Tichys Einblick
Rot ist verblichen, die Geschichte vergessen

Irgendwann verließ die Sozialdemokratie still und leise die Republik

Man konnte der alten SPD viel vorwerfen, aber dass sie geschichtsvergessen gewesen wäre oder totalitäre Neigungen gehabt hätte, nicht. Aber das ist nun nur noch Geschichte.

Sean Gallup/Getty Images

Inzwischen löst der Name Sozialdemokratie nur noch nostalgische Gefühle aus. Es ist, als habe sie irgendwann einmal den Raum der Republik verlassen und nur eine abgetragene Joppe zurückgelassen, die dann auch keiner mehr tragen wollte. Da man sich aber ohne Not nicht von einem eingeführten Markennamen trennt, wurde das Schildchen mit dem Label abgetrennt, eine neue schicke Jacke in Auftrag gegeben, ein seidiger roter Blazer mit breiten grünen Streifen und Ärmelabsätzen, dem schließlich als Retro-Zitat das Schildchen wieder aufgenäht wurde.

In ihren Ansichten sind die Funktionäre von denen der Grünen nicht zu unterscheiden. Ihre Ideen tragen die gleichen langen Bärte. Sie verstünden eher Babylonisch als die soziale Frage. Und noch weniger, wenn das möglich wäre, diejenigen, für die sie einst Politik gemacht hatten. Deswegen verlassen auch die Arbeiter, die Angestellten, die Handwerker, die Angehörigen des kleinen Mittelstandes als Wähler die SPD und wenden sich anderen Parteien zu.

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Als Preis für ihre Ergrünung lässt die SPD zunehmend von ihren freiheitlichen Werten, von ihrem Eintreten für die Presse-, die Meinungs- und die Freiheit der Lehre und Forschung, im Grunde von ihrer große Geschichte. Immer häufiger findet man ihre Funktionäre auf der anderen Seite, auf der Seite derer, die nichts lieber zu wollen scheinen, als die Freiheit einzuschränken, die nach Verboten und Ausschluss aus dem Diskurs rufen.

In Hamburg wurde die Antrittsvorlesung des Volkswirtschaftsprofessors Bernd Lucke, wie man in Ton und Bild und via Print erfahren konnte, von Studenten verhindert, die den Vorlesungssaal besetzten und „Nazis raus“ skandierten. Dabei sollte eigentlich in Deutschland bestens bekannt sein, wer schon alles wen „raus“ haben wollte. „Raus“-Rufe gehören sich für Demokraten nicht. Aber möglicherweise bleibt nur Skandieren übrig, wenn die Fähigkeit zur Argumentation schwindet. Dass die Verhinderung einer Vorlesung „mit dem grundgesetzlich garantierten Schutz der Freiheit von Wissenschaft nicht zu vereinbaren“ ist, wie der Tagesspiegel die Unileitung zitiert, halten Hamburgs grüne Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank und den Präsidenten der Universität Dieter Lenzen nicht davon ab, „Verständnis für die studentischen Proteste“ zu zeigen, wie der Tagesspiegel weiter berichtet, denn „Universitäten müssten als Orte der Wissenschaft die diskursive Auseinandersetzung auch über kontroverse gesellschaftliche Sachverhalte und Positionen führen und aushalten“. Wie eine Wissenschaftssenatorin und der Präsident einer Universität in der gewaltsamen Verhinderung einer Vorlesung und der körperlichen Bedrohung eines Professors eine „diskursive Auseinandersetzung“ sehen können, entzieht sich jeden halbwegs akademischen und auch demokratischen Verständnisses.

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Nach dieser Logik würde man dann wahrscheinlich eine Prügelei auf dem Campus als Doktorandenseminar einordnen. Dass allerdings der Asta-Vorsitzende Karim Kuropka diese Proteste mit den Worten kommentiert: „Was hat er denn erwartet? Dass er nach alldem einfach wieder in den Elfenbeinturm zurückkommt und sein politisches Handeln keine Konsequenzen hat?“, wirft die grundsätzliche Frage auf: Wird nach Ansicht der heutigen Sozialdemokraten, die Ausübung der demokratischen Rechte, die Inanspruchnahme des passiven Wahlrechts mit beruflichen Konsequenzen belegt? Karim Kuropka ist Sozialdemokrat, gehört dem Landesvorstand der Jusos an und laut Hamburger Abendblatt und WELT arbeitet er „auch als Mitarbeiter der SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Ksenija Bekeris“. Ksenja Bekeris ist nicht nur Abgeordnete, sondern auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD in der Hamburger Bürgerschaft.

So doziert der Mitarbeiter der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD: „Er (gemeint ist Lucke – der Verf.) sollte sich vielleicht eine Auszeit nehmen und darüber reflektieren, was für einen Schaden er der Gesellschaft mit seiner ehemaligen Partei zugefügt hat“. Das äußert ein zweiunddreißigjähriger Student, der eingeschrieben ist für ein Studium der germanistischen Linguistik und es bisher m.W. zu keinem Master gebracht hat, geschweige denn zu einer Dissertation über einen anerkannten Professor der  Volkswirtschaftslehre. Und weil der Fachmann der SPD für Hochschulpolitik anscheinend genauso viel von der Volkswirtschaftslehre wie von der Linguistik versteht, führt er in beneidenswerter Selbstsicherheit aus: „Gleichzeitig beanstanden wir seine wirtschaftswissenschaftliche Ausrichtung. Viele seiner Thesen sind vollkommen unsozial und werden mittlerweile auch als überholt angesehen, sei es, dass die Senkung der Löhne zu weniger Arbeitslosigkeit führt, oder die rigide Sparpolitik im Sinne einer schwarzen Null.“ Wissenschaftlich ist also nur noch, was dem Genossen ideologisch genehm ist. Auch dieses Konzept ist aus der Geschichte bestens bekannt. A propos Geschichte. Dass dem mit genauso großer Selbstsicherheit auf dem Feld der Geschichte dilettierenden Studenten und Funktionär das „Vorgehen von Lucke … an Franz von Papen erinnert“, wird Kuropkas Genossen Frank Walter Steinmeier besonders erfreuen, weil damit implizit Steinmeier mit Hindenburg gleichgesetzt wird, denn von Papens Vorgehen wäre ohne die Rückendeckung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg nicht möglich gewesen.

