Ja, er hat gelitten „wie ein Hund“. Weniger am Zustand seiner maroden SPD und seinen Ideologie-besessenen Nachfolgern. Mehr daran, dass sich Wolfgang Schäuble weigerte, ihm zu vergeben. Im Gegenteil: Der Mann, der das Wort „christlich“ im Parteinamen trägt, kofferte sogar Jahre später noch nach: „Ich habe Mühe, den Namen Vogel noch in den Mund zu nehmen.“ Was war passiert? Hans-Jochen Vogel hatte dem damaligen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden vom Pult des Bundestages schneidend scharf zugerufen: „Dieser Mann ist unter dem Eindruck seiner Behinderung sehr hart geworden, manche meinen sogar böse.“ 1994 war das, und ich merkte bei vielen Gesprächen, wie sehr die Weigerung zu Verzeihen dem Mann zusetzte, der sich im Alter ganz bewußt dem Glauben an Jesus Christus zugewandt hatte. Bei unserem Interview 2015 wollte er nicht mehr darüber sprechen. Ihm war anderes wichtiger.
Zum Schluss dieses Interviews holte er nochmal tief Luft. Die Zeit war fast abgelaufen. Er wollte ganz offensichtlich die letzten Minuten noch nutzen. Testamentarisch. „Der Glaube ist nicht nur etwas für alte Leute. Gerade die Jungen brauchen einen archimedischen Punkt. Und das ist der unbewegte Beweger, nämlich Gott.“ Und dann, der Hammer: „Das wichtigste Datum der Zukunft ist das Jüngste Gericht. Wir werden vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Dann gibt es endlich Gerechtigkeit, auch für die vielen, die in ihren Familien als Kinder mibssraucht wurden und schweigen müssen.“ Ja, das war die andere Seite des Hans-Jochen Vogel. Nicht nur der Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger, die wandelnde Klarsichthülle und Büroklammer. Josef Kraus hat in seinem TE-Kommentar völlig recht: „Einen wie ihn wird es in der SPD nicht mehr geben. Zwischen ihm und dem aktuellen Gespann liegen Welten.“ Interessant: Wenn es in der SPD brannte, holte man zu deren Lebzeiten Johannes Rau oder Hans-Jochen Vogel aus der Mottenkiste, um zu retten, was zu retten ist. Zwei überzeugte und vor allem bekennende Christen.
Wie sehr es in ihm arbeitete, merkte ich bereits im Februar 2005. Wir hatten beide bei der Christlichen Polizeivereinigung (CPV) in Nürnberg gesprochen. Jetzt verhinderte ein Schneesturm den Abflug nach Berlin. Der Flughafenchef wollte uns in die VIP-Lounge führen. Doch Vogel lehnte kategorisch ab. So sprachen wir in einem ruhigen Eckchen zwei Stunden über Gott und die Welt. Mehr über Gott. Bei einem privaten Abendessen bei Johannes Rau im Schloß Bellevue hatte er im Vorjahr unvermutet erzählt: Er sei so beeindruckt von den Bibelarbeiten bei der „Internationalen Berliner Begegnung“, einem Ableger des parlamentarischen Gebetsfrühstücks, die der Verleger Friedrich Hänssler regelmäßig hielt. Er käme gar nicht so schnell mit dem Mitschreiben nach. „Dieser Mann glaubt an alles, was in der Bibel steht. Und erzählt die Geschichten mit Humor, aber einem heiligen Ernst. So etwas habe ich noch nie gehört.“ Ja, durch die Arbeit dieser überparteilichen Gebetsfrühstücke, die heute noch existieren, ist dieser Mann zum lebendigen Glauben gekommen. Anstöße kamen auch von einem seiner Leibwächter, einem überzeugten Christen. Erst unlängst sagte er mir, der Vergleiche mit vielen deutschen Spitzenpolitikern ziehen kann: „Dieser Hans-Jochen Vogel ist durch und durch echt.“ Geschichten, die ich vertraulich über andere aus der Politiker-Kaste hörte, haben mir manche Illusion geraubt über Menschen, die ich bisher für glaubwürdig, seriös und gradlinig hielt.
Das Vogel-Interview werde ich nie vergessen. Über die aktuelle politische Lage und das Umfrageelend seiner Partei war er kurz angebunden. Doch ein damals brandaktuelles Thema lag ihm am Herzen: Er sprach sich vehement gegen jegliche Form von Sterbehilfe aus. Das sei eine Sache Gottes, und nicht des Menschen. Und er wolle in keiner Gesellschaft leben, in der alte, pflegebedürftige Leute sich geradezu überflüssig und als Belastung fühlen und dann lieber sterben wollen. Der Zwang dazu sei doch förmlich programmiert.
Für mich schließt sich ein Kreis. 1972 war ich als Student bei den Olympischen Spielen in München. Im Stadion ein „deutsches Sommermärchen.“ Doch dann der schreckliche Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft. Abbrechen oder nicht, war die Frage im Stadion und in aller Welt. Oberbürgermeister Vogel war für Weitermachen. In seiner ruhigen Art erklärte er das über die Medien überzeugend. Noch wichtiger war für die Stimmung der damalige Stadionsprecher Joachim Fuchsberger mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme. Wir trafen uns kurz vor seinem Tod im ARD-Talk Hart aber fair. Hinterher solle ich mir bitte Zeit nehmen. Wir redeten bis ihn die Nacht. Nach dem furchtbaren Tod seines Sohnes nagte an Fuchsberger die Sinnfrage, er hatte ein gebrochenes Herz: „Ich wohne ja direkt neben ihrem alten Kollegen Harry Valerien. Wir sind uns zu 99 Prozent einig. Was wir denken und essen, wo wir Urlaub machen und was wir wählen. Nur dass Harry dauernd von Jesus erzählt….“ Nach einer fast endlosen Pause fügte er leise hinzu: „Aber er hat keine Angst vor dem Tod.“
Ja, das ist der entscheidende Unterschied, der Markenkern von Christen und Kirche. Nicht diesen elende Politisieren von Kanzeln und Kathedern, diese oft bildungsferne bischöfliche Einmischung in Themen, die besser bei Politik, Gewerkschaften oder dem Roten Kreuz aufgehoben wären. Hans-Jochen Vogel hat das Zentrale des christlichen Glaubens, wenn auch spät, begriffen. Er ruhe in Frieden.