Die Gefahr kommt von innen. Ein metaphysisches Schlucken musste bei diesen Worten durch die Halle gehen. Denn die Münchner Sicherheitskonferenz blickt maßgeblich auf äußere Bedrohungen. Doch J. D. Vance machte klar: Darum würde es ihm heute nicht gehen. Nicht um Russland, nicht um China. Sondern um das, was die abendländische Zivilisation zusammenhält – oder eben nicht.
Es war nicht das erste Mal, dass Vance, nunmehr Vizepräsident der Vereinigten Staaten, das Treffen besuchte. Erst vor einem Jahr hatte er mit klaren Ansagen irritiert. Etwa in Richtung der damaligen Grünen-Chefin Ricarda Lang. Ihr hielt er vor, dass Deutschland in den letzten Jahren den unverzeihlichen Fehler der Deindustrialisierung eingeschlagen habe – einen Fehler, den seine Heimat nunmehr bitter bereue. Und das in Zeiten, in denen es nicht sicherer, sondern unruhiger wird.
Vorab hatte das Wall Street Journal bereits ausgeplaudert, was das Publikum erfahren würde. Für deutsche Ohren gab es da nur eine Nachricht: Vance würde gegen die Brandmauer opponieren. Sich einmischen. Eine Übergriffigkeit. In seiner Rede kam er solchen Vorwürfen zuvor: Wenn die USA es ausgehalten hätten, dass Greta Thunberg sie jahrelang beschimpft habe, dann würden die Europäer es auch aushalten, wenn Elon Musk sich ein paar Monate lautstark zu Wort melde. Einen Ronald-Reagan-Auftritt kann man dem Vizepräsidenten jedoch nicht absprechen.
Denn Vance ist ein Politiker neuen Typs. Das bringt allein sein jugendliches Alter mit sich. Vance gehört der Millennial-Generation an. Die meisten Länder schaffen es derzeit nur mit Mühe, dass die Babyboomer den Staffelstab an die X-Generation weitergeben. Auch deswegen stimmt die Realitätswahrnehmung von Vance mit jener der grauen „Experten“ nicht überein. Nicht nur die Ideologie spielt eine Rolle. Nicht nur die Erfahrung. Sondern ein Generationenkonflikt.
Vance ist nicht in den fetten Jahren des Wirtschaftswachstums aufgewachsen, sondern im Zeitalter der beginnenden Krisen des 21. Jahrhunderts. Die starren Kategorien des Kalten Krieges, die vorherige Generationen verinnerlicht haben, kennt er aus Geschichtsbüchern. Seine Weltsicht geht aber darüber hinaus. Für die Generation der Babyboomer ist das 20. Jahrhundert maßgeblich; für Millennials das 21. Jahrhundert.
Vor Vance sprach Ursula von der Leyen. Die EU-Kommissionspräsidentin erhielt von Alters- und Gesinnungsgenossen Applaus – deutlich mehr als der US-Vizepräsident. Aber Vance wollte nicht gefallen. Stattdessen griff er zielgenau Thierry Breton an, den er lediglich als „ehemaligen EU-Kommissar“ bezeichnete. Seine Äußerungen zur Rumänien-Wahl und die Einmischung der EU bewertete er als „schockierend“.
„Wir spielen im selben Team, wir müssen demokratische Werte leben“, hob Vance hervor. Und es war eben nicht dieselbe, fade, abgenutzte Formulierung, wie sie EU-Funktionäre in den Mund nahmen. Denn Vance sah einen „Rückzug“ von gerade jenen Werten in Europa. Subtil sprach er von den „Gewinnern“ des Kalten Krieges – und was aus ihnen geworden sei. Die kommunistischen Staaten hätten Meinungsfreiheit unterdrückt und Kirchen geschlossen.
Vance führte danach mehrere Beispiele an: wie Brüssel Social-Media-Plattformen wegen „Hass“ schließen wollte; dass es Razzien gegen Menschen wegen angeblicher Misogynie gebe, und dass ein britischer Veteran kriminalisiert wurde, weil er einige Meter entfernt von einer Abtreibungsklinik betete.
Beobachter hatten eine AfD-Rede erwartet. Vance hielt jedoch eine ADF-Rede. Er sah im Kampf gegen die Meinungs- und Religionsfreiheit die maßgebliche Auflösung europäischer Werte – ähnlich wie die Organisation. Dieser Umstand legt den Kosmos des Mannes aus den Appalachen offen: Nicht Fernsehen oder Zeitung, sondern das Internet, Newsletter sowie Nachrichten alternativer Medien und NGOs prägen sein Weltbild.
