Der Verfasser dieser Zeilen hat die „Erklärung“, um die es hier geht, zwar auch dankbar und beherzt unterschrieben, das soll ihn aber nicht daran hindern, aus seiner privaten Perspektive einen kritischen Blick auf die gesamte Initiative zu bewahren.
Worum geht es? Vor einigen Jahren erschien eine „Erklärung zur westlichen Welt“, die von zahlreichen namhaften konservativen Denkern, Politikern und öffentlichen Figuren der Gegenwart unterzeichnet wurde. Schirmherren sind Václav Klaus, ehemaliger Präsident der Republik Tschechien, Javier Milei, Präsident der Republik Argentinien, und Jordan B. Peterson, Professor für Psychologie; einer deutschen Leserschaft sind unter den Unterzeichnern sicherlich auch Egon Flaig, Carlos Gebauer, Sandra Kostner, Markus Krall, Vera Lengsfeld, Gerd Morgenthaler, Dietrich Murswiek, Max Otte oder Dieter Schönecker bekannt, um nur einige zu nennen.
Die eigentlichen Initiatoren sind Philipp Bagus, Professor für Ökonomie (Madrid), und Michael Esfeld, Professor für Philosophie (Lausanne), die für das 1979 gegründete Schweizer „Liberale Institut“ stehen, dem ersten unabhängigen Think Tank der Schweiz, der nach eigener Auskunft die Schweizer Tradition und Kultur von individueller Freiheit, Frieden und Offenheit untersucht und sich für die Weiterentwicklung der liberalen Geistestradition einsetzt. Wir erlauben uns, im Folgenden den (kurzen) Text zu zitieren, der auch hier abgerufen werden kann, um ihn danach zu kommentieren:
„Wir sind besorgt über den Weg, den die westliche Zivilisation einschlägt. Derzeit sind mächtige ideologisch-politische Kräfte am Werk, die im Begriff sind, diese Zivilisation von innen zu zerstören. Demgegenüber sind wir davon überzeugt, dass viele ihrer Errungenschaften immer noch geeignet sind, als Wegweiser für eine gerechte, friedliche und blühende Zukunft für die gesamte Menschheit zu dienen:
Die Denker der griechischen und römischen Antike sowie die jüdisch-christliche Lehre von der Schöpfung des Menschen als Ebenbild Gottes und ihre Säkularisierung im Zeitalter der Aufklärung haben herausgestellt, dass alle Menschen mit Vernunft begabt sind, daher frei in ihrem Denken und Handeln sind und folglich verantwortlich für ihre Taten sind. Der universelle Vernunftgebrauch eint die Menschheit. Er führt dazu, jeden Menschen als individuelle und einzigartige Person mit Würde und dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung seines Lebens anzuerkennen. Im Gegensatz dazu spalten Identitäten, die auf Gruppenzugehörigkeiten beruhen (rassisch, geschlechtlich, religiös oder anderweitig), die Menschheit und führen zur Unterdrückung der individuellen Freiheit und Würde.
Durch die Anerkennung der individuellen Freiheitsrechte – der Rechte auf Leben, Selbstbestimmung und Eigentum – hat die westliche Zivilisation Errungenschaften hervorgebracht, die für die gesamte Menschheit von größter Bedeutung sind. Dazu gehören die Abschaffung der Sklaverei, die Verbannung von Rassismus und Tribalismus sowie die Entwicklung von Wissenschaft und Rechtsordnung mit gleichem Recht für alle Menschen. Die westliche Zivilisation hat sich entfalten können, weil diese individuellen Freiheiten die spontane Entstehung von Lebensformen und Gesellschaften ermöglicht haben, die auf freiwilligen Interaktionen statt auf dem Zwang einer zentralen Gewalt beruhen.
