Das Wahlergebnis in der Bundeshauptstadt übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen der bisherigen Regierungsparteien SPD und CDU. Beide Parteien sind nach starken Verlusten, bei sowie schon schwacher Ausgangslage, auf historische Tiefstände gefallen und haben gemeinsam keine Mehrheit mehr. Die SPD blieb aber stärkste Partei und wird auch die nächste Landesregierung führen. Auch die Grünen haben Stimmenanteile verloren und fielen hinter die Linke, die als einzige Partei im Abgeordnetenhaus deutlich dazu gewonnen hat, auf den vierten Platz zurück. Die größten Verluste mussten die Piraten hinnehmen und sind kaum noch existent. Neben der AfD, die erwartungsgemäß zweistellig gewonnen hat, kehrt die FDP wieder ins Abgeordnetenhaus zurück.
Die nach wie vor bestehenden deutlichen Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Berlin West und Ost erfordern auch eine getrennte Betrachtung der Ergebnisse.
Wahlergebnisse der Parteien 2016 und Differenzen zu den Ergebnissen von 2011 in Prozent der Gültigen Stimmen. Die Wahlbeteiligung in Prozent der Wahlberechtigten.
Wahlbet. | SPD | CDU | Linke | Grüne | AfD | FDP | Piraten | |
Berlin
gesamt |
66,9 +6,7 | 21,6
-6,7 |
17,6
-5,7 |
15,6
+3,9 |
15,2
-2,4 |
14,2 | 6,7
+4,9 |
1,7
-7,2 |
West | 67,1
+5,1 |
23,2
-4,7 |
20,9
-8,6 |
10,1
+5,8 |
17,1
-3,2 |
12,1 | 8,6
+6,3 |
1,6
-6,5 |
Ost | 66,6
+8,8 |
19,3
-9,5 |
13,1
-1,1 |
23,4
+0,7 |
12,6
-0,9 |
17,0 | 4,0
+2,8 |
1,9
-8,2
|
Die Unterschiede zwischen dem östlichen und westlichen Teil der Stadt sind erheblich. Das gilt für die Parteianteile wie deren Veränderungen.
Die SPD ist in West und Ost nahezu gleichstark vertreten. Im Osten ist sie auf Grund ihrer starken Verluste hinter die Linke zurückgefallen, im Westen dagegen, weil dort die CDU besonders große Verluste hatte, vor die CDU an die erste Stelle gerückt. Die CDU hat die Wahl eindeutig im Westen verloren, wobei sie an die dort erstarkte FDP wie auch an die AfD viele Stimmen verloren hat. Die Linke hat im Osten, wo sie schon stark war, vor allem von den Jungwählern, den bisherigen Nichtwählern und der Auflösung der Piraten kräftig profitiert. Damit konnte sie ihre Verluste, vor allem an die AfD, wieder ausgleichen. Die Grünen haben im Westen bei sehr guter Ausgangslage mehr verloren als im Osten, aber insgesamt ihr zweitbestes Ergebnis erzielt. Der FDP ist mit einem thematisch guten Wahlkampf für das offen halten des Flughafens Tegel mit deutlichen Gewinnen im Westen die Rückkehr ins Abgeordnetenhaus geglückt. Die AfD hat im Osten wie im Westen zweistellig gewonnen, besonders deutlich Osten, wo auch die fünf direkt gewonnenen Wahlkreise liegen.
In der Wahrnehmung der Wähler sind in der Hauptstadt, auf Grund der regionalen Nähe, Bundes- und Landespolitik stärker miteinander verknüpft als bei allen anderen Landtagswahlen der anderen Bundesländer. Auch wenn das in der Realität nicht zutrifft, ist der Einfluss der bundespolitischen Stimmungen auf das Wahlverhalten bei Landtagswahlen in Berlin stärker als anderswo.
Bei dieser Wahl zum Abgeordnetenhaus haben SPD und CDU unter der schwachen bundespolitischen Stimmung ihrer Bundesparteien gelitten. Die nicht enden wollenden Angriffe der CSU und ihres Vorsitzenden Seehofer auf die Bundeskanzlerin über Aspekte der Flüchtlingspolitik, die längst verändert wurden, schaden allen Koalitionspartnern, auch der SPD. Nichts verärgert und verschreckt Wähler mehr als Parteienstreit. Nutznießer ist die AfD, die sich durch die bayerischen Einlassungen in ihrer Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin bestätigt sieht. In der Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen kurz vor der Wahl gaben knapp 60% der CDU-Anhänger der Bundeskanzlerin die Schuld für das sich abzeichnende schlechte Abschneiden der CDU.
