Tichys Einblick
Interview mit Heiko Heinisch

Das Bilderverbot – ein Instrument des politischen Islam?

Ein Lehrer musste sterben, weil er eine Mohammed-Karikatur zeigte. Woher kommt das Bilderverbot im Islam - ist es ein Instrument des politischen Islam? Ein Gespräch mit dem Historiker Heiko Heinisch, der sagt: „Alle Akteure des politischen Islam propagieren ein Bilderverbot.“

Der Lehrer Samuel Paty wurde Opfer einer islamistischen Terrortat, weil er seinen Schülern eine Mohammed-Karikatur zeigte, als er mit ihnen über Meinungsfreiheit diskutierte. Der Streit um das Abbilden von dem Propheten Mohammed hat eine längere Gegenwartshistorie. Schon 2005 brach eine Wutwelle wegen Karikaturen aus, als die dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ zwölf Karikaturen, die Mohammed thematisieren, veröffentlichte. Es folgten Drohungen und Attentatsversuche, die bis heute nicht enden. Die Empörung über die Abbildung Mohammeds reicht von militanten Drohungen über Straßenproteste bis zu terroristischen Attentaten. Dahinter steckt auch ein angeblich generelles Bilderverbot im Islam, worauf sich besonders Vertreter des politischen Islams berufen. Doch gibt es solch ein Bilderverbot im Islam wirklich? Und was hat dies mit Islamismus und dem politischen Islam zu tun?

Ein Gespräch mit dem Historiker Heiko Heinisch, der in dem wissenschaftlichen Beirat der österreichischen „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ vertreten ist.

Zara Riffler: „Du sollst dir kein Gottesbild anfertigen“ – einer der berühmtesten Sätze aus den zehn Geboten, 2. Buch Mose, der die Frage aufwirft, ob das Juden- und Christentum etwas mit dem angeblichen Bilderverbot im Islam zu tun hat. Herr Heinisch, was ist die Historie des Bilderverbots im Islam?

Heiko Heinisch: Das Bilderverbot im Islam geht, genau wie ähnliche Verbote in manchen christlichen Strömungen der Vergangenheit, auf die jüdische Tradition zurück. Das den Gläubigen in den Versen des Dekalogs auferlegte Bilderverbot bezieht sich auf Idole. Die Gläubigen sollten sie weder anfertigen, noch sich vor ihnen niederwerfen. Das war eine bewusste Abwendung von der Idolatrie älterer religiöser Auffassungen, die sich mit dem entstehenden Monotheismus nicht mehr vertrugen. Denn in der Idolatrie steht das Idol, die Götterstatue nicht symbolhaft für Gott, vielmehr gingen die Gläubigen davon aus, dass der jeweilige Gott im Idol, in der Statue gegenwärtig ist. Davon wendete sich das Judentum ab, diese Tradition war zu stark mit dem Polytheismus verbunden.

Das islamische Bilderverbot lässt sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur aus der jüdischen, sondern auch aus der christlichen Tradition herleiten. Im 8. und 9. Jahrhundert tobte in Byzanz über mehr als 100 Jahre hinweg der sogenannte Bilderstreit, der schließlich 843 zugunsten der Bildbefürworter entschieden wurde. Dass diese Auseinandersetzung auch im Islamischen Reich rezipiert wurde, ist naheliegend. Interessanterweise wird im Koran selbst kein Bilderverbot erwähnt, einzig die Anbetung von Opfersteinen wird als Ausdruck des Polytheismus untersagt. Es taucht erst in den Hadithen auf. Die Entstehungszeit der frühesten Hadith-Sammlungen fällt in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts, also genau in die Hochzeit des Bilderstreits in Byzanz. Vor dieser Zeit lässt sich ein Bilderverbot im Islam nicht nachweisen und es scheint naheliegend, dass sich der byzantinische Ikonoklasmus in der islamischen Überlieferung widerspiegelt.

Existiert im Islam faktisch das Bilderverbot?