Die individuellen Freiheiten im Rahmen einer Rechtsordnung haben den Weg für die moderne Wissenschaft und das private Unternehmertum geebnet. Dank dieser Freiheiten sind Ersparnisse und harte Arbeit nicht unfruchtbar oder auf die Bedürfnisse politischer Autoritäten ausgerichtet geblieben, wie es in sozialen Zwangsverhältnissen typischerweise der Fall ist. Vielmehr haben sie über freie Märkte und den Einsatz von Kapital (Kapitalismus) zu einer beispiellosen Verbesserung der Lebensumstände für alle Bevölkerungsschichten geführt. Sie haben auch einen wirksamen Schutz gegen die verschiedenen Lebensrisiken für alle geschaffen, einschließlich einer enormen Verbesserung der hygienischen Standards und der Entwicklung hin zu einer sorgfältigen, nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen.
Die sozioökonomische Ordnung, die sich spontan aus den individuellen Freiheiten unter der Herrschaft des Rechts ergibt, ist grundlegend für den materiellen Fortschritt und den Schutz der Umwelt. Zentrale Planung und die Unterdrückung privater Eigentumsrechte hingegen führen zu einem armseligen Lebensstandard für alle außer einer kleinen Elite und zugleich zur Zerstörung der natürlichen Umwelt.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen sind wir davon überzeugt, dass den Weg des wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts im Rahmen der individuellen Freiheiten, des Privateigentums und der Rechtsordnung der westlichen Zivilisation weiterzuverfolgen die einzige Möglichkeit ist, um die Errungenschaften der Vergangenheit zu bewahren und gleichzeitig die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen und eine gerechte, friedfertige und wohlhabende Zukunft für die gesamte Menschheit zu schaffen.“
Was ist nun von diesem Text zu halten? Wir wollen uns nicht allzu sehr über die Frage verbreiten, inwieweit der Begriff der „westlichen Zivilisation“ nicht besser als „abendländisch“ übersetzt worden wäre, denn zweifellos wollte man hier eine größere Übereinstimmung mit den anderen Sprachversionen erzielen („Western civilization“; „civilisation occidentale“). Trotzdem passt natürlich die Wahl des allgemein in einem transatlantischen Sinn interpretierten „Westens“ gut zur liberalen wie allgemeinen politischen Grundeinstellung des Textes; und zumindest der Verfasser dieser Zeilen wäre der Letzte, der der Neuen Welt ihre Zugehörigkeit zum Abendland streitig machen würde, wenn er persönlich zumindest im Deutschen den schönen und unnachahmlichen Begriff des „Abendlands“ bevorzugt.
Problematischer wird es aber, wenn von jenem Dreischritt dann in scheinbarer Dialektik vor allem behalten wird, „dass alle Menschen mit Vernunft begabt sind, daher frei in ihrem Denken und Handeln sind und folglich verantwortlich für ihre Taten sind“. Einmal mehr würde man den Inhalt der Aussage als solche wohl kaum bestreiten, allerdings entsteht stark der Eindruck, als sei die Suche nach jüdischer und christlicher Transzendenz nur insoweit wirklich von Interesse gewesen, als sie (mehr oder weniger unfreiwillig) irgendwann einmal Säkularisierung und Humanismus erzeugt habe; etwas, das wohl von gläubigen Menschen intensiv bestritten werden würde, da die menschliche Freiheit doch als ebenso bedingt wie begrenzt durch die Gottheit gedacht wird und der Transzendentalist (im Gegensatz zum klassischen Humanisten) Mission und Schicksal des Menschen im Jenseits verankert und somit eben nicht den Menschen als „Maß aller Dinge“ betrachtet.