Dazu gehört auch ein dezidiert katholisches Substrat – nicht der weichgespülte Kirchenkaderkatholizismus der Pfarrgemeinderäte, von Zentralkomitees und Synodalen Wegen, von Verwässerung der Lehre zugunsten des Zeitgeists; sondern eine augustinische und thomistische Weltsicht, wie sie erst kürzlich bei der Verteidigung der ordo amoris in der Öffentlichkeit zutage trat. Der Säkularismus und die Aufklärung allein werden uns nicht retten. Auch nicht ein vager Rechtspopulismus oder rein ökonomische Erwägungen. Damit steht Vance tiefer in abendländischen Fußstapfen als zahlreiche angebliche europäische Rechte.
Letztere sind von der Konferenz ausgeladen worden. Nicht zum ersten Mal. Und Vance spannt den Bogen, dass deren Ausschluss symptomatisch ist für eine politische Klasse, die Angst hat. Die eine andere Meinung nicht erträgt. Die glaubt, bestimmen zu können, wie Menschen fühlen oder denken. Sie hat keine Vorstellung von der freedom of surprise, die Innovation erst möglich macht. Eine Demokratie, die sich so unter Angriff sieht, ist wenig wert. Zu Rumänien sagt er deswegen: „Wenn man mit ein paar Werbeanzeigen eine Demokratie ins Wanken bringen kann, war sie wohl nie wirklich stark.“
Im Publikum sieht man bei solchen Aussagen wenig Reaktion. Nicht einmal höflichen Applaus. Der Einzige, der einen guten Tag hat, ist Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Vielleicht wird das Chamäleon der deutschen Politik irgendwann, wenn Merz zwischen rot-grün-schwarzer Koalition und Brandmauer zerrieben wurde, doch noch eine Schlüsselrolle im neuen transatlantischen Sinne einnehmen. Am Flughafen hatte er Vance samt Familie begrüßt – die Stimmung war gut.
„Ich bin tief davon überzeugt, dass es keine Sicherheit gibt, wenn sie die Stimmen ihrer eigenen Leute fürchten“, sagt Vance. Die Frage muss sein, warum es diese transatlantische Allianz gibt. Was die positive Vision ist, mit der der Westen zusammenhält. Was gilt es zu verteidigen? Sinnvoll ist das Bündnis nur, so erklärt Vance, wenn auch die europäischen Staaten ein demokratisches Mandat haben. Dass Stimmen nicht zum Schweigen gebracht werden. Die Krise, in der sich diese Länder befinden, ist hausgemacht. Die Stimme der Menschen zählt – es gibt keinen Anlass für eine Brandmauer, so der Vizepräsident. Der Bürger besitze „Weisheit“.
Was Vance damit meint: Auch die Regierungen besitzen kein totales Wissen. Sie können nicht alles planen und bestimmen. Weisheit heißt bekanntlich, zu wissen, was man nicht weiß. Das ist übrigens die Gabe, die gute Könige auszeichnet: zu wissen, wann Berater, Vasallen und Generäle es besser wissen, um dann zu delegieren. In der Demokratie geht es nicht nur darum, die Stimmungen im Volk zu erfassen, sondern diese ernst zu nehmen – auch wenn sie auf den ersten Blick irrational erscheinen mögen. Es gibt Ereignisse, Dilemmata und Probleme, die Politiker gar nicht ahnen können. Sie müssen adressiert werden.
Vance wird deswegen konkret und bezieht sich auf den Anschlag am Vortag in der bayerischen Landeshauptstadt. Das Thema, das die Menschen am meisten bewegt, aber am wenigsten aufgenommen wird, ist die Massenmigration. Attentate wie das gestrige habe es immer wieder gegeben. „Ein 20-jähriger Afghane, bereits polizeibekannt, führt seine Tat aus. Wie oft muss es geschehen, damit unsere Zivilisation den richtigen Weg einschlägt?“
Diese Tatenlosigkeit führt zu den Bewegungen, die die Eliten so fürchten. Aber als Reaktion darauf Bürger zu isolieren, Medien zu schließen oder sogar Wahlen zu annullieren, das zerstört die Demokratie. Er ruft den europäischen Anführern zu: Ihr habt eine Wahl. Und er zitiert Johannes Paul II.: „Fürchtet euch nicht!“ Fürchtet euch nicht vor euren eigenen Bürgern. Fürchtet euch nicht vor der Zukunft, nur weil ihr nicht mit ihnen übereinstimmt.
Der Applaus ist danach verhalten. Journalisten müssen jetzt einordnen. Weil sie davon ausgehen, dass die Bürger an die Hand genommen werden müssen. Vielleicht war Vance für den Zuschauer auf Phoenix zu verstörend. Vance, so liest man bereits in sozialen Medien und hört von „Experten“: Er baut sich seine eigene Realität. Unausgesprochen: Er lebt in Fake News.
Es stimmt. J. D. Vance kommt aus einer anderen Dimension. Es ist die richtige.