Wie schon erwähnt, kennt der Koran kein Bilderverbot. Erst in den Hadithen wird ein Bilderverbot erwähnt, jedoch nicht ausdrücklich gefordert – auch nicht in Bezug auf eine bildliche Darstellung Gottes oder des Propheten. Ein Abbildungsverbot ergibt sich erst in der Interpretation der entsprechenden Hadithe durch die Gelehrten der verschiedenen islamischen Rechtsschulen. Alle Rechtsschulen sind sich weitgehend darin einig, dass dreidimensionale Darstellungen verboten sind, vermutlich, weil sie am ehesten an die auch schon im Koran verpönten Götzenbilder vorislamischer Zeit erinnern. Ebenso ist es Konsens, dass in Moscheen keine Bildnisse gezeigt werden dürfen. Darüber hinaus wird und wurde das Bilderverbot sehr unterschiedlich gehandhabt. Nach manchen Rechtsmeinungen sind Tier- und Menschenbilder als Bodenschmuck oder auf Kissen erlaubt, an Wänden jedoch verboten. Einige Rechtsschulen lehnen Bilder von Lebendem gänzlich ab, also auch die Darstellung von Pflanzen. Andere verbieten nur die Darstellung von Menschen und Tieren, wieder andere lassen deren Darstellung zu, solange die dargestellten Lebewesen eindeutig „nicht lebensfähig“ sind. Daher finden sich Bildwerke in der islamischen Kunst, in denen der Maler sowohl die dargestellten Menschen, als auch die Tiere mittels eines Striches quer über den Hals symbolisch geköpft hat, um zu verdeutlichen, dass das von ihm Erschaffene nicht lebendig ist.

Diese unterschiedlichen Auffassungen, die sich im Übrigen nicht nur regional unterscheiden, sondern auch historisch verändert haben, zeigen sich in der Kunst. Denn auch im islamischen Kulturraum wurden Bildwerke produziert. Die reiche bildliche Ausstattung des Palasts des Umayyaden-Kalifen Hisham ibn Abd al-Malik kann noch heute bei Jericho bewundern werden. Und im Palast Qusayr’Amra des Kalifen Al-Walid I. im heutigen Jordanien sind Fresken erhalten, darunter auch Darstellungen nackter Frauen. In Persien wiederum wurde die Miniaturmalerei im 13. Jahrhundert zu höchster Blüte entwickelt und später von den Osmanen übernommen.

Die Buchillustrationen machten auch vor dem Propheten Mohammed nicht Halt. Sein Gesicht wurde dabei je nach Epoche und Auftraggeber verschleiert oder als heller Fleck dargestellt, aber auch immer wieder voll ausgeführt. Das bedeutet, dass innerhalb islamisch beherrschter Gebiete an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Darstellungen Mohammeds erlaubt waren. Wer sich also heute auf ein Bilderverbot im Islam beruft, das die Darstellung Mohammeds verbiete, stellt sich letztlich auf die Seite der radikalen Kräfte im Islam.

Der Begriff „Bilderverbot“ wird von Muslimen, radikalen Imamen, muslimischen Verbänden oder Staatsoberhäupter arabischer Länder meistens gar nicht verwendet. Sondern überwiegend wird argumentiert, es sei eine „Beleidigung“. Geht das Argument einer Beleidigung und die generell scharfe Kritik bis hin zu Attentaten auf ein Bilderverbot zurück?

Der Idee eines Bilderverbots im orthodoxen Islam liegt dem zumindest zugrunde. Dass das aktuell anders argumentiert wird, ist eine neuere Entwicklung. Rund um den Karikaturenstreit 2006 wurde auch von Muslimen noch mit dem Bilderverbot argumentiert und mit verletzten „religiösen Gefühlen“.

Nun mag bei vielen Muslimen etwa was die dänischen Karikaturen oder Charlie Hebdo betrifft, das Gefühl eine Rolle spielen, dass die eigene Religion und deren Gründer verunglimpft werden, was bei diesen Karikaturen aber meiner Meinung nach auf einer Fehlinterpretation beruht, aber jenen, die die Proteste initiieren, geht es um etwas anderes. Das zeigen eine ganze Reihe von Ereignissen der vergangenen 20 Jahre. 2002 erschien in Newsweek ein Artikel mit dem Titel „In the Beginning There Were the Holy Books“, illustriert mit einer Abbildung Mohammeds. Die al-Ashar-Universität in Kairo verwies umgehend auf das Verbot der bildlichen Darstellung Mohammeds und prangerte Newsweek wegen Übertretung desselben an. In der Folge wurde Newsweek in Indonesien und Bangladesch verboten, und in Teilen der islamischen Welt kam es zu wütenden Protesten. Ähnliches ist seither des Öfteren passiert. 2008 forderten 90.000 in Großbritannien lebende Muslime mit einer Unterschriftenaktion von Wikipedia die bildlichen Darstellungen aus dem Eintrag „Mohammed“ zu entfernen. Dabei handelte es sich nicht um Karikaturen, sondern um Miniaturen, also Bildwerke aus der islamischen Kunst.

