Vier Monate hat man die Füße still gehalten und meint nun erfreut feststellen zu müssen, dass die „Wiedereinreisesperre“ von Horst Seehofer ja überhaupt nichts bewirke. Die ganze Aufregung, vom Asylstreit in der Union, bis hin zum Aufstand gegen Angela Merkel, also scheinbar vergeblich, ein vierfacher Anlass, aufzutrumpfen: Offene Grenzen doch kein Problem, Kontrollen überflüssig, der Ruf der Kanzlerin wiederhergestellt, die ganze „rechte Asylpanik“ nur ein Sturm im Wasserglas.
n-tv motzt „…nur drei Fälle in vier Monaten…..an der deutsch-österreichischen Grenze würden nur wenige Migranten aufgrund einer Wiedereinreisesperre zurückgewiesen…. Zwischen 19. Juni und dem 17. Oktober habe es nur 89 solcher Fälle gegeben…und unter denen seien sogar nur drei gewesen, in denen der Betroffene erfolglos einen Asylantrag gestellt hätte…“.
Das Nachrichtenportal zitiert Burkhard Lischka (SPD), der der Funke Mediengruppe gegenüber geäußert hatte: „die Rückführungszahlen seien hier „selbst hinter pessimistischen Prognosen“ zurückgeblieben. Zudem habe Seehofer schon vor einem Monat einen Vertrag mit Italien als unterschriftsreif bezeichnet… doch bis heute fehlten die Unterschriften der Italiener – von einem Inkrafttreten ganz zu schweigen“.
Aber hier irrt n-tv. Man mag von den Auftritten Seehofers halten was man mag, aber eine Überzeugung scheint bei dem Minister offenbar tief eingesunken zu sein: Es geht um einen Paradigmenwechsel in einem Spiel, dessen Regeln man auch nach dem Tabubruch des Sommers 2015 kaum verstanden hatte und deshalb auch nicht zu kontrollieren in der Lage war. Fremde machten die Regeln, man war gezwungen mitzuspielen.
Die Schlepper, die vielen afrikanischen und asiatischen Einflüsterer, die Netzwerke aus Hörensagen und Gerüchten, und nicht zuletzt eine europäische Allianz aus gutmeinenden, allzu toleranten und geschwätzigen politischen Leichtgewichten, spielten eine betörende Hintergrundmusik: Das Land, wo reichlich Milch und Honig fliessen, zum Greifen nahe, ein paar tausend Dollar reichen und ein Vielfaches wird der Lohn sein. Europa wurde mit Engelszungen sturmreif geplappert, die Spatzen pfiffen es von den Bäumen: Jetzt oder nie, auf in eine neue Welt.
Das haben Männer wie Seehofer, genau wie Kurz, Orban, Babis und vor allem Salvini verstanden. Europa steht heute vor der harten Aufgabe, die Mär vom gelobten Land, geschaffen aus tausend scheinbaren „Erfolgsgeschichten“ Angekommener und Geduldeter, nun Stückchen für Stückchen zu widerlegen und einzuordnen, die hundertausendmal in den sozialen Medien der 3. Welt geteilten Märchen zu entzaubern. Für diese Erkenntnis, und vor allem die Konsequenz, diesen neuen Kurs gegen alle Stürme der Entrüstung durchzuhalten, gebührt ihnen tatsächlich Dank.
Der goldene Westen hat nicht ansatzweise verstanden, wie der Geflüchtete tickt oder möchte es nicht wahrhaben. Weil viele Migrationsmotive denen ähneln, die unsere Vorfahren nach Amerika lockten?
Udo Jürgens hat sie bereits 1982 in aller Tiefe besungen, diese Lust auf Änderung, den Überdruss am alten Trott: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii, ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans… Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei… einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen…“ und der Fliehende von heute braucht in seinen zerrissenen Hosen nicht mal mehr einen Pass oder die Eurocard dazu.
Bevor man den Schleuserpreis ( „Für 4.000 Euro nach Spanien“, Morgenpost v. 24.10.18) bezahlt, hat man das Leben in den überforderten, überbevölkerten Staaten irgendwo im afrikanischen, südamerikanischen oder asiatischen Niemandsland völlig satt. Dazu verurteilt, täglich das zuckersüsse Glück, die Übersättigung und Selbstzufriedenheit Europas und Nordamerikas auf kleinen Bildschirmen vorüberflattern zu sehen. (In Burkina Faso, dem “Land der ehrlichen Männer“, laut World Food Programme eines der ärmste der Welt, funktioniert vieles nicht, aber es gibt ein belastbares Mobilfunknetz.)
