Tichys Einblick
Auf nach Italien

Raus aus dem Land, wo die Eiferer glühn

Eine Reise in den Süden bildet Pauschalurteile und Studienmaterial. Wie geht eine Sprezzatura-Nation mit dem Virus um? Was machen Kommunisten- und Faschistenwimpel in ein und derselben Vitrine? Bericht von einer dringend nötigen Kur kurz vor der Wahl.

Wenn man den unangehmen Geschmack auf der Zunge nicht loswerden kann, wenn man unwillkürlich vor jedem Bundestagswahlplakat stehenbleibt und jedem FFF-Umzug nachsieht, wenn man sich im September der Schwermut nicht mehr erwehren kann, dann ist es allerhöchste Zeit, den Koffer zu packen und für ein paar Tage in ein anderes Land zu gehen. So ungefähr heißt es am Anfang von Herman Melvilles „Moby Dick“, leicht angepasst an die Lage des Autors. Der kennt nämlich das Gefühl gut, eigentlich dringend den Ort wechseln und die Arbeit für ein paar Tage liegenlassen zu müssen. Allerdings kommt er seit Monaten nicht dazu, und zwar wegen der Arbeit, die im Verwalten von Schreibschulden besteht. Auch bei einem Wochenpensum von 40.000 Zeichen nehmen die Verbindlichkeiten nicht ab. Aber irgendwann findet die vorübergehende Ausreise dann doch statt. 

Das Land, in dem die Zeloten glühn, in dessen Hauptstadt Versammlungen je nach Art der Versammelten mal wegen Covidgefahr verboten und mal wegen Ungefährlichkeit erlaubt sind und in dem ein grüner Minister ein anonymes Meldeportal für inoffizielle Finanzamtsmitarbeiter Bürger mit offenen Rechnungen einrichtet, dieses Land kennt der Textverfasser ziemlich intim, ja eigentlich fast schon zur Genüge. „Es würde den Rahmen sprengen, würde ich alles erwähnen“ (Heino Jaeger, zitiert nach E. Henscheid).

Obwohl nördlich, also in Dänemark gerade die meisten Corona-Restriktionen fallen, geht die Reise nach einigen Überlegungen dann doch ab in den Süden, wo es formal noch eine ganze Liste von Regelungen gibt. Die scharmante Begleitung sorgt dafür, dass unser Impfnachweis als Barcode auf unsere Mobiltelefone kommt, woran ich selbst nie gedacht hätte. „Das kostet sie nichts, das bezahlt der Staat“, zitiert die freundliche Apothekerin, die uns den Barcode macht, Francois Hollande. 

Die erste Überraschung erlebt das Reisepaar am Flughafen. Dort will nämlich niemand vorm Einsteigen in die Maschine unseren Barcode sehen. Auch den Papierimpfausweis nicht. Den Pass genauso wenig, die angeblich so wichtige Anmeldung unseres Aufenthalts in Italien auch nicht. Überhaupt erweist sich unsere Impfbescheinigung als sehr wenig nachgefragtes Dokument. Der Concierge des Hotels in Rom erwähnt es gar nicht. Die Kellner in den Restaurants sehen sich nicht als Kontrollorgan. Auch nicht für die Tische im Innenraum. Zweimal saßen wir dort, einmal wegen eines kurzen römischen Spätsommerregens, einmal, weil es draußen keinen freien Tisch mehr gab. Jedes Mal unabgefragt. Nun muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass es sich um ein etwas anarchisches Restaurant in der Nähe der Giardini Nicola Calipari  handelt, das im Inneren eher wie ein Wohnzimmer wirkt, mit vorsichtig gesagt sehr eigenwilliger Wanddekoration und nach Privatumgebung aussehenden Ramschecken, dazu einem Padrone in Freizeitkleidung, der uns – die ersten Gäste nach der der Öffnung am frühen Abend –  so anschaut, als hätten wir ihm gerade seinen Plan für eine gemütliche Abendgestaltung ohne Kundschaft ruiniert. 

