Vor wenigen Tagen gehörte der Hashtag #HannaImBundestag zu den Trends auf Twitter. Es ging nicht um eine neue Abgeordnete im Parlament. Dazu wäre es in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl auch etwas früh. Bei Hanna handelt es sich auch nicht um einen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern um eine Musterakademikerin, die sich vor Jahr und Tag jemand im Auftrag des Bundesforschungsministeriums ausgedacht hatte.
Vorbild Hanna, eine Biologin, plant nämlich ihre Wissenschaftskarriere frühzeitig, um nicht irgendwann im akademischen Mittelbau auf einer miserabel bezahlten Stelle hängenzubleiben.
Zur Vermittlung dieser Botschaft gab es einen munteren „Erklärfilm zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz“ (kurz: WissZeitVG) vom 30. Juli 2018, der wie eine Parodie auf „Die Sendung mit der Maus“ wirkt, mit zeitgemäß infantilisiertem Sprachduktus, für den sich eine reale Naturwissenschaftlerin vermutlich schämen würde. Der Inhalt von 2:22 Minuten macht eigentlich einen zu banalen Eindruck, um einen um fast drei Jahre verspäteten Twittersturm zu erzeugen: Ein Jungakademiker müsste „seine Karriere frühzeitig planen“, er möge das „Betreuungsangebot für Promovierende“ in Anspruch nehmen. Und – hier lagert das Empörungspotential: Irgendwann geht selbst die längste Förderung durch den Staat zu Ende.
Aus bisher unbekannten Gründen dauerte es also gut drei Jahre, bis sich im Juni 2021 eine Klageflut von Jungakademikern und vor allem Akademikerinnen unter dem Hashtag #IchbinHanna in den Twitterkanal ergoss. Eigentlich wollten die Empörten mittteilen, dass sie gerade nicht Hanna sind. Denn sie stecken dummerweise tatsächlich irgendwo im akademischen Mittel- und Unterbau auf schlecht bezahlten und teilweise offenbar gar nicht vergüteten Stellen fest, vermuten zum Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts durchaus zutreffend, dass es mit der Dozentur oder dem Lehrstuhl nicht klappt, und finden, dass die Gesellschaft darin versagt habe, ihnen ein gutes und festes Einkommen zu sichern. Der Hanna-Film des Bildungsministeriums, hieß es, sei zynisch, und ignoriere die abertausenden um ihre Stellen betrogenen Dies-und-das-Wissenschaftler, die sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln.
In dieser Woche fand nun die Twitteraktion ihren Weg in den Bundestag. Und Bildungsministerin Anja Maria-Antonia Karliczek (so heißt sie vollständig, wer über sie schreibt, muss ihren Namen nachschlagen) antwortete auf den Protest gegen die Kunstfigur. Ziemlich erwartungsgemäß sagte sie, die auf Twitter geschilderten Fälle seien Einzelfälle (was zutrifft, allerdings ziemlich viele); außerdem sei Hochschulpolitik Ländersache. Was die Empörung im Untermittelbau noch einmal kräftig anfachte.
Grundsätzlich wirkt schon der medial gestützte Hashtag #IchBinHanna anmaßend bis obszön, weil sich diejenigen, die sich darunter sammeln, mit dem wahrscheinlich bewusst gewählten Anklang an „Je suis Charlie“ als bedauernswerte Opfer höherer Gewalt inszenieren. Und natürlich die gleiche Anteilnahme einfordern. Auf Twitter liest sich das Lamento von Opfern des WissZeitVG beispielsweise so:
„Das aktuelle Wissenschaftssystem reproduziert bereits vorhandene Privilegien und schließt damit zugleich einige Personengruppen systematisch aus dem Wissenschaftsbetrieb aus.“
Warum empfiehlt dieser Typus eigentlich stets anderen, oftmals Unterprivilegierten, seine Privilegien zu checken – und fängt nicht bei sich selbst an?
„Nur den wenigsten Nachwuchsforschenden bieten sich dauerhafte Perspektiven in der Wissenschaft.“
Nun ja. Auch nicht jeder Lehrling bei Siemens wird in den Vorstand durchgereicht.
Eine 35-jährige Romanistin mit Promotion in Postcolonial und Decolonial Studies berichtet, wie froh sie sei, Deutschland verlassen zu haben, weil sie sich „als Arbeiter:inkind“ an der Universität „fehl am Platz“ fühlte. Problem aus ihrer Sicht – „mit einer sozialen Herkunft in der Arbeiter:innenklasse“: „Äußerungen [von Professoren], die latent rassistisch, klassistisch, sexistisch sein können.“ Also nicht sind, sondern „latent“ – laut Wörterbuch: „im Hintergrund vorhanden, aber noch nicht sichtbar“ – „sein können“. (So kann man jedem alles unterstellen.) Außerdem hätten „Doktorand:innen“ „ein problematisches Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer:ihrem Gutachter:in“.
(Der Verfasser dieses Textes entschuldigt sich bei seinen Lesern für die Unlesbarkeit dieser Zitate, die er aus der taz entnommen hat, von der er für seine Recherche problematisch abhängig war.)