Beurteilung der Spitzenleute
Auf den ersten Blick scheint diese Schuldzuweisung eindeutig zu sein. Die in derselben Umfrage erhobenen Sympathiewerte (Skala von +5 bis -5) lassen aber Zweifel aufkommen. Unter den Anhängern der CDU wird Merkel mit 3,2 sehr gut beurteilt, eine bessere Bewertung gibt es in dieser Umfrage nicht. Auch von den Anhängern der anderen Parteien, mit Ausnahme der AfD-Anhänger, wird Merkel teilweise sehr positiv gesehen. So beurteilen die Anhänger der Grünen Merkel deutlich besser (2,2) als ihre Spitzenkandidatin Ramona Popp (1,8). Man könnte daher auch vermuten, dass die Befragten auf die namentlich vorgegebene Abfrage der „Schuld“ das antworten, was sie in der medialen Berichterstattung gehört oder gelesen haben.
Auch die zum Teil massive Kritik an den beiden Spitzenkandidaten von SPD und CDU relativiert sich bei der Betrachtung der Sympathiebewertungen. So wird der Regierende Bürgermeister Michael Müller von den SPD-Anhängern mit dem guten Wert von 3,1 beurteilt. Zudem erhält er von den Anhängern aller anderen Parteien, wieder mit Ausnahme der AfD-Anhänger, positive Bewertungen. Innensenator Frank Henkel, der natürlich keinen dem Regierenden Bürgermeister vergleichbaren Amtsbonus haben kann, wird in den eigenen Reihen mit 2,4 durchaus gut bewertet. Grüne und Linke beurteilen ihre Spitzenleute nicht so gut. Henkels schwache Gesamtbeurteilung ist einmal dem nur kleinen Anteil an CDU-Anhängern geschuldet. Gleichzeitig wird der Spitzenkandidat der CDU von den Anhängern von SPD, Grüne und Linke sehr viel schlechter bewertet als deren Spitzenleute durch die CDU-Anhänger. Aus vielen Untersuchungen ist bekannt, dass die CDU-Anhänger die politischen Gegner stets milder beurteilen, als dies umgekehrt der Fall ist.
Die Verluste der CDU und Gewinne der AfD spielen in der politischen Bewertung der Wahlergebnisse eine weitaus größere Rolle als andere Veränderungen. Monokausal wird dabei die von der Bundeskanzlerin zu verantwortende Flüchtlingspolitik, zugespitzt in dem Satz „ Wir schaffen das“ als Ursache für den Erfolg der AfD angeführt. Ob diese Vermutung überhaupt zutrifft, kann bezweifelt werden. Es ist zwar durchaus plausibel, wenn die Erfolge einer neuen Partei durch Versäumnisse und Fehler der ideologisch am nächsten stehenden Partei erklärt werden. Dass dafür die Rechts-Links-Dimension angeführt wird, auf der die AfD rechts von der CDU eingeordnet wird, ist allerdings problematisch. Die genauere Betrachtung der AfD-Erfolge lässt starke Zweifel aufkommen, ob die Wähler der AfD auf dieser Dimension verortet werden können.
Für die Frage woher die 14,2% der AfD kommen, sind die Ergebnisse der Wahltagbefragung der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF die entscheidende Quelle. Bei der Wahltagbefragung werden Wähler beim Verlassen des Wahllokals unter anderem danach befragt, welche Partei sie gerade gewählt haben und für welche sie fünf Jahre zuvor gestimmt hatten.
Bei aller Vorsicht, welche die Verwendung der Rückerinnerungsfrage für analytische Zwecke gebietet, kann davon ausgegangen werden, dass etwa 20% der AfD-Wähler bei der letzten Abgeordnetenhauswahl CDU gewählt haben, dass genauso viele frühere Wähler von SPD, Linke, Grünen oder Piraten waren und alle übrigen von den anderen kleineren Parteien kommen sowie denen, die 2011 nicht wahlberechtigt waren oder damals nicht gewählt haben.
AfD wählen gegen die Umstände
Man kann natürlich jetzt behaupten, alle früheren CDU-Wähler hätten aus Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik AfD gewählt. In wieweit das zutrifft kann niemand empirisch belegen. Den früheren SPD-Wählern eine ähnliche Motivlage zu unterstellen, wäre aber kaum haltbar, auch wenn die SPD als Koalitionspartner die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung mitgetragen hat. Und warum sollten frühere Wähler der Linkspartei, der Grünen, der Piraten oder der anderer Parteien aus Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik jetzt AfD wählen? Dass diese Wähler die AfD als „rechte“ Partei wahrnehmen, kann ebenfalls bezweifelt werden. Näherliegend ist doch, dass die mehr oder weniger unbedachten Äußerungen von Politikern und Medien der AfD helfen, sich als Protestpartei zu etablieren gegen alle, was einem sachpolitisch oder systemisch nicht passt.
Sehr aufschlussreich ist hier das Ergebnis einer Frage aus der bereits zitierten Befragung kurz vor der Wahl. Auf die Frage, ob sie in ihrem Leben das haben, was ihnen zusteht, sagen 10% aller Befragten, sie hätten mehr als das, darunter besonders viele Anhänger der Grünen. 63% antworteten, sie hätten in etwa das, was ihnen zusteht, während 23% angeben, sie hätten weniger als ihnen zusteht. Unter den Anhängern der AfD sagen 44%, also fast doppelt so viele wie in der Gesamtheit, sie hätten weniger als ihnen zusteht. Im West-Ost-Vergleich wird die Meinung, man habe weniger als einem zustehe, im Westen von 19% und im Osten von 28% geäußert. Die besonders großen Erfolge der AfD im Osten der Stadt, wo bisher auch die Linke vom Protest gegen die etablierten Parteien profitierte, sind daher folgerichtig. Die Linke konnte dort ihre Verluste an die AfD durch die Gewinne von den Piraten kompensieren, was der SPD nicht gelungen ist.