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All das legt das Fazit nahe: wer in Deutschland seine grundgesetzverbrieften Rechte wahrnimmt, gehört, wenn er nicht die Positionen der SPD oder der Grünen teilt, nicht mehr an eine deutsche Universität.

Man könnte das alles für einen Einzelfall halten. Doch hat das mittlerweile Methode und wird systemisch. Die Freiheit der Lehre und Forschung gerät unter massivem Druck, weil über den Asta, der aufgrund einer verschwindend geringen Wahlbeteiligung von sehr linken Studenten beherrscht wird, eine extrem ideologische Agenda durchgesetzt wird – und die Hochschulgremien, die Präsidenten der Universitäten die Wissenschaftler nicht schützen, sondern sich dem Druck dieser Studenten beugen.

An der Humboldt-Universität zu Berlin gelang es studentischen Mitgliedern des Akademischen Senats, wieder Jusos, die Gründung eines Internationalen Zentrums für vergleichende Diktaturforschung zu verhindern, in dem die Gutachten aus dem Akademischen Senat, aus einem laufenden Verfahren an die taz durchgestochen wurden. Die Präsidentin der Humboldt Universität zog keinerlei personelle oder disziplinarische Konsequenzen.

Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher, die studierenden Jusos werden ihn wohl nicht kennen, oder wie Herbert Wehner oder Willy Brandt hätten die sozialdemokratische Welt nicht mehr verstanden. Kurt Schumacher hat den Nationalsozialismus in einem KZ überlebt, während Herbert Wehner den Genickschuss oder dem Gulag der Stalinisten mit viel Geschick, mit viel Gespür und mit viel Glück entgangen ist. Willy Brandt exilierte nach Norwegen und nicht in Stalins Reich. Schumacher und Wehner haben den totalitären Terror des Nationalsozialismus und des Stalinismus erlebt und überlebt. Sie hätten als Lehre aus ihrem Leben die Errichtung eines Zentrums für vergleichende Diktaturforschung unterstützt, es keinesfalls mit ahistorischen Behauptungen und Skandalisierungen torpediert.

Aber genau diese für die Demokratie so gefährliche Geschichtsamnesie erreichte inzwischen auch das Büro von Heiko Maas. Robin Mesarosch, Referent für Social Media im Büro des Bundestagsabgeordneten Heiko Maas, Ende Zwanzig und immer noch Student, kommentierte den Anschlag auf die Freiheit der Lehre und Forschung an der Hamburger Universität am 16.10. auf Twitter mit den Worten: „Bernd Lucke ist der Gründer der erfolgreichsten deutschen Nazi-Partei seit der NSDAP. Er hat in einem Vortragssaal nichts verloren. Das ist keine arbeitsrechtliche, sondern eine gesellschaftliche Frage. Die Studierenden in Hamburg retten gerade die Ehre dieser Gesellschaft.“ Mal abgesehen davon, dass Mesarosch den Nationalsozialismus verharmlost, steht er mit seiner undemokratischen Äußerung, die auch nicht die Positionen des Grundgesetzes wiedergeben, in Stalins Tradition, denn schließlich war es Stalin, der alles, was nicht seiner Vorstellung entsprach, für eine Rechtsabweichung hielt, die erbittert und rücksichtslos zu bekämpfen war, und der deshalb auch die Sozialdemokraten Sozialfaschisten nannte.

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Was bleibt also von einer SPD, die undemokratisches Gedankengut bei ihren Jungfunktionären zu fördern scheint, die sowohl die soziale Frage, als auch ihre Geschichte und Identität vergessen hat? Eine Partei, die aber ihre Geschichte und ihre Identität verliert, wird zur Partei ohne Eigenschaften und damit selbst in nicht allzu ferner Zukunft Geschichte sein.

Die ARD Kommentatorin Barbara Kostolnik empfahl der ergrünten SPD deshalb auch, „sich komplett frei (zu) machen von den Sünden der Vergangenheit.“ Im Klartext: werdet geschichtslos, streift die letzten Erinnerung an eure große Geschichte ab, denn die Wahl „von Status-quo-Pragmatikern wäre insofern ein katastrophaler Rollback, eine mutlose, von Angst getriebene Entscheidung … Und eine radikal neue Politik – grün, links, solidarisch – funktioniert nur in einer anderen Konstellation.“

Im Grunde empfiehlt der NDR der ergrünten SPD, dass ihre Mitglieder geschlossen der Partei der Grünen beitreten, was ihre Funktionäre mental bereits getan haben. Man konnte der alten SPD viel vorwerfen, aber dass sie geschichtsvergessen gewesen wäre oder totalitäre Neigungen gehabt hätte, nicht.

Doch das Rot ist längst verblichen, die Geschichte vergessen.


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