Tichys Einblick

Impotenter Staat mit Omnipotenzanspruch

Politiker betrachten den Staat als allwissend und omnipotent. Tatsächlich ist er unwissend und impotent. Außer wenn es darum geht, Grundrechte wie die Meinungsfreiheit einzuschränken.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Manche Anekdoten bringen die Lage eines Landes besser auf den Punkt als unzählige Studien. Eine schildert Key Pousttchi in seinem 2020 erschienenen Buch „Die verblendete Republik. Warum uns niemand die Wahrheit über die Digitalisierung sagt“. In den nachts geschlossenen Potsdamer Parks werde regelmäßig Party gemacht. Ein Ordnungsdienst sei nicht anzutreffen, es wird geduldet. Das ändere sich aber tagsüber, wenn auf einem der Wege verbotenerweise Fahrrad gefahren werde. Dann „haben sie sofort einen Strafzettel.“ Und sollte das Verwarnungsgeld nicht fristgerecht gezahlt werden, „werden sie konsequent verfolgt und es drohe ihnen sogar eine Gefängnisstrafe.“ Pousttchi skizziert damit folgende Logik: Es werde „kontrolliert, was sich leicht kontrollieren lässt – und nicht das, dessen Kontrolle ungleich wichtiger wäre.“ Vergleichbare Erfahrungen wird in Deutschland schon jeder gemacht haben. Es wäre kein Problem, wenn ein paar Jugendliche einmal nachts Party machen. Das gab es schon immer, nur galt früher ein Grundsatz: Man sollte sich nicht erwischen lassen. Letzteres ist heute nicht mehr zu befürchten, wenn die Jugendlichen genügend Resilienz aufbringen, um jeden Sanktionsanspruch im Keim zu ersticken. Für den Fahrradfahrer im Alter des 1970 geborenen Pousttchi gilt das tagsüber nicht. Er nimmt den Sanktionsanspruch klaglos hin, weil nicht nur frühere Bundeswehroffiziere die Rechtstreue internalisiert haben. In der deutschen Kultur hatte das aber immer eine Konsequenz: Rechtstreue ersetzt das selbstverantwortliche Handeln. Schließlich hängt die Plausibilität des Fahrverbots in der Theorie von den Umständen ab. So funktioniert aber nicht die öffentliche Verwaltung. Sie setzt das Fahrverbot so rigoros durch, wie sie das nächtliche Treiben konsequent ignoriert.

Wenn Du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis

In dieser Doppelstruktur funktioniert mittlerweile der gesamte Staat. Er ignoriert Probleme, um sich stattdessen mit einer schon satirisch anmutenden preußischen Akribie den Banalitäten des Alltags zu widmen. Dann kann schon einmal in Berlin eine öffentliche Bedürfnisanstalt in kurzer Zeit verwahrlosen. Oder in der gleichen Ortschaft muss eine Stadtautobahn gesperrt werden, weil die Stadtverwaltung das Problem jahrelang ignoriert hat. Brücken werden scheinbar über Nacht baufällig. Dafür kümmerte man sich in mühevoller Kleinarbeit um die Verkehrsberuhigung in der Friedrichstraße. Berlin ist kein bedauerlicher Sonderfall, sondern exemplarisch für den Zustand des deutschen Staates. Er ist unfähig, seine zentralen Aufgaben zu erfüllen: Etwa den öffentlichen Raum zu schützen, sorgt sich aber mit besonderer Sorgfalt um die strafrechtliche Verfolgung der von ihm selbst verursachten Sachverhalte. So wird in dem schwarz-roten Koalitionspapier vom 24. März in epischer Länge festgestellt, dass „angesichts der gestiegenen Gewaltkriminalität und der Gefährlichkeit gefährliche Körperverletzungen mittels einer Waffe oder eines Messers bzw. mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung künftig als Verbrechen geahndet werden können. Für Gruppenvergewaltigungen wollen wir den Strafrahmen grundsätzlich erhöhen, insbesondere bei gemeinschaftlicher Tatbegehung, bei Vergewaltigung und bei Herbeiführung einer Schwangerschaft.“