Die Wahltagbefragung ist auch die beste Quelle um die Gewinne und Verluste der Parteien in den demographischen Gruppen zu beschreiben.
Alter: Die ähnlich großen Verluste von SPD und CDU fallen in den verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich aus. Die SPD verliert in allen Altersgruppen 6 bis 8 Prozentpunkte, am meisten unter den älteren Wählern ab 60 Jahre. Die CDU verliert nur wenig unter den Jüngeren (-1) und sehr viel (-11) bei den Älteren. Die Grünen verlieren am meisten bei den Wählern zwischen 30 und 59 Jahren. Die Piraten verlieren in allen Altersgruppen bis 59 Jahre überdurchschnittlich, am meisten unter den Jüngeren (-12). Parallel dazu verlaufen die Gewinne der Linkspartei von +10 bei den jüngeren Wählern bis +1 bei den Älteren. FDP und AfD gewinnen gleichförmig mit zunehmendem Alter der Wähler. Bei der FDP reichen die Gewinne von 3 bis 6 Prozentpunkten, bei der AfD von 8 bis 15,5 Prozent.
Geschlecht: Die SPD verliert bei Männern und Frauen gleich viel. Die CDU verliert bei den Männern mehr (-7) als bei den Frauen (-4,5). Die Grünen verlieren hauptsächlich bei den Frauen (-3). Die Piraten verlieren mehr als 9 Prozentpunkte bei den männlichen Wählern und 5 bei den Frauen. Die Linke gewinnt in beiden Gruppen in etwa gleich viel; gleiches gilt für die FDP. Dagegen schneidet die AfD bei den Männern erwartungsgemäß besser ab (16,9%) als bei den Wählerinnen (10,6%). Neue Parteien werden von Männern meist etwas häufiger gewählt als von Frauen. Auch 2011 waren die Piraten überwiegend von Männern gewählt worden.
Fazit und Ausblick: In Westdeutschland lösen sich die traditionellen Milieus, in denen die beiden großen Parteien CDU (CSU) und SPD bisher einen besonders starken Rückhalt hatten, immer mehr auf. Noch gibt es diese Milieus, ihre Bedeutung als „Heimat“ der Stammwähler der Volksparteien wird aber durch den unumkehrbaren säkularen Trend ihrer Auflösung immer kleiner. Immer mehr Wähler werden dadurch zu potentiellen Wechselwählern, die bei Ereignissen mit entsprechender Signalwirkung ihr Wahlverhalten ändern können. Bei Landtagswahlen fällt vielen Wählern der Wechsel zu einer anderen Partei oder auch in die Wahlenthaltung leichter als bei Bundestagswahlen, weil sie diese für politisch wichtiger halten. In den neuen Bundesländern gab es für die westdeutschen Parteien solche Milieus nicht. Nur die in Linke umbenannte PDS kann sich als Nachfolgepartei der SED noch auf vergleichbare Strukturen stützen.
Das Berliner Wahlergebnis mit nun sechs Parteien im Abgeordnetenhaus und einer, die daraus ausgeschieden ist, ist durchaus typisch für eine wechselbereite, urban geprägte Wählerschaft, in der sich die West-Ost-Unterschiede nach wie vor zeigen. Berlin ist nach Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt das dritte Bundesland, in welchem CDU und SPD auf Grund der Erfolge der AfD keine Mehrheit mehr haben.
Ob die AfD in diesem Parteiensystem auf Dauer einen Platz hat, kann aus heutiger Sicht nicht beantwortet werden. Nach der Abgeordnetenhauswahl von 2011 hätten wohl auch nur wenige auf ein so desaströses Ausscheiden der Piraten bei dieser Wahl gewettet. Dass CSU und CDU, die mit der Flüchtlingsproblematik verbundene Auseinandersetzung so weiterführen, ist bei aller Irrationalität, die diesen Streit kennzeichnet, nicht zu erwarten. Das wichtigste Thema der AfD wird daher an Bedeutung verlieren. Sicherlich lässt sich ein wieder anderes Thema finden, das die etablierten Parteien übersehen oder ignoriert haben. Die AfD hat ja schon einmal einen Themenwechsel geschafft. Für die Persistenz im Parteiensystem müsste sie aber ein Thema finden, das zum gesellschaftlichen Wertekanon gehört, wie das die Grünen, ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahin gestellt, mit Umweltschutz erreicht haben. Zweifel am dauerhaften Verbleiben der AfD im Parteiensystem sind daher angebracht.