Ein neues Narrativ beherrscht den öffentlichen Diskurs. Progressive Journalisten und Politiker, grüngewendete Aktivisten und Profiteure der von der Kanzlerin anberaumten „Großen Transformation“ wiederholen es mantraartig. An der Speerspitze der Bewegung hat es Greta Thunberg jüngst im Gespräch mit ihrer deutschen Kollegin Luisa Neubauer betont. Deutschland sei ein „großer globaler Akteur, wenn es um den Klimanotstand geht“, und es habe „nicht nur eine große Chance, sondern auch eine große Verantwortung und eine historische Schuld zu begleichen“. Zudem sei Deutschland unter den Top 4 der historischen CO2-Emittenten. Deutschland, nunmehr neuerlich angeklagt, dieses Mal wegen seiner historischen Klimaschuld – Vergangenheitsbewältigung mal anders.
Mit der Verteufelung der Industrialisierung eröffnet sich demnach ein lohnendes Feld. Denn der rasante Fortschritt im Zuge der Industrialisierung, Urbanisierung und Expansion Europas und der USA ermöglicht es, nunmehr doch eine gemeinsame Klammer zu finden, um die gesamte westliche Zivilisation mit einem Schlag abzukanzeln. Der „weiße Mann“ hat demnach nicht nur die Welt ausgeplündert und unterjocht, sondern ist der Hauptschuldige in der apokalyptisch wahrgenommenen „Klimakrise“. Er wird damit in seiner Funktion vom Bösewicht zum Erzbösewicht befördert; denn er hat sich nicht nur gegen seine Mitmenschen versündigt, sondern gegen die von der Klimajüngerschaft als transzendent wahrgenommene Mutter Erde. Wo immer er seinen Fuß hingesetzt hat, hat er geplündert, statt gegeben; hat er zerstört, statt geschaffen; hat er geknechtet, statt befreit.
Wie sieht es denn nun aus mit dem Urteil des Jüngsten Gerichts, das die CO2-Richter verhängt haben? Die nackten Zahlen geben Thunberg und Neubauer recht. Bemüht man die Statistiken von „Our World in Data“, dann sind die fünf Staaten, die seit 1750 am meisten CO2 in die Luft geblasen haben, folgende (Gesamtanteil in Prozent): die USA mit 478 Milliarden Tonnen (24,5 Prozent), China mit 236 Milliarden Tonnen (13,9 Prozent), Russland mit 115 Milliarden Tonnen (6,8 Prozent), Deutschland mit 92 Milliarden Tonnen (5,5 Prozent), das Vereinigte Königreich mit 78 Milliarden Tonnen (4,6 Prozent).
Allerdings fällt bereits bei diesen Daten auf: Nicht nur die Spanne zu den USA, sondern auch die zu China ist beträchtlich. Nicht nur aktuell, sondern auch historisch ist die CO2-Last der beiden Supermächte so groß, dass beide Länder zusammen mehr als ein Drittel aller historischen Gesamtemissionen ausmachen. Durch die simple Nennung der „Top 4“ evozieren die Aktivisten von „Fridays for Future“ das Bild eines besonders schmutzigen Deutschlands, ohne auf die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Top 5 einzugehen. Ginge es Neubauer tatsächlich um eine „historische Schuld“ wäre es zielführender, mit dreifachem Einsatz in China und mit fünffachem Einsatz in den USA zu protestieren.
Zudem ist es problematisch, sich auf eine „Historische Schuld“ zu kaprizieren, wenn der historische Vorgang nicht abgeschlossen, sondern ein gegenwärtiger und zukünftiger Prozess ist. Während die CO2-Emissionen in den klassischen Industriestaaten rückläufig sind, steigen die Werte der ehemaligen Entwicklungs- und Schwellenländer. Das wird insbesondere bei China deutlich, das noch auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Expansion steht, und dessen weitere Entwicklung – auch angesichts der gegenwärtigen Energiekrise – nicht in Stein gemeißelt ist. Erst ab 2030 hat sich China selbst seine „Spitze“ beim CO2-Ausstoß verordnet. Bei einem – derzeitigen! – jährlichen Ausstoß von rund 10 Milliarden Tonnen wären daher zusätzliche 100 Milliarden Tonnen an historischer CO2-Last zu erwarten, indes die europäischen Anteile Jahr für Jahr sinken.
Die Zuweisung des „Schwarzen Peters“ in der Klimafrage ist demnach nur eine Momentaufnahme, je nachdem, ob man im Jahr 2000, 2020 oder 2040 lebt. Statt die Altlasten zu beklagen, wäre es deutlich sinnvoller, die CO2-Belastung der Zukunft zu vermindern. Aber offensichtlich lässt es sich in Beijing nicht so gut protestieren wie in Berlin.
