Wer Ende März die Frankfurter Allgemeine Zeitung las, der konnte eine ganzseitige Anzeige entdecken, in welcher sich italienische Bürgermeister an ihre „lieben deutschen Freunde“ wandten und um Unterstützung bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen des Corona-Ausbruchs warben.
Hintergrund dieses ungewöhnlichen Ersuchens an die deutsche Öffentlichkeit ist der nach wie vor schwelende Konflikt um die sogenannten „Coronabonds“, also gemeinsame EU-Anleihen, welche zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus begeben werden könnten. Diese Anleihen erscheinen als neues Herzensprojekt der linken Regierungen in Rom und Madrid – und sind doch nur alter Wein in neuen Schläuchen.
Weitaus weniger charmant und werbend meldete sich der italienische Politiker Elio Lanutti über Facebook zu Wort. Lanutti, immerhin Senator für die linkspopulistische, pseudosatirische Regierungspartei Fünf Sterne (das vom Komiker Beppo Grillo gegründete „Movimento-5-Stelle“) forderte auf seinem Profil, dass „Schluss mit dem Diktat dieser Enkel Hitlers“ sein müsse. Nun mache ich mich nicht anheischig, Signore Lanutti darüber aufzuklären, dass Italien den Großteil des Zweiten Weltkriegs an der Seite Deutschlands kämpfte und erst die Seiten wechselte, als sich das Kriegsglück gewendet hatte. Ich will durch bloße Fakten das bequeme Narrativ nicht gefährden.
Ganz gewiß: Unsere italienischen Freunde leiden schrecklich in dieser für uns alle so schweren Zeit. Aber dieses schreckliche Leiden zu instrumentalisieren, um mit der eingangs erwähnten FAZ-Anzeige uns Deutsche zu gemahnen, nicht dem „kleinlichen nationalen Egoismus“ zu folgen, sondern den „Werten von Freiheit und Solidarität“, empfinde ich als deplatziert. Unter einer dicken Schicht Pathos scheint somit das eigentliche Ansinnen hinter dieser Anzeige durch: Deutschland möge doch gefälligst seinen Widerstand gegen die in „Coronabonds“ umgetauften Eurobonds aufgeben und somit den Weg zu einer weitreichenden Vergemeinschaftung von Staatsschulden in der Eurozone frei machen.
Dabei trug Italiens Politik selbst zu Beginn der Krise herzlich wenig dazu bei, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Während Ende Januar aus China das ganze Ausmaß der Pandemie bekannt wurde und in Italien bereits zwei infizierte chinesische Touristen behandelt wurden, ließ Ministerpräsident Conte mitteilen, dass man die Lage selbstverständlich unter Kontrolle habe. Auch im weiteren Verlauf der Pandemie reagierte die italienische Regierung mal lasch und zögerlich, als von einer Sperrung der Skiorte in den Alpen lange abgesehen wurde, dann wieder mit rigoroser Härte, als sie die Reisefreiheit im Land de facto abschaffte und den Bürgern das Spazierengehen untersagte, jedenfalls aber unkoordiniert und inkonsequent. Auf die Maßnahmen angesprochen, reagierte Conte mit den flapsigen Worten, Italien solle doch „kein Lazarett“ werden.
In Italien, Spanien und weiteren Ländern des chronisch überschuldeten „Club med“ beginnt sich das Narrativ von den kaltherzigen Nordeuropäern festzusetzen. Auch deutsche Medien verbreiten es bedauerlicherweise zum Teil unkommentiert weiter. Aber stimmt es denn, lassen wir Italien, Spanien und Co wirklich im Stich? Verweigern wir ihnen aus Hartherzigkeit die so dringend benötigten Milliarden zur Rettung der Wirtschaft nach der Krise?
Dabei ist Italien kein armes Land.
