In die Stadtbibliothek im südschwedischen Borås rückte im Oktober 2017 die Polizei ein, weil ein besorgter Bürger die Sicherheit der Kinder in dem öffentlichen Gebäude gefährdet sah. Wie die schwedische Zeitung Expressen berichtete, alarmierte der Mann, ein Pädagoge, die Polizei, weil er Kinder dabei beobachtet hatte, wie sie einem Hörspiel von Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ lauschten. Er nahm besonders Anstoß an dem Wort „Negerkönig“, mit dem Pippis Vater dort bezeichnet wurde.
Der Roman „Pippi Langstrumpf“ wurde im Jahr 1945 erstmals publiziert und schnell wurden die Geschichten rund um „das stärkste Mädchen der Welt“ ein Welterfolg. Allerdings bezeichnet das stärkste Mädchen der Welt in der Romantrilogie Menschen als „Neger“. An einer Stelle sagt sie:
„Meine Mutter ist schon lange tot. Mein Vater ist ein Negerkönig. Eines Tages kommt er und holt mich. Dann werde ich eine Negerprinzessin. Heihopp, was wird das für ein Leben!“
An anderer Stelle wird Pippi Langstrumpf noch deutlicher:
„Wie kannst du überhaupt verlangen, dass ein kleines Kind mit einem Engel als Mutter und einem Negerkönig als Vater immer die Wahrheit sagen soll? Übrigens will ich euch verraten, dass es in Nicaragua keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag.“
Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf ist sich also sicher, dass es keinen einzigen „Neger“ gibt, der die Wahrheit sagt. Ist Pippi Langstrumpf etwa rassistisch? Diese Frage verstört viele Fans von Pippi. Der Weg von einem Fan zu einem Fanatiker kann sehr kurz sein und wird genau dann beschritten, wenn sich ein Fan weigert, das Objekt seiner Bewunderung als Mensch zu sehen und zwar mit all seinen menschlichen Fehlern und Schwächen. Natürlich ist Pippi Langstrumpf rassistisch!
Pippi ist ein wunderbares Mädchen, keine Frage. Sie ist stark, selbstbewusst und kreativ. Mit all diesen Eigenschaften ist sie ein Vorbild für sämtliche Mädchen und Jungs. Gute Romane zeichnen sich aber dadurch aus, dass die Charaktere nicht schlicht in schwarz und weiß gezeichnet werden, sondern dass sie komplex sind, Persönlichkeiten, an denen sich die Leserinnen und Leser reiben können und müssen. Dies gilt auch für Kinderbüchern. Kinder sind nämlich klüger als manche Erwachsene denken. Wenn es etwas gibt, dass uns Astrid Lindgren beigebracht hat, dann das.
Astrid Lindgrens Figuren sind Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften. Sie taugen nicht zur kritiklosen Bewunderung. Bei Astrid Lindgren hat niemand das Recht, nur zu bewundern. Sie fordert ihre Leserinnen und Leser zum Denken auf. Pippi Langstrumpf zum Beispiel hat auch schlechte Seiten. Für manche Völker zum Beispiel nutzt sie Worte der Verachtung. Das ist zwar schmerzhaft, aber nicht ganz unverständlich. Pippi beschreibt nämlich genau die Völker so abwertend, die zu ihren Gunsten von ihrem Piratenvater Efraim Langstrumpf beraubt und ausgebeutet werden. Pippis Reichtum, von der Villa bis zum Pferd, ist das Resultat der Unterdrückung, Ausbeutung und Plünderung ihres Vaters. Aus genau diesem Umstand erwächst ihre Anarchie. Pippis Freiheit ist das Resultat des imperialistischen Gehabes ihres Vaters.
