Tichys Einblick
Hans-Georg Maaßen in Südthüringen

„Wäre er nicht gekommen, hätten wir gar nicht mehr antreten brauchen“

Im Wahlkreis 196 kämpft Hans-Georg Maaßen um den Einzug in den Bundestag. In Berlin belächelt man die Thüringer Parteifreunde – aber die Union kämpft hier ums nackte Überleben. Maaßen als Wahlkämpfer ist ein ungewöhnliches Bild. Ein Besuch.

„Was soll man hier schon noch wählen?“, fragt mich mein vielleicht 50-jähriger Sitznachbar im RB 81281 auf dem Weg nach Suhl im fränkisch geprägten Teil Südthüringens. Weitgehend unaufgefordert offenbarte er mir gerade seine politischen Grundüberzeugungen, nachdem sich unser Gespräch über den Geltungsbereich meiner Fahrkarte während des Bahnstreiks thematisch immer weiter verbreitert hatte. Von Migrationspolitik über Lockdown und „Gedschändere“ ist er kurzgesagt fast überall einer Meinung mit Hans-Georg Maaßen, ohne den Namen zu erwähnen. Als ich dann mal vorsichtig nachfrage, wie er es denn hält mit dem hiesigen CDU-Kandidaten, meint er: „Naja, der Maaßen ist schon ok. Aber CDU wählen? Den Fehler mach ich kein zweites Mal, das hab ich mir geschworen“.
Es ist kein leichtes Feld hier im Thüringer Wald für die Union.

Blick über Suhl

Während die Kanzlerkandidaten zwischen durchsichtigen Wahlkampfmanövern und unerträglich gewordenen Allerwelts-Floskeln schwanken, hat der Wahlkampf hier etwas Existenzielles. Man sieht hier keine Sneaker tragenden „Heads of“-Kommunikationsstrategen, die beschlossen haben, dass die Politik femininer werden müsse. Hier stehen Familienväter mit verbissenem Blick und kariertem Hemd mit Flyern auf dem leeren Marktplatz stehen. 
„Wir kriegen es den Menschen einfach nicht mehr vermittelt“, sagt Ralf Liebaug, CDU-Vorsitzender im Kreisverband Schmalkalden-Meiningen. Er fügt hinzu: „Und ich kanns ihnen nicht verdenken.“ Wenn die Parteispitze in Berlin etwas entscheide, mache sie sich keine Gedanken darüber, was das hier für die Basis bedeutet. „Wir gehen dann mit Mann und Maus unter“.

Die regionale Union ist vom allgemeinen Niedergang der Partei besonders betroffen: Die Menschen haben genug vom Berliner Sumpf und die Stammwählerstrukturen sind hier bei weitem nicht so ausgeprägt wie auf dem Land im Westen, deswegen verläuft der Absturz ungefedert.

Als Mark Hauptmann, der regionale Direktkandat der CDU wegen spektakulärer krummer Geschäfter rund um die Stichworte Maskendeals und Aserbaidschan zurücktreten musste, schien die CDU hier fertig zu sein. Die Teile der übriggebliebenen Mannschaft, denen man keinen Mitwisser-Vorwurf machen konnte, waren gänzlich unprominent.

Dann vollzogen Liebaug und die Seinigen ein spektakuläres Manöver: Sie holten den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten nach Suhl. Spätestens seit Chemnitz, als er wegen seines unbeirrbaren Eintreten gegen die „Hetzjagden“-Theorie gechasst wurde, umgibt Maaßen ein Mythos, gerade im Osten. Ein bundesweit bekannter Mann mit Einfluss in Berlin, dem man den Einsatz für die Menschen hier aber abkauft – so die Idee hinter seiner Nominierung.