Die Schweizer Großbank Crédit Suisse erstellt jährlich eine Liste der Länder nach Vermögen pro Kopf. Für die Berechnung der Vermögen, die sich unter anderem auf Statistiken der Zentralbanken stützen, werden finanzielle sowie materielle Aktiva wie Immobilien, Börsenanteile und Bankguthaben abzüglich von Schulden herangezogen. Das Vermögen pro Kopf gibt Auskunft, über welche Breite an materiellem Wohlstand die Bürger eines Landes verfügen. Für das Jahr 2019 wurde für Italien ein durchschnittliches Vermögen von gut 234.000 US-Dollar errechnet. Wie es stets der Fall bei Durchschnittswerten ist, können einzelne extreme Werte (in diesem Falle etwa die völlige Besitzlosigkeit einerseits, oder ein milliardenschweres Privatvermögen andererseits) zu erheblichen Verzerrungen führen. Jedoch gibt es in der Liste noch einen zweiten Mittelwert, den sogenannten Median. Der Median liegt sprichwörtlich „in der Mitte“ und teilt eine Grundgesamtheit in zwei exakt gleich große Gruppen. Er ist dadurch gegen Ausreißer (also die oben exemplarisch aufgeführten Fälle) robust. Für Italien liegt der Median des Vermögens pro Einwohner bei knapp 92.000 US-Dollar: 50% der italienischen Bevölkerung verfügen also jeweils über ein Vermögen größer als 92.000 US-Dollar, 50% der italienischen Bevölkerung besitzen also jeweils weniger als 92.000 US-Dollar. Zum Vergleich: in Deutschland liegt das durchschnittliche Vermögen im gleichen Zeitraum bei 217.000 US-Dollar, der Median bei 35.000 US-Dollar.
Paradoxerweise stehen sich in Italien eine hoch verschuldete öffentliche Hand und eine ausgesprochen vermögende Bevölkerung gegenüber. Bei einer pro Kopf-Verschuldung von 39.000 Euro gegenüber einem durchschnittlichen Privatvermögen von 234.000 US-Dollar müsste eigentlich genügend Geld im Lande sein, um die italienischen Staatsfinanzen zu sanieren.
Der italienische Staat könnte das Problem also über Vermögensabgaben oder konsequente Steuererhebung lösen. Dummerweise fehlt es dazu aber am politischen Willen. Statt seine Steuerforderungen konsequent einzutreiben, gewährt der italienische Staat lieber massenhafte Steueramnestien. So fliegen einem die Wählerherzen zu, in einem Land, in dem Steuerhinterziehung beliebter Volkssport ist.
Natürlich sind Steuererhöhungen und sonstige Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung unpopulär und wärmen nicht die Herzen der Wahlbürger. Die konstante Neuverschuldung nutzten ausnahmslos alle italienischen Regierungen der letzten Jahrzehnte daher lieber zur Deckung laufender Kosten oder verschleuderten das Geld gleich für Wahlgeschenke.
Dabei hat kein anderes europäisches Land, mit Ausnahme Griechenlands, derart viel Hilfe bekommen wie Bella Italia. Die Unterstützung kam hauptsächlich von der Europäischen Zentralbank (EZB).
Auch in der Corona-Pandemie preschte die EZB vor und legte nach mitternächtlichen Krisensitzungen ein 750 Milliarden Euro schweres Pandemie-Notfall-Anleihenkaufprogramm auf, welches höchstwahrscheinlich zum Erwerb von Staatsanleihen von Staaten wie Italien oder Spanien verwendet werden wird, um deren Refinanzierungskosten unter Kontrolle zu halten.
Das Pandemie-Programm ist ein Instrument für die Krise und erinnert daher nicht zufällig an das Securities Market Programme (SMP) aus der Ära Trichet oder die diversen Anleihen-Kaufprogramme von Mario Draghi. Diese Programme dienten zum Aufkauf von Staatsanleihen von Ländern wie Italien, Spanien oder Griechenland und hielten deren Refinanzierungskosten an den Finanzmärkten entsprechend im Rahmen.
Doch während sich Spanien und Irland damals vornehmlich bei der Rettung ihrer jeweils kranken Bankensektoren übernommen hatten und so Richtung Zahlungsunfähigkeit zu schlittern drohten, lagen die Ursachen für Italiens finanzielle Notlage schlicht in der absoluten Unfähigkeit italienischer Regierungen, mit dem vorhandenen Steuergeld auszukommen und der daraus resultierenden jahrzehntelangen Schuldenorgie.
Diese künstlich niedrigen Zinsen für einige ausgewählte Euroländer bezahlen die deutschen Anleger bis heute mit Negativzinsen auf ihr Erspartes. Grazie Germania!
Es ist auch nicht so, dass Italien keine Hilfe angeboten worden wäre. Der ESM stellt in diesen Zeiten der Krise einen Geldtopf in Höhe von 35 Milliarden Euro zur Soforthilfe für das italienische Gesundheitssystem bereit, dessen Kredite zu sehr moderaten Zinssätzen zwischen 0,2% und 0,7% vergeben werden. Wahrlich kein schlechtes Angebot, mit dem Italien die unvorhergesehenen medizinischen Kosten etwa für Schutzmasken, Beatmungsgeräte oder neue Pflegekräfte zügig überbrücken könnte.