Es ist genau dies Ungerechtigkeit, die Pippi nicht erkennen will, obwohl sie am Ende der Trilogie spürt, dass an ihrer Freiheit etwas faul ist. Der letzte Satz, den sie im letzen Roman spricht lautet: „Niemals will ich werden groß.“
Pippi Langstrumpf ist neun Jahre alt und sie will es bleiben! Sie will ihre Privilegien genießen wie ein Kind, ohne erkennen zu müssen, aus welch brutaler Ungerechtigkeit sie entstammen. Pippi Langstrumpf ist somit eine Metapher für alle Menschen, die zwar frei, stark und unabhängig sind, sich aber nicht eingestehen wollen, auf welche zum Teil ausbeuterischen Strukturen diese Freiheit fußt. Astrid Lindgren hat mit Pippi Langstrumpf zwar eine Heldin verfasst, aber wie alle große Heldinnen und Helden der Literaturgeschichte, von Odysseus bis Joy aus „Inside Out“, hat Pippi Fehler und Schwächen. Sie eignet sich nicht dazu, uneingeschränkt verehrt zu werden.
Eine andere Heldin bei Astrid Lindgren heißt Ronja Räubertochter. Im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf erkennt sie, dass ihr Vater, so sehr sie ihn auch liebt, auf sehr unmoralische Art zu seinem Reichtum gelangt. Als Ronja das erkennt, macht sie etwas, das Pippi nicht gemacht hat: Sie lehnt sich gegen ihren Vater auf!
Astrid Lindgren hat ihre Leserinnen und Leser immer ernst genommen, gerade weil sie größtenteils Kinder sind. Der Oetinger Verlag hat jedoch beschlossen, die Kinder wieder zu bevormunden und beraubt die Kinder somit ihrer Rechte, die Astrid Lindgren ihnen selbstverständlich zugesprochen hat. In den neuen Übersetzung spricht Pippi nicht mehr von ihrem Vater als „Negerkönig“ sondern als „Südseekönig“, ganz so, als hätten die Völker der Südsee ganz freiwillig diesen skandinavischen Piraten zum Herrscher.
Der Oetinger Verlag hat in skandalöser Weise in die Kunstfreiheit einer Autorin eingegriffen und eine Figur in ihrem Roman zerstört. Aus einer Figur, die mit rassistischen Gedankenmustern verdrängt, dass ihre Freiheit auf Piraterie und Ausbeutung fußt, hat der Verlag ein Mädchen reinen Gewissens gemacht. Das ist Kunstzerstörung!
Pippi Langstrumpf wurde vom Oetinger Verlag von einer komplexen Heldin zu einer reinen Heldin gepimpt. Wer Bücher verbrennt, verbrennt die Bücher wenigstens so, wie sie sind. Der Oetinger Verlag aber hat den Roman „Pippi Langstrumpf“ mit der Tilgung jener Erzählmomente, die ihm als unpassend erschienen, nachhaltig und für die Zukunft zerstört. Den Rassismus aus einer Figur eines Romans zu schneiden, ist so skandalös, als würde man verlangen, Jago in Shakespeares „Othello“ dürfe seinen General nicht mehr als „Mohr“ bezeichnen.
Aus Geschichte(n) lernen wir nicht, indem wir sie einfach umschreiben!
Kinder haben das Recht, sich Gedanken zu machen. Sie dürfen fragen, warum die tolle Pippi so doof über „Neger“ spricht und behauptet, sie würden alle lügen. Und Erwachsene haben die Pflicht, sich mit solchen Heldinnen auseinanderzusetzen, statt sie durch Verniedlichung und Umschreibung zu vernichten und jene Geschichten zu tilgen, die der puren Verehrung der Heldin gefährlich werden könnte. Wie sagte es einst die große Philosophin Hannah Arendt:
„Niemand hat das Recht, sein Gehorchen als Vorwand für die Rechtfertigung seines Handelns zu benutzen. Gehorchen ist keine Rechtfertigung für Handeln.“
Gerd Buurmans Beitrag ist zuerst bei Tapfer im Nirgendwo erschienen.