Maaßen im Wahlkampfbus im Wahlkampfstress

Seitdem tourt Maaßen durch die Gegend: von Schmalkalden bis Meiningen nach Walldorf, von Oberhof nach Suhl, nach Hildburghausen, in seinem dunkelblauen Wahlkampfbus. Von Marktstand zu Straßenfest, von Bratwurst zu Bratwurst, von morgens bis abends. Sein Team bringt er bisweilen zur Verzweiflung. Denn er ist alles andere als ein geborener Wahlkämpfer; ihm fehlt der Wille zum Belatschern, sein Auftreten ist von einer fast frommen Zurückhaltung gekennzeichnet. 
Heute spricht er in Zella-Mehlis, einem kleinen Ort in der Nähe von Suhl.

Arnold Vaatz, der scheidende Vize-Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist gekommen und diskutiert mit HGM, wie man ihn hier nennt, über Gott und die Welt. Der Sachse Vaatz bringt Stimmung in den fränkischen Raum. Es schießt aus ihm heraus, Flüchtlingspolitik, Atomausstieg, Euro-Rettung, Lockdown, Gendern – eine Generalabrechnung. Die Maske sei der neue „Gesslerhut“. Vaatz redet ohne Punkt und Komma. Der Saal klatscht ständig, lange, Bravo schallt es, eine Frau, die neben mir sitzt, murmelt unentwegt: „Ja“, „Genau“, „Sehr gut“. Unterbrochen wird der Redefluss höchstens durch die Gänse, die vor den Fenstern des Zimmers im Erdgeschoss laut herumflattern, wenn ein Auto vorbei fährt.

Ohne Punkt und Komma aber mit viel Herz: Arnold Vaatz wirbt energisch für Maaßen

Vaatz lobt Maaßen überschwänglich, er schätze seinen Einsatz „über alle Maßen“. Das, was Medien und Politik mit ihm machten, wäre „hochgradig ungerecht“, er wolle dagegen „mit allen Regeln der Kunst“ aufbegehren. „Hans-Georg Maaßen gehört in den Bundestag“. 
Der Maaßen kann ja noch rot werden. Er genehmigt sich einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas – alkoholfrei.

Dann legt auch er los. Er will einen Kurswechsel in der Migrationspolitik, in der Genderpolitik, in der Energiepolitik und in der „Korronna-Politik“, wie der Rheinländer Maaßen es ausspricht. Überraschenderweise geht er nicht den Weg des Geläuterten. Er spricht immer noch genau so wie vor der Kandidatur, nur etwas weniger oft auf YouTube und etwas öfter in Biergärten.

Mit seinen politischen Positionen dürfte Maaßen hier die absolute Mehrheit erringen können. Wäre er nur nicht von der CDU und nicht aus Mönchengladbach. Die Menschen hier, erzählt mir ein leicht alkoholisierter Lokalpolitiker im Hans-Georg-Maaßen-Shirt, seien die dickköpfigsten der Welt. Nirgendwo bleibt Schuster so bei seinen Leisten wie hier. Die Region hat es nicht gerade leicht.

Vergessen & verlassen

Anderntags: Um 19:30 bin ich der letzte Gast des angeblich besten Restaurants in Suhl, in bester Innenstadtlage der immerhin größten Stadt im Wahlkreis 196. „Joa is halt Suhl“ sagt die Kellnerin rechtfertigend, mehr fällt ihr auch nicht ein. Wir lachen beide. Ein wenig zumindest. Die Pizza schmeckt nicht unbedingt schlecht, aber in keiner Weise nach Italien und Cuba Libre trotz kleinem Sonnenschirmchen und Limone weder nach Karibik, noch nach Freiheit.

Nebenan ist die örtliche Jugendbar, da steppt der Bär. Ein wenig zumindest. Bescheuert und fadenscheinig, denke ich mir, ist mein Versuch, Jugendliche auf dem Weg in die Bar über die politische Situation im Allgemeinen zu befragen.
Auch hier vor allem Enttäuschung und große Perspektivlosigkeit. Wenn man kann, will man weg, so schnell wie möglich. „Ohne Alkohol erträgst du’s hier halt nicht“. Naja.