Und ist es nicht so, dass gerade die zunehmende Säkularisierung der westlichen Gesellschaft und das Schwinden des Glaubens nicht nur ein enormes seelisches Vakuum hervorgebracht, sondern durch den Sieg von Materialismus, Atheismus und Hedonismus erst jenen Wokismus und jene Wohlstandsverwahrlosung erzeugt haben, unter der eben jene „westliche Zivilisation“ heute so leidet? Selbst Richard Dawkins hat in den letzten Jahren erkannt, welchen Schaden die Selbstauflösung des Christentums angerichtet hat …
Auch der Verweis darauf, dass „der universelle Vernunftgebrauch die Menschheit eint“, während „Identitäten, die auf Gruppenzugehörigkeiten beruhen, die Menschheit spalten“, ist zwar auf der einen Seite sicher eine eingängige Formulierung der Realität, geht aber doch an der ebenso realen Tatsache vorbei, dass jede Zivilisation, jede Sprache, jede Nation, jede Religion ganz eigene Herangehensweisen an jene „Vernunft“ entwickelt hat, die zwar oft genug nur schwer miteinander in Übereinstimmung gebracht werden können, für sich genommen aber jeweils ihre Berechtigung haben.
Sicher, die abendländische „Anerkennung der individuellen Freiheitsrechte“ zählt zweifellos zu jenen „Errungenschaften, die für die gesamte Menschheit von größter Bedeutung sind“; trotzdem ist es nicht ungefährlich, viele der typisch „westlichen“ Interpretationen von Gesellschaft, Menschheit oder Natur ohne weiteres einseitig zu universalisieren und dann anderen Zivilisationen in naivem guten Willen als „gesamtmenschlich“ überstülpen zu wollen. Ein kleiner Blick auf die Situation des Nahen Ostens, wo der Westen seit Jahrzehnten vergeblich versucht, wenn nötig militärisch den „universellen Vernunftgebrauch der Menschheit“ durchzusetzen, oder auf China, dem es auf einer völlig anderen zivilisatorischen Basis gelungen ist, zum Antagonisten des Westens zu werden, sollte zeigen, dass guter Willen allein nicht ausreicht, Fukuyamas Ideal vom demokratisch-liberalen „Ende der Geschichte“ herbeizuführen.
Ein letzter Blick auf die Verbindung zwischen „individuellen Freiheiten“ auf der einen Seite und „moderner Wissenschaft und privatem Unternehmertum“ auf der anderen: Auch hier würde niemand verneinen, dass der Kapitalismus in der Tat „zu einer beispiellosen Verbesserung der Lebensumstände für alle Bevölkerungsschichten“ beigetragen hat, und „zentrale Planung und die Unterdrückung privater Eigentumsrechte“ zu einem „armseligen Lebensstandard für alle außer einer kleinen Elite und zugleich zur Zerstörung der natürlichen Umwelt“ führen.
Insgesamt gesprochen: Ja, zweifellos ist es die einzige Möglichkeit, eine „gerechte, friedfertige und wohlhabende Zukunft für die gesamte Menschheit zu schaffen“ – wobei ich selbst eigentlich zunächst lieber an das Abendland und erst dann an die Menschheit denken würde –, den Weg des Fortschritts und der Freiheit der „westlichen Zivilisation“ weiterzuverfolgen. Doch dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass – wie die Erklärung ja auch am Anfang zurecht betont – die Kräfte der Auflösung vor allem von innen kommen, und meines Erachtens nicht bloß in Form erklärter Feinde, sondern vielmehr von Fehlentwicklungen, die sich logisch und zwangsläufig aus den Grundannahmen des Liberalismus ergeben.
Denn der moderne Staat hat, um Böckenförde zu paraphrasieren, eben nicht die Möglichkeit, aus sich heraus jene zivilisatorischen Grundlagen zu garantieren, auf denen er errichtet ist. Mit der Erosion christlicher Transzendenz und abendländischer Tradition schwindet eben auch das ultimative Fundament der „westlichen“ Gesellschaft. Und auch der abendländische Universalismus, so bewundernswert er ist, kann auf dem Weg zur dringenden Rettung unserer Zivilisation im Sinne eines beherzten „The West First“ kaum als sehr hilfreich betrachtet werden, ebensowenig wie ein Liberalismus, der ohne eine klare Selbstbegrenzung eben jene Ungleichgewichte hervorrufen muss, unter denen wir heute so sehr leiden. Kurz gesagt: Wollen wir die Moderne retten, so geht dies nur unter erneutem und vernunftmäßigem Rekurs auf die Tradition.