Der frühere Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble prägte den Satz, dass eine Abschottung Europas den Kontinent „in Inzucht degenerieren“ ließe. Schäuble schwebte dabei wohl auch der kulturelle und innovative Aspekt vor. Die abendländische Kultur hat in ihrer Geschichte ausgezeichnet, dass sie sich immer wieder am kulturellen und technologischen Erbe anderer – im Falle der römisch-griechischen Zivilisation sogar an verstorbenen – Zivilisationen inspiriert hat und anschließend eigene, kreative Wege fand, diese Errungenschaften auf eine neue Höhe zu stellen.
Neben dem biologischen, materiellen Inzest existiert demnach auch ein geistiger. Der kulturelle Inzest zeichnet sich durch die mangelnde Interaktion und den damit fehlenden fruchtbaren Austausch aus. Dafür muss man nicht global oder zivilisatorisch denken. In Deutschland grassiert dagegen eine andere Form des Inzests, eine Spielart des kulturellen Inzests, die sich bei jeder Konfrontation mit ihm offenbart: Es grassiert eine Form des intellektuellen Inzests.
Ihr liegt die Verweigerungshaltung gegenüber andersartigen Gedanken zugrunde. Sie sind nicht nur politischer Art. Es wäre zu einfach, im bestehenden Kulturbetrieb einen bloßen Ausschluss konservativer, reaktionärer oder rechter Geisteshaltungen sehen zu wollen. Eine Reihe von Codes und Regeln prägt in einer sektenhaft anmutenden Art und Weise den Kreis der Auserlesenen, zu denen etwa der „Gender-Gluckser“ gehört, mit dem jeder Anwesende offenbart, ob er dazu gehört oder nicht. Wer dagegen in bestimmten Verlagen publiziert, der gilt als verdächtig; wer aber in bestimmten Sendungen auftritt, darf sich zum Juste Milieu zählen. Solche Prozesse liegen in der Natur des Menschen. Sie werden allerdings problematisch, wenn die selbstgesteckten Ansprüche nicht erfüllt werden und insbesondere der Kulturbetrieb nur noch Wiederholungen, Kitsch oder abgeschmacktes Erziehungsprogramm ausschüttet.
Weltoffenheit wird eng, wenn man glaubt, sie erreicht zu haben
Die vermeintliche Originalität ist immer derselbe „woke“ Aufguss. Kritisches Denken über Staat, Demokratie und Gesellschaft erfolgt vornehmlich nach den Mustern sozialistischer, linksökologischer bzw. antikapitalistischer Kritik, die dabei häufig den hedonistisch-konsumorientierten Diskurs nicht verlässt; selbst das anarcho-syndikalistische Stichwort, dass sämtliche Polizisten „Bastarde“ seien (ACAB), ist zur Seltenheit in einem staatstreuen Diskurs geworden, in dem die Linke in Anbetracht von „Spaziergängen“ ihre Liebe zu Polizei und Autorität entdeckt hat.
Wokeness kann eine gute Story nicht ersetzen
So feiert man jeden Wurf, der möglichst eine nicht-europäische Ethnie oder ein neues Geschlecht in den Mittelpunkt stellt, wobei die Story keine Rolle spielt; da kommt die hundertste Wiederholung eines Tatorts, eines Fernsehfilms oder auch eine Serie daher, die nicht die Unterhaltung, sondern die Belehrung des Zuschauers in den Mittelpunkt stellt. Hätte die Romantik mit ihren Sehnsuchtsgedanken und mittelalterlicher Verherrlichung so übertrieben, man hätte die ganze Strömung nach zwei Jahren begraben müssen, weil sie sich so unausstehlich präsentierte.
Kein Zufall, dass in den USA eine Chevrolet-Werbung zur Weihnachtszeit die größte Aufmerksamkeit erfuhr, da sie sich im Gegensatz zu der von anderen Konzernen nicht auf eine möglichst bunte Festgesellschaft mit altbekannter Botschaft, sondern auf das konzentrierte, was einen Clip einprägsam macht: eine Geschichte, in dem Fall die eines Witwers und seiner Tochter.
Historisch beginnt der Weg mit jenem Modus der gegenseitigen Empfehlung, wie er beispielhaft an den Universitäten der Nachkriegszeit geschah. Viel ist dran an der Erzählung, dass konservative Professoren auch liberale und linke Studenten zu ihren Assistenten machten, ganz im Sinne der fairen Beurteilung nach Leistung, teils auch der geistigen Herausforderung. Andererseits beförderten aber linke Professoren vornehmlich ihre Gesinnungsgenossen. Der akademische Betrieb war keine Ausnahme – und das Beispiel ist umso aussagekräftiger, wenn man in der Akademie den eigentlichen Kern geistiger Freiheit sehen will. Das „Netzwerk Universität“ hat sich in großen Teilen des Kulturbetriebes dupliziert (und nicht nur in Deutschland). Nach mehreren Generationen ist aber der Geist ausgelaugt, herrscht Kopie, herrscht Ödnis.