Die so gerne zitierte Suche nach dem „besseren Leben“ ist aber eine absichtliche Verniedlichung. Es geht dabei vielmehr, ausgehend von dem unterirdischen Ausgangspunkt vieler Fluchten in den goldenen Westen, in Wirklichkeit um die Erfüllung des Traums auch jeden Europäers: Tellerwäscheraufstieg innerhalb einer Dreitagesreise.
Viele in Europa werden sich primitive Neidgefühle angesichts der Fluchtbewegungen ungern eingestehen; die Reisenden erhalten unter Einsatz relativ bescheidener Mittel (lebensgefährliche Routen ausgenommen) eine Bereicherung, die in Geld nicht aufzuwiegen ist: Zugang zu funktionierender Infrastruktur, einem Sozialsystem, hochtechnisierter Medizin, Bildung – und nicht weniger wertvoll: Freiheit vor Gängelung, Ausbeutung und Willkürherrschaft in den Herkunftsländern. Und ja: Damit verbunden auch Frieden und die Freiheit sich in Gesellschaften zu bewegen, in denen der friedliche Ausgleich, unter Anwendung eines erprobten Rechtssystems, die Norm darstellt. Zahllose, nicht nur Gaumenfreuden und anderer eitler Tand, runden die Versuchung ab.
Todsünde: sich unter Wert verkaufen
Die Sünde der Gutmeinenden, die den Zorn der Gegner dieser Wanderungsbewegungen in grenzenlos überlegene Systeme noch anfacht, ist die herablassende Selbstverständlichkeit, mit der man den Neuzugängen aus den zerrütteten und verarmten Teilen der Welt die teuren Segnungen dann „gratis“ vor die Füsse kippt. Ungewollter Nebeneffekt: Diese Lässigkeit, die so großzügig und liberal erscheinen soll, ist geeignet, alle Bereicherungen in den Augen vieler Empfänger gleich wieder abzuwerten.
Die Möglichkeit, ganz neu anzufangen. Mit einem neuen Namen, vielleicht mit dem ersten richtigen Namen, dem ersten Ausweis überhaupt. Mit einem Job, auch wenn es bedeutet, nur zu kellnern oder zu putzen. Viele hatten zu Hause nicht einmal die Chance, Teller zu waschen – tagtägliches Däumchendrehen war angesagt. In Europa winkt dagegen der Luxus einer eigenen Wohnung, jeder Etagenschlafplatz in einer Turnhalle ist oft mehr, als man sich jemals im Herkunftsland erträumt hätte. Europäische Parlamentarier können das nicht verstehen – Ausschussreisen führen selten durch Elendsviertel.
Besonders unbeliebt: Kassandrarufe in der Wüste
Es gab die Festung Europa nie. Die Tore standen immer weit offen. Erst 2015 hat man das seitens der Schleuser bemerkt und sofort rücksichtslos ausgenutzt.
Die wenigen europäischen Politiker, die nun bereit dazu sind, die Träume aller Wanderungsbereiten zum Platzen zu bringen, die erstmals seit Jahren wieder den Versuch wagen, die hohle Floskel von der Festung Europa mit Fakten zu untermauern, stehen deshalb als Spielverderber der übelsten Sorte da. Niemand mag sie, denn sie reißen nicht nur die Wolkenkuckucksheime der Migrationsbereiten ein, sondern auch die Gespinste derer, die meinen, die Welt durch Umschichtung und Schaffung einiger „Glückspilze“ besser und schöner zu machen. Die sich bei jeder geglückten illegalen Einreise an der zweifelhaften Freude ergötzen, dass wiedermal ein Pechvogel einen Hauptgewinn ziehen durfte.
Horst Seehofers Signale weisen in die richtige Richtung: Wir passen auf. Wir wissen, wo die Grenze liegt. Wir lassen uns nicht überfahren und es liegt uns etwas daran, unsere Grenzen zu beobachten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn das dazu führt, dass nun der erste Schleuser seinen Laden in Nordafrika schließen muss, wenn Boote wieder zum Fischfang benutzt werden, wenn die Söhne afrikanischer Bauern, Handwerker und Viehzüchter ihre Energien wieder der eigenen Wirtschaft zuwenden, wenn die hasardischen Fahrten über das Mittelmeer aufhören, dann werden endlich viele falsche Träume verabschiedet – auch in Europa.