Extremisten tendieren dazu, die von ihnen aufgestellten Regeln immer rigoroser auszulegen und versuchen, sie auf ihre Umgebung auszudehnen. Und mit der Behauptung einer Beleidigung Mohammeds lassen sich heute Massen mobilisieren. Letztlich ist das, was hier „Beleidigung“ oder „Verletzung religiöser Gefühle“ genannt wird, die Wahrnehmung des Anderen und die Bestürzung darüber, dass dieser die eigene Erwartung, wie Gott, Mohammed etc. zu behandeln seien, nicht erfüllt und sich anders verhält, als man es selbst für recht und billig erachtet.

Wie konnte sich dieses Bilderverbot im Islam trotzdem dermaßen durchsetzen?

Nicht nur das Bilderverbot, sondern eine ganze Reihe von fundamentalistischen Vorstellungen. Innerhalb des Islam hat sich in den vergangenen 40 Jahren eine fundamentalistische Strömung als Mainstream durchgesetzt, die einen umfassenden Herrschaftsanspruch erhebt. Der Kulturkampf, den das innerhalb der islamischen Welt ausgelöst hat, hält bis heute an.

Vermittelt über islamistische Organisationen werden auch muslimische Communitys in Europa und letztlich wir alle in diesen hineingezogen. Islamische Fundamentalisten, also Vertreter des politischen Islam, propagieren ein ganz striktes und klares Konzept des Erlaubten und Verbotenen, von halal und haram. Dieses Konzept, ihre Vorstellung von Islam und Muslimen versuchen sie dann recht erfolgreich innerhalb muslimischer Communitys durchzusetzen. Das fällt ihnen umso einfacher, als wir zugelassen haben, dass ausgerechnet Organisationen des politischen Islam als Vertretungen der Muslime anerkannt wurden. Das verleiht ihnen zusätzliche Autorität unter gläubigen Muslimen.

Das Regelsystem von halal und haram erfüllt in diesem Zusammenhang einerseits den Zweck, eine genaue Definition von Muslim-sein zur Verfügung zu stellen, was letztlich auch mit Macht verbunden ist, denn damit können andere unter Druck gesetzt und gemaßregelt werden. Und es liefert andererseits eine deutliche Unterscheidung zur nicht-muslimischen Umwelt. Anhand von halal und haram lässt sich die Welt in Muslime und Nichtmuslime scheiden. Auf dieser Unterscheidung basieren die Konzepte politisch islamischer Strömungen wie der Muslimbruderschaft oder der Milli Görüs. Und nicht zuletzt kann mit diesen vermeintlich islamischen Regeln Druck auf die gesamte Gesellschaft ausgeübt werden, sich den Regeln des Islam unterzuordnen.

Kurz gesagt: Forderungen wie die Einhaltung des Bilderverbots sind Versuche politisch islamischer Akteure, den Herrschaftsanspruch ihrer Ideologie zur Geltung zu bringen und als vermeintliche Kämpfer für die Sache des Islam muslimische Communitys hinter sich zu scharen – oder diese zumindest in Geiselhaft zu nehmen.

Der islamistische Terroranschlag auf Samuel Paty steht direkt in Verbindung zu Abbildungen von dem Propheten Mohammed. Dass Paty eine Mohammed-Karikatur seinen Schülern zeigte, führte dazu, dass der Islamist Abdelhakim Sefrioui – welcher der Muslimbruderschaft und Hamas nahe steht – einen Mordaufruf im Internet gegen den Lehrer startete, mit der Begründung der Abbildung Mohammeds. Der Attentäter Abdullah Ansorow hat genau auf dieses „Vergehen“ Patys reagiert, der Verbindungen zum Islamischen Staat hatte.
Wieso stellen Abbildungen des Propheten Mohammed besonders für Islamisten einen solchen Furor dar, der sie zum Töten bewegt?

Es sind ja nicht nur Abbildungen Mohammeds. Ich erinnere an das Buch Die Satanischen Verse von Salman Rushdie. Aber Bilder sind natürlich sehr wirkmächtig in jeder Richtung. Man kann sie auch jenen „vermitteln“, die nicht lesen können, oder Menschen, die die Sprache der Karikaturisten nicht verstehen, und braucht nur noch dazu sagen, hier würde Mohammed verunglimpft oder beleidigt. Wir wissen, dass schon beim Karikaturenstreit 2006 eine ganze Menge Lügen und Fehlinformationen mit den Bildern zusammen in die islamische Welt getragen wurden, zum Teil sogar gefälschte Karikaturen. Bilder sind also kurz gesagt ein optimales Propagandainstrument.

Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron Samuel Paty ehrte und dem Islamismus dem Kampf ansagte, beleidigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Macron und forderte den Boykott gegen französische Produkte. Er verteidigte den Propheten Mohammed im Sinne einer Verteidigung des Islams und warf Europa eine „Neuauflage der Kreuzzüge vor“.
Da Erdogan ein Vertreter des politischen Islams ist und den Islamischen Staat unterstützt, kommt die Frage auf: Inwieweit ist dieses Bilderverbot auch ein Instrument des politischen Islam? Hat das Bilderverbot etwas mit der Ideologie des politischen Islam zu tun?

Wie bereits gesagt, stellt die Ideologie des politischen Islam einen umfassenden Herrschaftsanspruch. In diesem Sinne ist Kampf gegen Karikaturen oder andere Formen der Kritik am Islam oder einzelnen seiner Akteure – und das haben immer noch zu viele politische Entscheidungsträger in Europa nicht verstanden – ein Kampf gegen die Meinungsfreiheit an sich. Denn wo Meinungsfreiheit umfassend gewährt wird, können Ideologen ihre Vorstellungen nicht ungehindert durchsetzen. Es ist, wie Stéphane Charbonnier, einer der ermordeten Zeichner von Charlie Hebdo in seinem posthum erschienen Buch geschrieben hat: „Die Zensoren wollen sie überhaupt nicht, diese Scheißmeinungsfreiheit.“ Denn diese „Scheißmeinungsfreiheit“ steht ihrem politischen Projekt im Weg.

Dabei geht es aber längst nicht nur um Mohammed Karikaturen. Das zeigt sich an dem aus dem politischen Islam heraus entwickelten Konzept der „Islamophobie“. Der Begriff wird aktuell von Akteuren des politischen Islam wieder überall ins Spiel gebracht. Sieht man sich an, wie und auf was er Anwendung findet, dann wird schnell klar, dass es darum geht, jede Kritik am Islam, an einzelnen seiner Strömungen und Akteuren zu verunmöglichen. Nicht nur Karikaturen, sondern tatsächlich jeder kritische Blick auf bestimmte muslimische Communitys und selbst auf Organisationen des politischen Islam, wird als „islamophob“ und damit als rassistisch denunziert. Der türkische Präsidenten Erdogan befand schon 2011, die Benennung des Völkermords an den Armeniern als Völkermord, sei „islamophob“. Heute nennt er Macron „islamophob“, weil dieser gegen fundamentalistische Strömungen des Islam in Frankreich vorgehen will. Die türkische AKP-nahe Stiftung SETA veranstaltete bereits am 2. November eine Diskussionsrunde zum Thema „Islamophobie und Kriminalisierung von Muslimen und muslimischen NGOs in Frankreich“. Das ist einer der propagandistischen Tricks politisch islamischer Akteure: Kritik an Ihnen oder Angriffe auf sie werden als Kritik an und Angriffe auf Muslime und den Islam an sich dargestellt.

Es geht den Akteuren des politischen Islam also nur vordergründig um Karikaturen und Bilderverbote. Taktisch versuchen sie damit Muslime von der Gesellschaft zu entfremden und in möglichst segregierten Communitys unter ihre Hoheit zu bekommen. Letztendlich handelt es sich aber um einen Moment in einem umfassenden Kampf gegen unsere Gesellschaftsordnung, gegen das Konzept der Aufklärung und die damit verbundenen Freiheiten. Denn wir sollten nicht vergessen, dass gerade die Meinungsfreiheit die Grundlage aller anderen durch die Menschenrechte garantierten Freiheiten ist. Ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung gäbe es auch keine Religionsfreiheit, denn Religionen leben von der Verkündigung ihrer „Wahrheit“, aber auch alle anderen Menschenrechte wären ohne Meinungsfreiheit obsolet, denn es gäbe keine Möglichkeit, staatliche Willkür, wie Verhaftung, Folter, Schauprozesse und ähnliches gefahrlos öffentlich anzuprangern.

Damit stellt sich die Frage, ob es besonders Akteure des sogenannten Legalistischen Islamismus sind, die gezielt das Bilderverbot als eine Art Mythos streuen?

Alle Akteure des politischen Islam propagieren ein Bilderverbot, sowohl die gewalttätigen, wie wir es leider gerade wieder im Falle des ermordeten Lehrers Samuel Paty erleben mussten oder im Falle des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo, als auch die legalistischen. Hier kommt es ideologisch zu einer unheiligen Allianz. Die legalistischen Islamisten betrauern zwar die Ermordeten und sprechen sich laut gegen Gewalt aus, aber nicht ohne immer wieder zu beteuern, dass Karikaturen 1,4 Milliarden Muslime beleidigen würden, also nicht ohne für sich in Anspruch zu nehmen, die authentische Stimme aller Muslime zu sein und moralischen Druck aufzubauen. Die Dschihadisten liefern parallel dazu die Drohkulisse. Beides zusammen wirkt. Es gibt ja kaum noch Redaktionen, die bereit sind, Mohammed Karikaturen zu drucken, weil sie Angst haben, und nach dem Mord an Paty werden sich in Zukunft auch Lehrer zweimal überlegen, ob sie solche Karikaturen als Lehrmaterial verwenden. Gegen diese fortschreitende Einschränkung der Meinungsfreiheit stehen politisch islamische Organisationen in Europa nicht auf, denn auch sie wollen letztlich, dass der Islam von Kritik ausgenommen wird.