Dieses Angebot lehnte die italienische Regierung in der vergangenen Woche jedoch brüsk ab und bekräftigte, sich weiterhin für europäische Corona-Anleihen einsetzen zu wollen. So entlarven sich die opportunistischen Wirtschaftspolitiker in Rom, denen es offensichtlich nicht um unkomplizierten und zeitlich begrenzten Beistand in Zeiten der Krise gehen kann, sondern einzig um die langfristige Abwälzung der italienischen Staatsschulden auf die europäischen Partner.
Angesichts der Tatsache, wie offensichtlich sich die italienische Regierung das Virus zu Nutze macht, um die eigene Agenda voranzubringen, muss die Reaktion zahlreicher deutscher Politiker stutzig machen.
Es ist ja eine seit Jahrzehnten konstante Binsenweisheit, dass man beim linken Spektrum der deutschen Parteienlandschaft besondere Kenntnis oder aber wenigstens ein rudimentäres Verständnis für komplexe wirtschafts- und finanzpolitische Zusammenhänge noch nie feststellen konnte. Schon Konrad Adenauer wusste genau, dass Sozialisten nur eines vom Geld verstehen, nämlich dass sie es von anderen haben wollen.
Im übrigen sollte ein kurzer Blick nach Karlsruhe genügen, um die Hoffnungen aller Eurobonds-Fanatiker dauerhaft zu begraben. Denn bereits 2011 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass die Aufnahme neuer Verbindlichkeiten allein der Entscheidungshoheit des Deutschen Bundestages unterliegen könne. Jedwede Vergemeinschaftung von Schulden, durch welche das Budgetrecht des Deutschen Bundestages ausgehebelt werde, schlossen die Richter in Karlsruhe auch für die Zukunft aus. Eurobonds adé, sollte man meinen?
Nicht ganz. Trotz der klaren Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts fordern Grüne, die Linkspartei als Fortsetzungspartei der kommunistischen SED und auch Teile der SPD unablässig Coronabonds oder – wenigstens offen – gleich Eurobonds. Die politische Linke in Deutschland erscheint geradezu süchtig nach mehr Schulden und erkennt nicht, dass sie so einem fiskalischen Selbstmord der Eurozone den Weg bereitet.
Da hilft es auch nichts, den Begriff der Solidarität wie eine Monstranz vor sich her zu tragen und auf europäische Werte zu verweisen. Denn wenn wir schon bei „europäischen Werten” sind, möchte ich es mir doch erlauben, auf eine zentrale Stelle im Regelwerk der EU hinzuweisen: Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Darin heißt es, dass weder die Union noch die Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten einzelner Staaten oder ihrer (Unter-)Gliederungen haften dürfen. Das heißt: Corona- oder Eurobonds sind mit bestehendem EU-Recht nicht vereinbar. Ökonomisch sind sie verfehlt, weil Haftung für eigenes Handeln unterlaufen und Trittbrettfahrerverhalten (Moral Hazard) befördert wird.
Solidarität heißt eben nicht, dass man einen Partner im Bedarfsfall ausnehmen darf wie eine Weihnachtsgans, sondern bereit sein muss anzuerkennen, was einem bereits an solidarischer Unterstützung zuteil geworden ist. Solidarität setzt voraus, dass man sich an die gemeinsam vereinbarten Spielregeln hält! Italien hat das in all den Jahren als Mitglied des Euroraumes bei seiner Haushaltswirtschaft jedenfalls nicht einmal versucht!
Letztlich wird uns nach Corona wohl nichts anderes übrigbleiben als die Scherben aufzufegen, uns zu sammeln. Italien wird auf Dauer nicht ohne rigorose Sparmaßnahmen und eine umfassende Reform ihres Wirtschaftssystems wieder auf die Beine kommen. Klar wird es das zunächst nicht einsehen wollen. Vermutlich werden auch die unsäglichen Vorwürfe und Beschimpfungen aus Rom zunächst nicht leiser werden. Jedoch folgt auch beim störrischsten Patienten auf die Phase des Leugnens der Symptome irgendwann die Akzeptanz der Erkrankung. Italiens Schuldenrausch hat lange genug gedauert. Hier hilft nur noch der kalte Entzug!