielen folgt ein sicherheitspolitisches Dilemma für Europa und die USA. Einerseits will man die „Landmasse“ Türkei nicht aufgeben, weil sie geostrategisch höchst bedeutsam ist. Andererseits könnte die Türkei unter dem Regime von Erdogan innerhalb der NATO notwendige Maßnahmen (bspw. gegen Russland) behindern oder sogar verhindern und so die ohnehin bereits bestehende strategische Sicherheitslücke in Europa vergrößern.
Konkret stellt sich damit die Frage, ab wann die türkische NATO-Mitgliedschaft den Zweck der gesamten NATO konterkariert und ab wann der Verlust der geostrategischen türkischen Landmasse schmerzlich in Kauf zu nehmen ist, um die NATO funktionstüchtig zu erhalten. Der Beantwortung dieser Frage kann nicht durch Spielen auf Zeit ausgewichen werden; denn niemand kann wissen, ob und wann in der Türkei mit einem Regimewechsel zu rechnen ist und sich so das geopolitische Problem Erdogan erledigen könnte. Es könnte sehr schnell gehen, aber auch Jahre dauern.
Das geopolitische Problem Erdogan stellt sich nicht nur bezüglich des Syrienkonflikts, in welchem türkische, russische, europäische, US-amerikanische und terroristische Interessen aufeinander prallen, sondern auch bezüglich des Verhältnisses von Europa und der NATO zu Russland, der Bedrohung durch Terrorismus, leicht entfachbarer neuer Balkankriege sowie der Flüchtlingskrise. Der Syrienkonflikt zeigt indes exemplarisch die höchst unterschiedliche Motivlage einzelner Akteure. Auf dem ersten oberflächlichen Blick ergibt sich ein einfaches Bild. Die Türkei, die USA, die Europäer, die IS-Terroristen und die syrische Opposition wollen den syrischen Machthaber Assad entmachten. Nur Russland will Assad an der Macht halten.
Auf dem zweiten Blick ergibt sich ein vielschichtiges konfliktreicheres Bild. Die Türkei will den syrischen Machthaber Assad stürzen, weil große Teile Syriens für Erdogan historisch zum Osmanischen Reich gehören und ein natürliches türkisches Einflussgebiet und potentielles Anschlußgebiet darstellen. Die Europäer und die USA wollen Assad entmachten, weil sie nur so die Chance für einen friedlichen Neubeginn unter demokratischen Vorzeichen für möglich halten und auch nur in einem demokratischen Syrien nachhaltig Einfluss ausüben können.
Russland hintertreibt sowohl die türkischen Ambitionen als auch die Ziele der Europäer und der USA, um eine eigenständige politische Rolle im Nahen Osten zu spielen. Die türkischen Ambitionen sind für die russische Interessenlage aber weniger gefährlich als die europäisch-amerikanischen. Russland hat sich deshalb mit der Türkei verständigt, um den europäisch-amerikanischen Einfluss zu begrenzen.
Der Autokrat Erdogan hat sich seinerseits mit dem Autokraten Putin verständigt, weil er einerseits mit dem europäisch-amerikanischen Ziel eines demokratischen Syriens nichts anfangen kann und dieses seinen eigenen innen- und außenpolitischen Ambitionen zuwider läuft. Andererseits eröffnet sich Erdogan durch die Hinwendung zu Putin zumindest zeitweise eine geopolitische Alternative zur EU und NATO.
Insgesamt haben sowohl Erdogan als auch Putin im Moment kein Interesse an einer Befriedung des Syrienkonflikts. Und die Nachrichten über mögliche Beziehungen von Erdogan zu terroristischen Gruppen wie dem IS und der Hamas sind zwar nicht neu, gewinnen vor diesem Hintergrund aber eine besondere Brisanz. Wird in Syrien überhaupt wirksam gegen den IS-Terrorismus gekämpft? Mehr als problematisch ist auf jeden Fall, dass autoritäre Regime wie das von Erdogan im Rahmen von „Neuen Kriegen“ und „Hybrider Kriegführung“ mit Terrororganisationen wie dem IS direkt und indirekt zusammenarbeiten könnten.
Dazu kommt, dass durch die militärische Intervention Russlands im Syrienkonflikt die Flüchtlingszahlen in Europa in die Höhe geschossen sind. Das aufgrund dieses ungeregelten Ansturms ausgehandelte Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei zeigt beispielhaft, dass die Flüchtlingskrise eine Grenzsicherungskrise ist, in der Flüchtlinge für andere politische Zwecke instrumentalisiert werden. Könnten Flüchtlingsströme sogar zu Mitteln der hybriden Kriegführung geworden sein, um betroffene Staaten oder Staatenverbände zu destabilisieren?
Russland hat durch die Annektierung der Krim und dem verdeckten Krieg im Osten der Ukraine bewiesen, dass es den Willen zu „Neuen Kriegen“ und „Hybrider Kriegführung“ besitzt und bereit ist, seine Interessen auf diesem Wege durchzusetzen. Da „Neue Kriege“ und „Hybride Kriegführung“ geeignet sind, Rückversicherungen und Beistandsverpflichtungen von Verbündeten zu unterlaufen, hat das konventionelle und nukleare militärische Potential Russlands zusammen mit seinem Willen zu neuen Kriegen und hybrider Kriegführung eine strategische Sicherheitslücke in Europa erzeugt. In dieser Lage ist die Frage, ob die Türkei aufgrund ihrer innenpolitischen Verfassung und ihres außenpolitischen Handels Mitglied der NATO bleiben kann, kein Nebenkriegsschauplatz. Erdogan ist nicht nur ein Problem für die Türkei, sondern ein geopolitisches.
(Dieser Text wurde ursprünglich als Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute am 21. April 2017 unter www.fvs-ri.com veröffentlicht.)