Flankierend zum Hanna-Tweet heißt es: „Junge Forschende wollen vom Publikations-Stress befreit werden“. (Der größte Stress dürfte für manche im gendersensiblen Doppelpunktsetzen dort bestehen, wo Doppelpunkte nach gängiger Rechtschreibung nichts zu suchen haben.)
Offenkundig gehört der Hashtag „Ich bin Hanna“ zu den mentalen Milieuschädigungen, die an Universitäten erworben werden“ (Peter J. Brenner). Und er ist ein Beleg für die Weltfremdheit dieses sich immer mehr abschottenden Milieus.
Die Germanistin Silke Horstkotte beispielsweise begründet ihre Ansprüche an den Staat, indem sie sich erst sarkastisch selbst geißelt: „Silke, 49, verstopft das System auf einer halben unbefristeten Stelle“. Horstkotte meint, es könne nicht angehen dass sie „nach 20 Jahren Wissenschaft, 4 Monografien [darunter die Dissertation: Androgyne Autorschaft. Poesie und Geschlecht im Prosawerk Clemens Brentanos], 58 Aufsätzen und einer knappen Million eingeworbener Drittmittel auf der Straße“ stehen würde. Die akademische Unentbehrlichkeit wird – das scheint bei #IchbinHanna symptomatisch – nicht inhaltlich-qualitativ belegt, sondern quantitativ. Das Motto nicht nur Horstkottes lautet offenbar: „Ich habe eine Unmenge produziert. Dafür verdiene ich eine unbefristete ganze Stelle.“
Am einfachsten wäre es für die steckengebliebene Akademikerin, den Markttest zu machen: Bieten Sie ihre Studie über „Androgyne Autorschaft“ einem kommerziellen Verlag an, zu marktwirtschaftlichen Bedingungen. Versuchen Sie, Ihre 58 Aufsätze von „Poetiken der Mobilität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (2014) bis „Introducing the Postsecular: From Conceptual Beginnings to Cultural Theory“ (2020) an ein Publikum zu bringen, das dafür bezahlt. Das Paralleluniversum Universität erzeugt offenkundig eine parallele Wahrnehmung seiner Protagonisten, die nicht mehr zur Welt draußen passt. Um so schlimmer für die Welt, finden die beleidigten unter dem Hanna-Hashtag.
Die Hanna-Kampagne, die – wie viele ähnliche Twitter-Aktionen – starke Züge der Selbstverklärung offenbart, steht als tränenreiche Klage vermeintlich vom System benachteiligter Jung-Akademiker beispielhaft für den allgegenwärtigen Kult des Beleidigtseins. Das Lamento eines der Initiatoren wirkt entlarvend:
„Das WissZeitVG richtet sich gegen Menschen“. Wen, wenn nicht Menschen, sollte denn ein Gesetz über menschliche Akademiker ansprechen? Die Formulierung will offenbar die Solidarität von allen erzwingen, die gar nicht genug „Safe Spaces“ errichtet bekommen können. Sie atmet den Geist derjenigen, die von Staat und „Gesellschaft“ verlangen, alle ihre persönlichen Bedürfnisse und Befindlichkeiten großzügig alimentiert zu bekommen, im Namen der Menschlichkeit, versteht sich.
Wenn sich jemand erdreistet, die Frage nach der Brauchbarkeit von Thesen und Aufsätzen zu stellen, dann gehört er zu den „Menschen, die mit Wissenschaft gar nichts anfangen können“. Wer sich sogar erlaubt, Forschungen über „Androgyne Autorschaft“, zu „transmedialer Narratologie“ oder „Artefaktphilosophie“ auf ihre Relevanz hin zu befragen, wird umstandslos als „Troll“ abqualifiziert.
Wie kam es eigentlich dazu, dass tatsächlich tausende meist in Geisteswissenschaften arbeitende Leute im Universitätsbetrieb stecken, dort nicht aufsteigen können, aber auch nichts produzieren, womit sie ihren Lebensunterhalt in der nichtstaatlichen Wildnis verdienen könnten? Für ihr Verhältnis zur staatlich alimentierten Sphäre gilt die schöne Zeile aus einem Song von The Gobi Desert Canoe Club: „We could not live together / and we could not live apart.“
Grund der Stellen-Inflation: die vieldiskutierten Studiengebühren, die nicht nur einen Proteststurm gegen eine Re-Elitisierung der Universitäten auslösten, sondern – und dieser Aspekt wurde in der Öffentlichkeit wenig beachtet – den Lehrstühlen Geld in Fülle ins Haus schwemmten, das die Professoren nach Gutdünken ausgeben durften. Die meisten verwendeten es in ihrem ureigenen Sinne, getreu der Devise: „Je mehr Mitarbeiter ich habe, desto bedeutender bin ich“. Deswegen gab es auch kaum ganze, vielfach nicht einmal halbe Stellen, von denen sich halbwegs leben lässt, stattdessen 0,25-Stellen oder noch weniger. Auf diese Weise wurden ganze Kohorten von jungen Akademikern buchstäblich angefixt mit der Vorstellung, fast schon Universitätsdozent zu sein – und das natürlich für immer bleiben zu wollen. Ziel für über 90 Prozent: Professur. Dass diese Vorstellung völlig unrealistisch war, verdrängten die stellenschaffenden Professoren ebenso wie die stolzen Neu-Besitzer eines universitären Türschildes.