Fast die Hälfte der Einwohner hat die Stadt seit 1990 eingebüßt, die Industrieviertel sind leergefegt, die Bevölkerung ist die im Schnitt älteste Deutschlands. Früher waren hier die DDR-Grenztruppen stationiert, auch die SED hatte einen Sitz, Das Motorrad-Werk Simson war der ganze Stolz und eine kleine Touristenattraktion der Stadt. Das alles ist weggefallen, die Ostalgie und DDR-Romantisierung sind entsprechend ausgeprägt. Die wirtschaftliche Lage ist schwer, und als man dann noch ein Migrantenheim baute, das seither für viele Probleme sorgt, explodierte die Stimmung. Die Empörung trieb viele Wähler sowohl zur starken Linkspartei als auch zur starken, Höcke-lastigen AfD. Und sie zerrieb die alten Parteien.

Es war eine vergessene Region Deutschlands, doch auf einmal ist der Wahlkreis 196, immerhin größer als das Saarland, Bühne bundesweiter Aufmerksamkeit. Die Großstadt-Presse reist an, Politik-Größen – Olaf Scholz, Wolfgang Bosbach – treten auf. Es scheint fast, als sei es mindestens genauso wichtig, wer hier das Mandat gewinnt, wie wer der nächste Bundeskanzker wird.

Die Unterschiede zwischen SPD und CDU sind hier jedenfalls tatsächlich deutlich größer als auf Bundesebene.

Da ist der Mönchengladbacher Jurist, alles andere als nahbar, alles andere als volkstümlich, aber eben auch unbestechlich und im nicht utopischen Sinne idealistisch. Er tritt laut Wahlflyer für „einen Kurswechsel in Deutschland“ an, er spricht über Migration, innere Sicherheit, Lockdown und das politische Berlin, sein Anspruch sind die großen Linien bundesweiter Politik.

Die beiden Konkurrenten unter sich.

Und da ist sein Gegenkandidat. Liest man dieser Tage Zeitung, gewinnt man den Eindruck, mit ihm steht und fällt die letzte Verteidigungslinie vor dem Faschismus. Dafür bietet er einen wenig heroischen Anblick. Frank Ullrich, Biathlon-Olympiasieger, hat sich vor zwei Jahren mit 61 dazu entschlossen, politisch aktiv zu werden. Vor kurzem trat er dafür sogar in die SPD ein. Sein Fokus im Bundestag, so sagt er, läge auf dem Sportausschuss. Er trägt selten Anzug, meistens Funktionskleidung. Auf Wahlkampfevents schüttelt er am liebsten jedem Bürger die Hand bzw. verteilt Corona-Faustgrüße – mehrmals. Und er gilt als Südthüringens derzeit eifrigster Bratwurst-Esser. Er lächelt so viel und so lange, dass man meint, er könne die Mundwinkel gar nicht mehr anders anordnen. „Suppar!!!“ ist sein Lieblingswort, gleich vor „Prima!!!“ Und „Hut ab!“.  Letztens forderte er ganz uneigennützig eine Rente für Olympiasieger. Aber seine eigentliche Botschaft ist jene, die auf jedem Plakat von ihm hier steht: „Frank Ullrich, einer von uns“. Und das heißt natürlich: Maaßen ist keiner von uns.

Diese eine Karte vom Besser-Wessi Maaßen spielt er unentwegt. Gegenüber Spiegel TV erklärt er einmal, warum sogar manche CDU-Mitglieder für ihn werben würden. Die würden dann zu ihm sagen: „Du bekommst hier die Erststimme, weil du zu uns gehörst, weil du hier geboren bist, weil hier alle Leute sagen: Wir kennen dich, du kennst die Bedingungen hier und nicht irgendwo aufgesetzt studiert hast, sondern von Klein auf hier vor Ort bist“.

Kein Wunder, dass es dem SPD-Kandidaten noch nicht gelungen ist, den Linken-Kandidaten unterzukriegen: Der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär Sandro Witt kämpft hier mit feuerrotem Haar für beinharte linke Programmatik. Sein gar nicht mal schlechter Slogan: „Diese Wahl ist wichtiger als Frisuren“.