In der Küche werkt allerdings jemand, der oder die sein Handwerk versteht und mit besten Zutaten arbeitet (daher die Empfehlung, durch die wir überhaupt in diesen Laden gekommen waren). Da wie gesagt so etwas wie angeschlampte Wohnzimmeratmosphäre herrschte, trägt der Padrone auch nicht durchweg Maske. Der Oberkellner in unserem Hotel platziert seine Maske grundsätzlich und durchweg unter dem Kinn, egal ob drinnen oder draußen. Andere Kellner tragen eine. Jeder scheint ganz einfach für sich zu entscheiden. 

Dort, wo es in Rom unvermeidlich eng zugeht, steht zwar ein Polizist, aber eher als Abschreckung für Taschendiebe. Anders als seine ultramontanen Kollegen, die in München vor einiger Zeit noch auf dem Monopteros mit Zollstöcken anrückten, um zu kontrollieren, ob die Leute dort unter freiem Himmel tatsächlich die 150 Zentimeter Abstand einhielten, gilt hier offenbar die Devise, dass sich jeder selbst aussucht, wie nah er den anderen kommen will. 

Nur Museen verlangen den Impfnachweis. Die Kapitolinischen kontrollieren besonders gründlich.

Grundsätzlich herrscht eine deutliche Trennung zwischen staatlichem und privatem Bereich, in dem die Leute selbst bestimmen, wobei sie sich meist mit einer Leichtigkeit durchnavigieren, die ein bisschen klischeehaft wirkt. Aber Klischees und gerade Länderklischees treffen eben auch meist zu. 

Zwischen staatlich und privat gibt es Übergangszonen, etwa in der Bahn. Nicht alle tragen dort die Mascherina über Mund und Nase, viele wie der Oberkellner auch unter dem Kinn. Völlig zu fehlen scheinen andere Bahnreisende, die Unterkinnträger zurechtweisen. Die Praxis, einander privat halbwegs in Ruhe zu lassen, hält dieses Land wahrscheinlich überhaupt zusammen, seit Vittorio Emanuele und Cavour und davor womöglich auch schon. 

Maskenträger und Nichtträger koexistieren manchmal auf kleinstem Raum.

Es fehlen nicht nur Zurechtweiser, sondern auch die öffentliche Sichtagitation, die beispielsweise in Berlin im Volkspolizistentonfall über den korrekten Maskensitz belehrt. 

In Rom bleiben die Hinweise diskret. Offenbar genügt das auch. 

Ein anderer deutscher Italienreisender schrieb mir – in Venedig unterwegs – , von ihm und seiner Frau hätten Kellner dort für Innenräume den Impfnachweis verlangt. Vielleicht gibt es bei den für Italien typischen regionalen Differenzen auch Unterschiede in der Durchsetzungsstrenge von papierenen Regelungen. Vielleicht handelt es sich einfach um ein individuelles Phänomen (wobei mich interessieren würde, wie die Vorschriften in Sizilien interpretiert werden). Möglicherweise gibt es auch in Rom und anderswo die strengen Zurechtweiser, auch Italiener, die allein mit Maske im Auto sitzen, wie ich sie allein auf der Prinzregentenstraße im Dutzend gesehen hatte. Ich habe sie nur nicht gesehen während meiner zugegebenermaßen kurzen Ausreise in den Süden. Natürlich ist das Gras auf der anderen Seite immer grüner, sofern der Reisende nicht zu lange bleibt. Deshalb fährt er ja weg. 

Mit Hilfe der scharmanten Begleitung jedenfalls stellt sich zwischen Restaurants, Museen und Meer (Santa Marinella, Anzio) relativ schnell ein halkyonischer Zwischenzustand ein. 