Es stimmt, dass Deutschland in seiner Pro-Kopf-Wertung bei Emissionen deutlich schlechter dasteht als beispielsweise Indien, China oder sogar das Vereinigte Königreich. Aber auch bei diesem Argument gibt es einige Faktoren zu beachten. So wird der Bundesrepublik auch der Ausstoß der DDR angerechnet. Der sozialistische Staat kümmerte sich deutlich weniger um Umweltfragen als die Bundesrepublik und bedeutet damit eine klimatechnische Hypothek, die von Gesamtdeutschland erst im Nachhinein durch Modernisierung bewältigt werden konnte.
Die Berechnung „pro Kopf“ hat allerdings ihre Tücken, weil sie einerseits beansprucht, eine besonders gerechte Darstellung der Klimaschuld zu sein, aber kleinere Länder benachteiligt, die einen Grundaufwand an CO2 zum Funktionieren der eigenen Gesellschaft benötigen. Richtigerweise betont sie etwa die übermäßige CO2-Produktion von Ländern wie Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, Bahrain, Kanada und Australien, doch zu den Spitzenstaaten bei einer rigiden Pro-Kopf-Berechnung zählten auch Länder wie Neukaledonien, die Mongolei, Trinidad und Tobago, Brunei, Curacao oder die Färöer.
Den wichtigsten Punkt, den die Spätgeborenen der letzten Phase der Industriellen Revolution nicht anerkennen wollen, ist jedoch nicht numerischer Natur. Die Ideologie der Klimakrisen-Jünger schaut auf die nackten Zahlen, verschließt aber die Augen auf die gesamtheitliche historische Entwicklung und ihren Kontext. Sie machen das Britische Empire und das Deutsche Reich samt seiner Nachfolgestaaten für einen Zustand verantwortlich, für den es in der Vergangenheit schlicht keine Alternative gab. Kohle war die einzige effiziente Energiequelle von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Was wäre die Alternative zu Kohle gewesen?
Hätte die europäische Gesellschaft weiter das Köhler- und Hüttenwesen der Frühen Neuzeit betrieben, wären große Teile der Welt komplett entwaldet worden. Einen Vorgeschmack darauf bieten Eifel-Gemälde des 18. Jahrhunderts, die eine den schottischen Highlands entsprechende Hirtenlandschaft zeigt. Die Köhler hatten bereits damals das komplette Mittelgebirge zugunsten des Bergbaus zu Holzkohle verarbeitet. Die „Holznot“ hatte bereits in der Sattelzeit ökonomische wie soziale Konsequenzen, weil Bau- und Feuerholz besonders für ärmere Schichten immer teurer wurde. Die Unmenschlichkeit der vermeintlichen Weltverbesserer zeigt sich demnach nicht nur am völligen Desinteresse am Schicksal der heutigen Unterschichten, sondern auch an der Ausgangssituation der damals Ärmsten der Welt: Hätten sie doch nur keine Kohle verbrannt, dann ginge es uns heute besser. Dass dies den Kältetod für die Ärmsten der Armen bedeutet hätte, spielt in den großen Plänen keine Rolle.
Dass die Industrialisierung, der damit wachsende Wohlstand, der rasante Fortschritt des 19. Jahrhunderts, die Entdeckungen auf den Feldern der Chemie, Physik und Medizin in diesem Umfang wohl in letzter Instanz ohne Kohleverbrennung nicht möglich gewesen wären, ist eine Binsenweisheit, die wohl auch den Klimaschwestern bekannt sein dürfte. Was aber noch wichtiger ist: Auch die umweltfreundlichen, effizienteren Energietechnologien wären ohne diesen Prozess nicht möglich gewesen. Und hier bricht das Kartenhaus einer klimatischen Schuld zusammen: Im Gegensatz zu den alten Industrieländern, die diese erst entdecken mussten, standen sie den Entwicklungsländern von Anfang an zur Verfügung.
Man sollte demnach nicht nur von Klimaschuld reden. Sondern vor allem von Klimaverantwortung. Und letztere hängt deutlich mehr von verpassten historischen Chancen und falschen historischen Entscheidungen, denn von historischen Zwängen ab. Der Ausstieg aus der Kernkraft wäre demnach Deutschland deutlich stärker anzulasten als die Kruppwerke der Kaiserzeit. Aber das gehört zu den historischen Kapiteln, die man dann doch lieber schließt. Sie könnten feste Weltbilder irritieren.