Jeder Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik belegt die Ursache: Eine unregulierte Zuwanderung in Zusammenhang mit einer gescheiterten Integrationspolitik. Oder um es mit den gedrechselten Formulierungen des Bundeskriminalamtes (BKA) auszudrücken: „Dies legt nahe, dass die Anstiege von Kriminalität (besonders bei nichtdeutschen Tatverdächtigen) mit den besonderen Bedingungen, die mit dem Wanderungsgeschehen verknüpft sind, einhergehen.“ Die Erhöhung des Strafrahmens ist für die Politik die einfachste, aber zugleich wirkungsloseste Methode. Bekanntlich rechnet kaum ein Straftäter bei der Strafbegehung mit seiner Entdeckung. Immerhin will aber die potenzielle Bundesregierung das Thema Jugendkriminalität aufarbeiten lassen. Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt werde sie „eine Studie in Auftrag geben, die auch gesetzgeberische Handlungsoptionen“ erfasse. Wenn Du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis, so das altbewährte Motto.

In diesem einhundertzweiundsechzig Seiten Konvolut namens Koalitionspapier wird die Mentalität eines Staates sichtbar, der sich nicht mehr mit den Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Handelns beschäftigt. Er betrachtet sich vielmehr als eine Institution zur Durchsetzung abstrakter politischer Ideen. Die Energie- und Verkehrspolitik ist schon seit langem das beste Beispiel für diesen Irrweg in den funktionsunfähigen Staat. Anstatt den Wettbewerb der Ideen zu ermöglichen, wo sich am Ende die effizienteste Lösung durchsetzt, wird eine vom Staat aufgezwungene Lösung ohne Rücksicht auf die Kosten durchgesetzt. Das führt zu grotesken Ergebnissen. Denn die vom Staat gefundene Lösung benötigt ein Ausmaß an Subventionen für die Energiewende, die in dem Konvolut für 2025 auf mehr als achtzehn Milliarden Euro beziffert wird, allerdings ohne alle Kosten überhaupt beziffern zu können. Gleichzeitig wird die Aussichtslosigkeit dieser Politik für den weltweiten Klimaschutz schon in der Präambel eingestanden. Zwar stünden die Koalitionäre in spe zu den deutschen und europäischen Klimazielen, aber „wohlwissend“, was für ein schönes Wort, „dass die Erderwärmung ein globales Problem ist und die Weltgemeinschaft es gemeinsam“ lösen müsse. Deshalb ist es leider sinnlos, die CO2-Vermeidung als zentrale Steuerungsgröße nutzen, um „die Gesamteffizienz eines Gebäudes durch Heizung, Gebäudehülle und Umfeldmaßnahmen zu verbessern“, wie es die Sozialdemokraten wohl nicht wissend fordern.

Ordnungspolitischen Tassen im Koalitionsschrank

Dieser Politikansatz durchzieht das Regierungshandeln in allen Politikfeldern, keineswegs nur in dem Wahn, technologische Lösungen wie das Elektroauto oder die Wärmepumpe politisch festlegen zu wollen. Wer kommt sonst auf die Idee, Empfängnisverhütung oder die Forschung und Entwicklung empfängnisverhütender Mittel für Männer als sozialstaatliche Aufgaben zu definieren. Niemand, der bei Lichte betrachtet, noch alle ordnungspolitischen Tassen im Koalitionsschrank hat. Dafür will die Union den Datenschutzbeauftragten, den Abfallbeauftragten, Abscheidesachkundige, Asbestsachkundigen, betriebliche Datenschutzbeauftragten, Emissionsbeauftragten, Entsorgungsverantwortlichen, Brandschutzbeauftragte, Gesundheitsschutzbeauftragte und Gefahrenschutzbeauftragte für Unternehmen unter 250 Mitarbeitern abschaffen, aber welchen Sinn machen dann solche Beauftragten in Unternehmen ab 251 Mitarbeitern? Man könnte auf die revolutionäre Idee kommen, dass Unternehmen und Mitarbeiter ein gemeinsames Interesse daran haben, dass ihre Firma nicht abbrennt. So ist das ganze Dokument von zahllosen Prüfaufträgen für Bürokratieabbau und vereinfachte Verfahren durchzogen. Aber in der Praxis ist es der Arbeitsgruppe 05 – Arbeit und Soziales gelungen, unter dem Stichwort Inklusion die Gründung eines „Bundeskompetenzzentrum für Leichte Sprache und Gebärdensprache“ zu beschließen. Sicherlich gibt es gute Gründe, sich damit zu beschäftigen. Aber die gibt es zu jedem Thema.