In Deutschland hatte ich erlebt (keins der folgenden Bespiele stellt Satire, Parodie oder etwas ähnliches dar), wie im eigentlichen Restaurantwagen der Bahn nicht bedient wurde mit der Begründung, Gläser und Teller erhöhten die Infektionsgefahr, die Reisenden sollten sich die in Pappschachteln abgepackten Speisen und Plastikflaschen deshalb selbst am Tresen abholen, während Servicepersonal gleichzeitig durch den  Restaurantwaggon Tabletts mit Gläsern und Tellern in mirakulöserweise von Viren ungefährdete 1. Klasse trug. Jemand klärte mich dann über die regulatorischen Grundlagen auf. Die 1. Klasse in der Bahn gelte nämlich – anders als der Restaurantwagen – formal als gastronomischer Außenbereich, da dürfe serviert werden. Ich hatte gleichzeitig erlebt, wie eine Bordgastronomiemitarbeiterin die Reisenden im Restaurantwagen ermahnte, nach jedem – jedem! – Schluck aus der Wasserflasche oder dem Kaffeebecher die Maske wieder über den Mund zu ziehen. Auch, wenn die Schlucke sehr dicht aufeinanderfolgten. Reisende konnten also entweder auf Ex trinken oder laufend den Vorhang herunter- und hochziehen, um Covid den Weg zu verrammeln. Es gebe aber, so die Mitarbeiterin, noch eine dritte (sozusagen achtelitalienische) Möglichkeit: Solange der Reisende m/w/d das Trinkgefäß  ungefähr in Mundhöhe halte, könnte sie als aufsichtsführendes Personal auf den Anschiss verzichten. 

Die Methode ist nicht bahnexklusiv.

Auf den Schiffen, die auf dem Starnberger See kreuzen, herrscht überall Maskenpflicht. Auch auf dem Vorderdeck, wo die Reisenden bei steifer Brise in Freien sitzen, wo nach Ansicht des Aerosol-Experten Gerhard Scheuch die Infektionsgefahr exakt bei Null liegt. Allerdings, wer seine Wasserflasche irgendwie erhoben in der Hand hielt, konnte die Maske herunterziehen und blieb unermahnt. Die Flasche konnte ruhig leer sein. Das wurde nicht kontrolliert. 

Ich hatte verfolgt, wie Polizisten in Berlin in einer Weise auf Demonstranten gegen die Coronamaßnahmen, Spinner oder auch nicht, in einer Weise einprügelten, dass sich sogar der Anti-Folterbeauftragte der UN einschaltete, während der Innensenator der Stadt, ein früheres SED-Mitglied, das immer noch so spricht und sogar so aussieht wie der 1. Sekretär einer SED-Kreisleitung, seine Beamten für die gute und maßvolle Arbeit lobte. 

Ich hatte im Netz etliche Kommentare von Leuten gelesen, die fanden, die Beamten wären noch viel zu milde gewesen. An dieser Stelle will ich eine Stimme aus dem Netz beispielhaft zitieren: 

„Ich weiß, das Wort Lager hat in diesem Zusammenhang eine negative Konnotation, aber so etwas in der Art brauchen wir, damit diese Impfverweigerer uns und sich nicht weiter gefährden.“

Wobei die Frage aufscheint, warum das Wort ‚Lager‘ für den Meinungsschreiber angeblich negativ besetzt sein soll. Konsequenterweise müsste es bei ihm heißen: Lager? Kommt darauf an, was man daraus macht.

Das alles trübte wie gesagt das Bild der allesinallem Heimat kurz vor meiner Abreise noch einmal erheblich ein. 

Unten im Süden verpasste ich aber auch viel. Den Blick auf Wahlkampfplakate zum Beispiel, von denen es heißt, das hier sei eins der Besten: 

Was im Vergleich zu den anderen sogar stimmt. Der Mann auf dem Plakat wirbt übrigens dafür, in dem Land mit der höchsten Steuerlast Europas die Steuern noch ein bisschen zu erhöhen, und zwar ab 100.000 Euro Einkommen per annum („starke Schultern müssen mehr tragen“). 

Es sind übrigens genau die magischen 100.000 pro Jahr, für die Italien Übersiedlern aus dem Norden mittlerweile eine günstige Pauschalbesteuerung anbietet, als hätten sie’s schon gewusst.

Deutschland und Italien ergänzen einander, wie man weiß, wundervoll und geradezu komplementär. Der eine oder andere wird seinen Eurosack in Zukunft auf seiner starken Schulter in einen kleinen Ort irgendwo in Umbrien schleppen. Das Phänomen betrifft dann besonders Deutsche, die weniger als 100.000 pro Jahr verdienen, jedenfalls, wenn sie in Deutschland bleiben. 

Italiener, um noch eine Pauschalbehauptung unterzubringen, passen also eher die Regeln dem Leben an als umgekehrt. 