Ein Preis für Böhmermann, weil er ihn nicht verdient hat
In der Alltagskultur hat die richtige Haltung einen solchen Stellenwert bekommen, dass ihre Vertreter überrumpelt sind, wenn sich ihnen ein dinosauriergroßes Unterhaltungstier wie Harald Schmidt gegenüber aufbäumt. Ein NZZ-Interview mit dem letzten König deutscher Fernsehunterhaltung irritierte so sehr, weil die Mentalität der 1990er und 2000er Jahre, Leute der Unterhaltung wegen zu unterhalten, gänzlich verlorengegangen ist. Schmidt gehört zur Kategorie des Entertainers, der für einen guten Gag seine Großmutter und sich selbst verkauft. Der linke Kulturbetrieb versteht ihn nicht mehr, verwirrt darüber, dass er keine Botschaft, keine Mission, keinen Erziehungsauftrag gegenüber dem Publikum hat.
Der Mythos Harald Schmidt lebt auch nach 20 Jahren weiter
So wird jedes Statement von Schmidt entweder als unterschwellige Corona-Politik, arkane Andeutung über seinen Impftstatus oder als Bekenntnis zum katholischen Konservatismus gedeutet. Die Kunst Harald Schmidts, sich als Figur zu verkaufen, während keiner weiß, wer er wirklich ist, hat keinen Platz mehr in einer Welt, in der ja gerade der Verkauf der eigenen „woken“ Tugendhaftigkeit als größtes Faustpfand gilt. Kein Witz: Es gibt Journalisten, die halten Schmidts Äußerungen für gefährlich.
Aber Schmidt stand früher nicht nur für den Late Night Talk, sondern auch für ein Quotenproblem. Konkurrenzveranstaltungen machten sich oft über das Schmidt-Format lustig, etwa als die Wochenshow – damals ebenfalls bei Sat1 – den Showmaster mit den „Dicken Kindern von Harald Schmidt“ (eine Parodie auf Schmidts „Dicke Kinder von Landau“) aufzog, dass „Papa nicht mehr quotet“. Schmidt äußerte später süffisant, er mache die Show sowieso fast nur noch für sich selbst. Auch in der ARD war die Show dafür bekannt, im Laufe der Zeit immer mehr an Zugkraft zu verlieren. Der Wechsel ins Bezahlfernsehen (2012) war eine einzige Katastrophe. Nur 5.000 Zuschauer wollten Schmidt bei Sky zusehen.
Dennoch haben insbesondere die Sendungen aus der Sat1-Zeit und Schmidt selbst einen ungewöhnlichen Nimbus behalten. Nicht die Langatmigkeit mancher Sendung oder Schmidts Lustlosigkeit im Verlauf der eigenen Karriere sind im Gedächtnis hängen geblieben, sondern die brillanten Geniestreiche. Der Mythos Harald Schmidt lebt bis heute in den Köpfen des Zuschauers weiter, obwohl die vermeintliche „gute, alte Zeit“ beinahe 20 Jahre zurückliegt.
Sehnsucht nach „TV Total“ und „Wetten dass..?“ – reine Nostalgie?
Beim Pro7-Kollegen Stefan Raab herrscht ein ähnliches Vakuum: Was sagt es über den Status der Fernsehunterhaltung aus, wenn eine Sendung wie „TV Total“ wiederbelebt wird, obwohl der eigentliche Kern, nämlich der Moderator, fehlt? Und wie kommt es, dass eine totgesagte Sendung wie „Wetten dass..?“ plötzlich wieder Anhänger hat? Die Sehnsucht nach einer verklärten Vergangenheit ist so stark, dass man allein bei der Erinnerung daran aufjauchzt. Das wäre so, als holte Sat1 die Harald-Schmidt-Show zurück, aber eben nur mit Helmut Zerlett und Manuel Andrack. Es steht zu befürchten, dass bereits ein solches Konzept Erfolg haben würde.
Mit Neid muss man auf die Sendung „Zur Person“ aus den 1960er Jahren schauen. Nicht nur, weil es kein solches Format mehr gibt; nicht nur, weil es auch keinen Moderator wie Günter Gaus gibt; sondern auch, weil es keine Gäste mehr gibt. Gustaf Gründgens, Hannah Arendt, Golo Mann – wer hätte heute noch Vergleichbares zu sagen? Was wird im Gegenzug von Robert Habecks und Richard David Prechts Philosophiestunden, was an Szenen aus Böhmermanns Sendung in Erinnerung bleiben? Letzterer lebt bis heute nicht von einem künstlerischen Erfolg, sondern einem politischen Skandal.
Mehr Preise für weniger Substanz
Man muss daher kein Kulturpessimist sein, um zu diagnostizieren, dass sich etwas getan hat; und dass die Erinnerung an die Vergangenheit keiner bloßen Nostalgie geschuldet ist. Problematischer ist dagegen der gegenwärtige Betrieb, der glaubt, in derselben Traditionslinie zu stehen und sich mit Preisen beschenkt, die suggerieren, dass die heutige Ausgabe in Kunst, Kultur und Unterhaltung gleichwertig und gleichrangig sei.
Je weniger Substanz vorhanden ist, desto mehr muss sie durch Zertifikate und Gütesiegel betont werden. Je weniger eine Person in der Öffentlichkeit strahlt, desto mehr zehrt man sie in genau diese. Und je unerheblicher das Werk ist, desto mehr wird dessen herausragende Bedeutung betont. Das wäre alles nicht nötig, stünde das Werk von ganz allein im Mittelpunkt, weil dessen Wichtigkeit für jeden ohne Anleitung zu erschließen ist.