So hat die Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege ein weiteres Betätigungsfeld entdeckt. Sie will „freiwillige Angebote auf kommunaler Ebene stärken, die vulnerable Gruppen in den Blick nehmen. Einsamkeit, ihre Auswirkung und der Umgang damit, rücken wir in den Fokus.“ Einsamkeit ist ein wichtiges gesellschaftspolitisches Phänomen, häufig anzutreffen, außer in den derzeitigen Arbeitsgruppen der zukünftigen Koalitionäre. Aber wie konnte eine Mentalität entstehen, dass der Staat die Institution sein soll, die das Problem löst? Reden dann junge Leute öfter mit ihren alten alleinstehenden Nachbarn? Helfen sie denen beim Einkauf, weil es in den Kommunen besoldete Mitarbeiter gibt, die das auf einen Flyer schreiben? Oder fördert die Erfindung sozialstaatlicher Betätigungsfelder nicht das Gegenteil? Tatsächlich befördert der impotente Staat mit Omnipotenzanspruch erst eine gesellschaftliche Lethargie, die jede Selbstverantwortung an der Garderobe einer überforderten Bürokratie abgibt. Insofern passt es zu dieser Logik, wenn die SPD vorschlägt, dass Privathaushalte eine Zuschuss-Förderung erhalten sollen, „wenn sie haushaltsnahe Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erbracht werden.“ Dann braucht niemand mehr mit dem alten Nachbarn zum Einkaufen fahren, sondern kann diesem helfen, einen digitalisierten Förderantrag auszufüllen, der das Einkaufen zu einem Tatbestand im Sozialrecht macht. Es wäre allerdings mit den Regularien der Pflegeversicherung abzugleichen, die das als Hilfe zur Lebensführung definiert. Die Union will immerhin nur die „steuerliche Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen und der Betreuungskosten“ erhöhen. Trotz der nachgelagerten Besteuerung von Renten werden das die die meisten Rentner nicht nutzen können. Dafür ist das Rentenniveau schlicht zu niedrig.

Meinungsfreiheit als Bedrohung

Auf diesen einhundertzweiundsechzig Seiten findet sich nichts, wo der Staat seine Unzuständigkeit erklärt. Dafür einhundertachtunddreißigmal das Wort „prüfen“ in jeder denkbaren Kombination. Es fehlt nur noch die Einrichtung einer Bundesanstalt für Entbürokratisierung, um die zahllosen Prüfauftrage unter Hinzuziehung externer Sachverständiger zu sortieren. Dabei ist die Sinnlosigkeit dieser staatlichen Bemühungen augenscheinlich. Die meisten Veränderungen passieren nämlich nicht durch den Staat, sondern durch gesellschaftliche Debatten. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass sich etwa der Bierkonsum in Deutschland seit dem Jahr 1980 durch die Bemühungen von Bürokraten verändert hat? Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich durch offene Debatten in einem freien Mediensystem, keineswegs durch eine Bundesbehörde, die dem Bürger den Ratschlag gibt, sich beim Bierkonsum zurückzuhalten. Erst das führt zu einer veränderten Lebensführung, nicht zuletzt in den nachwachsenden Generationen. In einer Hinsicht haben aber Unionsparteien und die Sozialdemokraten die Zeichen des neoautoritären Zeitgeistes erkannt: Die Meinungsfreiheit als Bedrohung zu betrachten. So sei die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen „durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Deshalb müsse „die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“ Es ist das Politikfeld, wo dem Staat keine Impotenz vorzuwerfen ist. Er braucht dafür nur eine vermeintlich staatsferne Medienaufsicht mit dem richtigen staatsnahen Personal. Das wird sich finden lassen. Daran besteht immerhin kein Zweifel.

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