Der Umgang der Bundesregierung mit dem Angriff Aserbaidschans auf das Nachbarland Armenien gehört zu den großen Offenbarungseiden des Auswärtigen Amtes unter Annalena Baerbock. Man muss sie nicht groß analysieren und interpretieren; es reicht, daran zu erinnern, wie hoch die Ansprüche der Außenministerin an sich selbst sind – und wie sie plötzlich zusammenschrumpfen, wenn ein christliches Land von einem muslimischen Nachbarn überfallen wird, das obendrein zu den wenigen Demokratien der Region zählt. Denn Aserbaidschan ist nach dem Ausfall Russlands nun unser neuer „vertrauenswürdiger Partner“ (Ursula von der Leyen).
TE hatte bereits in der Vergangenheit den Finger in die Wunde gelegt. Nachdem das Auswärtige Amt wie schon beim Angriffskrieg 2020 paralysiert war, stellt TE eine Presseanfrage. Das Auswärtige Amt hat sie bis heute unbeantwortet gelassen. Baerbock schwieg. Tage nach dem Angriff Aserbaidschans konnten Pressevertreter Christian Wagner zur Causa Armenien stellen.
Während zum selben Zeitpunkt amerikanische wie auch französische Vertreter den Angriff klar verurteilten und auf mehr als nur Hörensagen verweisen konnten, wollte die Bundesregierung sich dieser Sicht nicht anschließen. Wagner erweckte den Eindruck, dass alles, was das Auswärtige Amt nicht selbst feststellte, auch nicht der Realität entsprechen konnte. Offenbar ist die Leitung zu den Kollegen im Wirtschaftsministerium kurz.
Doch auch danach machte die Behörde einen mehr als nur traurigen Eindruck. Fast eine Woche später gibt es immer noch keine offizielle Stellungnahme, Journalisten müssen weiterhin aus den Pressesprechern den Standpunkt der Bundesregierung herauskitzeln. Wieder die Nachfrage, ob Deutschland den Angriff Aserbaidschans verurteilt, dieses Mal an Andrea Sasse. TE dokumentiert an dieser Stelle das Protokoll vom 19. September:
SASSE: (…) Es ist so, dass dieser armenisch-aserbaidschanische Konflikt eine sehr lange Vorgeschichte hat und sehr komplex ist. Wir sind besorgt über die Spannungen zwischen den beiden Ländern. Ich möchte allerdings ergänzen, dass es seit der vergangenen Woche, als Sie hierzu mit Herrn Wagner im Gespräch waren, durchaus auch eine Beruhigung der Situation gegeben hat. Diese Beruhigung der Situation und auch die Einstellung der Kampfhandlungen begrüßen wir an dieser Stelle ganz ausdrücklich. (…)
ZUSATZ: Ich verstehe es so, dass die Bundesregierung immer noch nicht weiß, wer dort wen angegriffen hat.
SASSE: Ich habe Ihnen gesagt, dass das ein sehr komplexer Konflikt ist, der immer wieder eskaliert und immer wieder zu Spannungen zwischen den Konfliktparteien führt, und dass es jetzt darum geht, die Waffenruhe, die seit letzter Woche besteht, zu halten, und dann in diplomatischen Bemühungen mit beiden Konfliktparteien zu einer langfristigen Lösung des Konflikts beizutragen.
FRAGE: Frau Sasse, ich bitte, die Frage zu beantworten. Sieht die Bundesregierung mittlerweile Aserbaidschan als für diesen aktuellen Angriff ‑ man kann ja nicht sagen, alles habe eine komplexe Geschichte ‑ verantwortlichen Angreifer an, wie Frau Pelosi es tut? (…)
SASSE: Wir vertreten hier die Linie bzw. Haltung der Bundesregierung. Was die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses in dieser Frage und zu diesem Konflikt sagt, ist ihre Angelegenheit. Ich habe Ihnen die Position der Bundesregierung an dieser Stelle geschildert.
Ich kann Ihnen vielleicht, damit Sie auch wissen, dass uns das, was da vor Ort passiert, natürlich nicht kalt lässt, an dieser Stelle sagen, dass uns die Eskalation der vergangenen Woche, die, wie gesagt, jetzt gerade in einer Waffenruhe kulminiert ist, die hoffentlich hält, natürlich Sorge macht. Wir haben auch einen Beschuss ziviler Infrastruktur feststellen müssen. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen. All das nehmen wir zur Kenntnis, und das lassen wir natürlich in unsere Bemühungen einfließen. (…)
ZUSATZFRAGE: Der Angriff wurde auf armenisches Kerngebiet geführt, also nicht auf Bergkarabach, sondern auf armenisches Kerngebiet. Hat Aserbaidschan damit die territoriale Integrität Armeniens verletzt?