In DITIB-Moscheen in Deutschland werden derzeit Freitagspredigten gehalten, in denen gegen die Freiheit gehetzt wird, Mohammed Abbildungen zu zeigen oder zu karikieren; es wären Angriffe gegenüber dem „Gesandten Allahs“ unter dem „Deckmantel der ‚Meinungsfreiheit‘“. Ist es möglich, dass solche Hetze in DITIB-Moscheen von der Regierung Ankaras angeordnet werden?

Das ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Die DITIB untersteht unmittelbar der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, die Imame werden von der Diyanet in deutsche Moscheen entsandt und sind Beamte des türkischen Staates. Und die Regierung dieses Staates hetzt aktuell gegen Frankreich, gegen Macron und gegen die Meinungsfreiheit, die Karikaturen ermöglicht. Es wäre verwunderlich, wenn wir dieselben Reden nicht auch in den Moscheen der DITIB finden würden.

Nicht nur in der islamischen Welt fanden nach Erdogans Hassreden zahlreiche Wutproteste gegen Frankreich statt, auf denen der Mörder des Lehrers als Märtyrer gefeiert wird. Auch in deutschen Städten wie Berlin rufen diese Protestierer „Allahu Akbar“, einige zeigen den rechten Zeigefinger, ein Symbol, das der Islamische Staat vereinnahmt hat. Was schließen Sie aus diesen Protesten, die auch in Deutschland und weiteren europäischen Ländern stattfinden?

Islamisten sind in den vergangenen Jahren selbstbewusster geworden und sie sind zahlreicher geworden, denn es ist ihnen vielerorts gelungen, muslimische Communitys zu infiltrieren und parallelgesellschaftliche Strukturen aufzubauen. In Frankreich, Belgien oder Großbritannien existiert dieses Problem schon länger und ist auch deutlich größer, aber auch in Schweden, Deutschland oder Österreich sind die entsprechenden Entwicklungen nicht mehr zu übersehen.

Hasan al-Banna, der Gründer der Muslimbruderschaft hat in den 1930er Jahren ein Konzept zur Transformation von Gesellschaften erarbeitet, einen Bauplan für eine Graswurzelbewegung. Es geht, ohne das jetzt hier detaillierter ausführen zu können, darum, dem Islam umfassend zum Durchbruch zu verhelfen und als utopisches Endziel eine islamische Weltordnung zu errichten. Der aktuelle Chefideologe der Bruderschaft, der in Katar lebende Yusuf al-Qaradawi, hat dieses Konzept für Muslime in mehrheitlich nicht-muslimischen Ländern adaptiert. In den ersten Phasen islamischer Präsenz geht es darum, identitäre muslimische Gemeinschaften, also Parallelgesellschaften zu formen und nach und nach eine eigene Infrastruktur aufzubauen. In der Folge sollen die Gesellschaften sich an die dauerhafte Präsenz dieser muslimischen Enklaven und die sichtbare Präsenz des Islam in ihrer Mitte gewöhnen. Schlussendlich sollen die Muslime in der Vorstellung al-Qaradawis dazu übergehen und alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, ihre Werte allgemein durchzusetzen. In diesem Sinne ist die Debatte um ein Verbot von Mohammed Darstellungen ein Versuch, einen vermeintlich islamischen Wert gesamtgesellschaftlich durchzusetzen.

Die von Ihnen erwähnten Demonstrationen deuten genau in diese Richtung. Hier soll Präsenz gezeigt und öffentlich für islamische Regeln gekämpft werden, verbunden mit aggressiven Drohgebärden. Wir haben dem politischen Islam jahrzehntelang den Raum gelassen, sich zu organisieren und sich in Europa zu etablieren. Was wir aktuell nicht nur in Frankreich erleben, ist eine Folge davon, dass wir dieser gefährlichen Ideologie kaum Beachtung geschenkt haben. Das können wir uns nicht mehr länger leisten und ich hoffe, dass sich diese Einsicht nach der französischen auch in anderen europäischen Regierungen durchsetzt.

Vielen Dank für das Gespräch.

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