Überhaupt verhält sich einiges anders als nördlich der Alpen. Dass aus irgendeinem Grund in den früheren Papstgemächern der Engelsburg kommunistische und faschistische Wimpel der 20er Jahre historisch korrekt zusammen in einer Ausstellungsvitrine liegen („Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten“, der Italienreisende Goethe a. a. Ort), das wäre in Deutschland ein Skandal, der umgehend niedergetwittert würde. 

Irgendwann geht der schönste Kurzurlaub zu Ende. Einmal in Anzio auf der Strandliege gedreht, und am nächsten Tag steigt man mit Begleitung wieder in die Maschine. Dieses Mal muss (soll) der Handyimpfnachweis vorgezeigt werden. Eine Flughafenangestellte schaut den Barcode an, der auch jeder beliebige andere Barcode sein könnte, und winkt uns durch. 

Später schlägt der Scanner nicht an, obwohl ich ein Schmuckstück aus Edelstahl trage (ein Geschenk vom Tag vorher, vergessen abzunehmen). Wer in diesen Monaten COVID- und andere Sicherheitsschleusen passiert und dabei nicht in den üblichen transitorischen Trance fällt, dem geht auf, dass die Sicherheitsmaßnahmen der Industrieländer zu schätzungsweise 80 Prozent auf magischem Denken beruhen, der Rest auf purem Zufall.

Die allesinallem Heimat umfasst uns dann wieder fest, als es beim Landeanflug heißt, nachher beim Aussteigen auf der Treppe – Außenposition – müssten die Sicherheitsabstände unbedingt eingehalten werden, also: Zweihundert Leute, die gerade eineinhalb Stunden Unterarm an Unterarm in einer Metallröhre gesessen hatten, sollten während der 20 Sekunden auf der Gangway im Freien unbedingt daran denken, genügend Virenabstand zu lassen, bevor es im Flughafenbus wieder eng wird. 

Der dialektische Witz des Ländervergleichs liegt darin, dass sich der Eiferunterschied in der Bekämpfung der „Pest“ (M. Söder) in den sog. Zahlen überhaupt nicht niederschlägt. Am 14. September 2021 zählte das laxe Sprezzatura-Italien 4.009 „aktive Coronafälle“ bei 60,5 Millionen Einwohnern, Deutschland 8.840 Fälle bei 83,1 Millionen Seelen, und Dänemark, wo fast alle Regeln abgeschafft wurden, 453 Fälle bei 5,8 Millionen Dänen. In der Steuerbelastung und im Medianvermögen pro Kopf unterscheiden sich die drei Länder erheblich. Auch im Hysteriepegel. Die Covid-Kurven laufen allerdings schon seit Monaten mehr oder weniger parallel. Es ist wie verhext.

Ich komme gerade rechtzeitig zurück, um zu lesen, dass die Berliner Landesregierung in den Farben, die bald vielleicht bundesweit regieren könnten, bei ihrer G2-Regelung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben die Kinder vergessen hat. 

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Was schon einmal passieren kann, schließlich standen die Kleinen bei den Grünen und ihrem Anhang gerade anderweitig ganz im Mittelpunkt, nämlich als Briefeschreiber an die Großeltern, denen sie mit vorgefertigten Textbausteinen Liebesentzug ankündigen sollen, falls sie, die Alten, am 26. nicht die richtige Partei wählen sollten. 

In der DDR übrigens, die wir hier keinesfalls vergleichen wollen, hielten Lehrpersonal und Pionierleiter Schüler dazu an, aus vorgefertigten Texten Solidaritätsbriefe an Rudolf Bahro, quatsch, Angela Davis zu schreiben, die amerikanische Kommunistin, die alle Gefängnisse im Westen auflösen wollte, aber gleichzeitig fand, wenn jemand aus politischen Gründen im Ostblock einsaß, dann hätte das schon gute Gründe. (Eine warmherzige steuergeldgestützte Würdigung von Davis durch das Goethe-Institut können Interessierte hier nachlesen.) Von Erwachsenen assistierte politische Kindermundbriefe stellen also eine schon ältere Praxis dar. Das nur fürs Protokoll, falls jemand wieder behauptet, die Grünen wären generell traditionsfeindlich. 

Was den Autor betrifft, er ist gefasst und auf alles vorbereitet, was nach dem Wahltag kommt. 

Ich hatte kurz vorher meinen Kuraufenthalt. 

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