SASSE: Das geht wieder auf Ihre Grundsatzfrage nach der Schuld dieser jüngsten Eskalation zurück, und dazu habe ich unsere Haltung deutlich gemacht. (…)
Wir halten fest: Mit der Geschwindigkeit, mit der die Bundesregierung nach dieser Darstellung Angriffe auf Nachbarländer feststellt, hätte sie sich ein, zwei Monate Zeit lassen können, bevor sie den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilte. Mit dem feinen Unterschied, dass Deutschland immer noch keinen Aggressor benennen will – und auch den Ukraine-Vergleich nicht gelten lässt. Wieder Zitat aus dem Protokoll:
FRAGE: Herr Hebestreit, Sie haben ja in Bezug auf die Ukraine und Russland völlig zu Recht gesagt, dass man diesen Angriff nicht hinnehmen könne. Warum nimmt man dann jetzt den Angriff Aserbaidschans auf Armenien hin?
HEBESTREIT (BReg): Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich! Ich würde Sie und uns eigentlich davor schützen wollen, wenn Sie den völkerrechtswidrigen Überfall mit, glaube ich, mehr als 100.000 Soldaten auf die Ukraine mit dem furchtbaren Vorgehen, das jetzt zwischen Aserbaidschan und Armenien passiert ist, gleichsetzen wollen. Davor würde ich massiv warnen.
Natürlich kann man unter diesen Umständen den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht mit dem Kaukasus-Konflikt vergleichen: Aserbaidschan ist keine Großmacht mit 140 Millionen Einwohnern, ohne atomares Arsenal, ohne Marine und auch mit einem vergleichsweise überschaubaren Heer. Der für alle offensichtliche Knackpunkt, nämlich der Völkerrechtsbruch, wird dabei plump umgangen. Aber das ist das Niveau, auf dem die Bundesregierung in diesem Fall argumentiert. Und zwar nicht nur in diesem Fall. Am 10. Oktober geht es wieder um Armenien und Aserbaidschan, neuerlich spricht Wagner für das Auswärtige Amt:
FRAGE: Bezweifelt das Auswärtige Amt oder entspricht es Ihrem Kenntnisstand, dass in diesem Fall die Verschärfung des Konflikts durch den Einmarsch aserbaidschanischer Truppen nach Armenien erfolgte? Bezweifeln Sie das, oder ist das auch Ihr Kenntnisstand?
WAGNER: Wir haben uns ja zu dem Konflikt oder den Kampfhandlungen, die dem Waffenstillstand, über den wir gerade gesprochen haben, vorausgingen, hier schon länglich eingelassen. Insofern habe ich dem nichts hinzuzufügen.
FRAGE: Bisher haben Sie ja nicht gewusst, von wem Armenien angegriffen wurde. Es ist ja eindeutig, dass Aserbaidschan auf armenisches Gebiet vorgestoßen ist. Haben Sie das mittlerweile anerkannt und räumen Sie das ein, oder tun Sie immer noch so, als ob das Gefechte zwischen beiden Seiten sind?
WAGNER: Das ist ja nicht ganz richtig. Wir haben uns ja breit zu dem Konflikt eingelassen und haben ‑ ich habe in der Erinnerung nicht genau präsent, wann es war, aber es war letzte Woche – uns auch zu den Videos eingelassen, die in den sozialen Medien zu sehen waren, in denen es offensichtlich zu Übergriffen auf armenische Soldaten durch aserbaidschanische Truppen kam, und wir haben das auch verurteilt. Insofern mache ich mir Ihre Bewertung da nicht zu eigen, dass wir dazu keine Bewertung abgegeben haben.
ZUSATZFRAGE: Aber Ihre Bewertung, dass Sie eben nicht anerkennen, dass Aserbaidschan der Aggressor ist, steht ja stark in der Kritik. Das tun Sie weiterhin nicht, korrekt?
WAGNER: Sie kritisieren meine Bewertungen. Aber ich habe zu dem Konflikt jetzt hier nichts Weiteres zu sagen. Ich verweise auf das, was wir hier ohnehin schon gesagt haben.
Auch das ist Ausdruck des Verlusts geopolitischer Souveränität: Weil man seine eigene Energiesicherheit zerschossen hat, muss man selbst gegenüber einem Regime wie Aserbaidschan aufpassen, welchen Ton man anschlägt. Schließlich steht der Elefant der Gasabhängigkeit im Raum. Schlüge man ein Lexikon der diplomatischen Begriffe auf, so fände sich dort unter dem Eintrag „außenpolitische Selbstdemütigung“ ein Foto der Bundesrepublik Deutschland.