Doch Ullrichs Tunnel-Wahlkampf ist für Maaßen zugleich gefährlich und ein Glücksfall. Dass Ullrich in Berlin auch nur pieps sagen würde, glaubt wirklich niemand. 
Und die Stimmung des gallischen Dorfs, die hier herrscht, passt eigentlich auch besser zu Maaßen. Sein rheinischer Tonfall passt zwar nicht zu den fränkisch sprechenden Einheimischen, aber in gewisser Weise passt er dennoch genau hier her. Unentwegt schwärmt er von der Landschaft und sagt seinem Wahlkampfhelfer am Lenkrad auch mal – als Mönchengladbacher in Suhl –, wo er abbiegen müsse. Man hat das Gefühl, er fühlt sich pudelwohl hier, die ganze Fremdheit von Berlin, endlich weg. Irgendwie macht er auch nur Urlaub – einen sehr beamtischen Urlaub.

Seine Wohnung in Suhl ist bezogen. Und so könnte jeder negative Spiegel-Bericht die ideale Wahlkampfhilfe für ihn sein. Gerade, wenn die Autoren überregionaler Medien sich verächtliche Bemerkungen über die Provinzialität der Bevölkerung nicht verkneifen können, könnte Maaßen das auf ähnliche Weise zugute kommen wie Trump bei seinem Wahlsieg 2016. „Eigentlich sind sie nicht gegen mich, sondern gegen dich, ich bin nur im Weg“ war einer der Slogans des Ex-Präsidenten.

Ob Maaßen hier gewinnen wird, steht in den Sternen. Es ist im Prinzip ein einfaches Spiel: Kann die SPD mehr Stimmen von der Linkspartei oder die CDU mehr von der AfD ziehen? Die Grünen, die hier demonstrativ zur Wahl der SPD aufrufen, spielen ohnehin keine Rolle. Der AfD-Mann hier hat keine Sympathien für den CDU-Politiker, der wäre auch im Prinzip nur ein Systemling. Gut möglich aber, so wird gemunkelt, dass aus der überregionalen Führung noch ein Versuch ergeht, den Lokalpolitiker zum Aufgeben zu bewegen, ein zweiter Kemmerich wäre ein medialer Sieg für die AfD.

Ich sitze mit Ralf Liebaug, dem Architekten von Maaßens Kandidatur, in seinem VW-Golf. Es war kein einfacher Tag für Maaßen, am Mittag wurde er vom Besuch der Einweihungsveranstaltung einer historischen und nun renovierten Mikwe (jüdisches Bad) ausgeladen – vom SPD-Bürgermeister persönlich. Angeblich ging es um Formalitäten. Nachdem TE den Vorgang öffentlich machte, liefert man sich in der Regionalpresse Gefechte über den Vorgang, im Freien Wort räumt Bürgermeister Kaminski aber immerhin ein, dass man möglicherweise auch anders hätte reagieren können.

Eigentlich – so Liebaug – hätte Maaßen schon gewonnen: „Wäre er nicht gekommen, hätten wir gar nicht mehr antreten brauchen“. 
Es geht nicht um temporäre Verluste und schlechte Wahlergebnisse für die CDU, es geht darum, dass die Substanz zusammengebrochen ist, das Vertrauen in die Bundespolitik nahezu unwiderruflich verspielt. In Berlin, Im Konrad-Adenauer-Haus lebt es sich leicht mit Konzepten der asymmetrischen Demobilisierung, dem Umfragen-Segeln und Buhlen nach positiven Kritiken aus der Hauptstadtpresse. Hier aber geht es ums nackte Überleben. Vielleicht gewinnt Laschet noch einmal diese Wahl mit ganz vielen roten Socken und netten Worten. Aber die CDU ist ausgehöhlt, und irgendwann bricht es, dann gibt es kein Zurück mehr. Hans-Georg Maaßen ist hier jedenfalls ihr letzter Mann.

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