Als die Studiengebühren später kippten, ersetzte der Staat das nun fehlende Geld, zumindest teilweise. Es blieben also reichlich Mittel, die für die Menge der angelockten Akademiker zwar nicht zum Leben reichte, aber auch zu viel zum Sterben war.
Nun schlägt die lange ignorierte Realität eben doch zurück. Ein ganzes Heer von Möchtegern-Professoren steht in fortgeschrittenem Lebensalter mit leeren Händen da. Hanna ist beleidigt und ruft nach der Nanny, die mit noch mehr Mitteln helfen soll – dem Staat. Da hat sich jemand selbstverschuldet in eine „Sackgasse“ (Hadmut Danisch) manövriert, will aber die Konsequenzen seines Handelns nicht tragen, sondern an die Gesellschaft outsourcen. Eigenverantwortung für das eigene Tun und Lassen scheint spätestens seit Corona nicht mehr zeitgemäß.
Universitäten im Schraubstock
Kurz vor den Corona-Lockdowns, als öffentliche Bibliotheken noch öffentlich zugänglich waren, fand sich in der Passauer Staatsbibliothek ein knallbuntes Heftchen mit dem Titel „campus passau 2/2019“, eine Art Marketing-Magazin von und für eine der jüngeren bayerischen Landesuniversitäten, Gründungsjahr 1973. Titel: „Universitäten im Wettbewerb“.
Einen hervorragenden Einstieg in den Charakter einer Hochschule in Zeiten neoliberalen Sozialismus bietet Präsidentin Carola Jungwirth gleich im Editorial. Sie sagt dem Leser zwar nicht, über was sie forscht und lehrt (wer recherchiert, findet das Fach Betriebswirtschaftslehre), wirbelt aber ausgiebig mit ausgewählten Keywords. In der Kategorie Substantiv finden sich: Herausforderung, Zukunft, Ziel, Entwicklung, Plan, Strategie, Prozess. Bei den Adjektiven frohlockt es: zukunftsfähig, international, sichtbar, attraktiv, exzellent, wettbewerbsfähig, stark, innovativ, exzellent, gut, kontinuierlich, gemeinsam. Unübertrefflich die Verben: sein wollen, anstreben, fördern.
Eine bemerkenswerte Mischung aus neoliberaler Marktvergottung und woker, dummerweise wirtschaftlich aber nicht verwertbarer Agendawissenschaft hat die Universität gekapert – und macht sie handlungsunfähig. Zwischen diesen Polen sieht sich die Institution eingezwängt wie in einer Schraubzwinge. Jeder ernstzunehmenden Forschung schnürt dieser Zustand die Luft ab. Daneben sind neuerdings Phänomene zu beobachten, die das wissenschaftliche Berufsethos zusätzlich unterminieren. Einige Beispiele:
Eine bekannte deutsche Kanzlerkandidatin warb für sich mit dem Qualitätslabel „Völkerrechtlerin“, womit sie dem staunenden Publikum suggerierte, eine gestandene Volljuristin zu sein, wo neben einem nicht vorhandenen Studienabschluss nur ein einjähriger Aufbaukurs in „Public International Law“ vorliegt. Für eine angefangene und nie (zumindest von ihr selbst) beendete Promotion an der FU Berlin reichte das trotzdem. Warum eine Promotion, wenn jemand erkennbar gar nicht in der Wissenschaft arbeiten will? Auch diese Frage gilt heute vielen als empörend – und nicht die Praxis, den Doktortitel nur als Lametta für die Karriere mit möglichst geringem Aufwand abgreifen zu wollen. Mancher Corona-Warner renommiert als „Mediziner“ und „Epidemiologe“, wo er lediglich „Public Health Studies“ betrieben hatte, eine Art Kulturwissenschaft für medizinnahe Bereiche. Solche Aufhübschungen des Lebenslaufs liefen früher unter dem Begriff Hochstapelei.
Wenn der 25-jährige Ethnologie-Absolvent ein Türschild an einem fensterlosen Kellerloch ergattert hat, das er als „Büro“ auf einer ⅙-Stelle mit fünf anderen Mitarbeitern teilen muss, präsentiert er eine Vita, die darin besteht, dass er studiert hat, über eine „Publikationsliste“ verfügt, für seine Magisterarbeit ist „in Vorbereitung“ vermerkt (also: nichts). Außerdem „Forschungsschwerpunkte“, die einem Weltstar vom Rang eines Pierre Bourdieu zur Ehre gereicht hätten: „Anthropologie des Politischen (Demokratie und Kultur); Medienethnographie (Repräsentation und multimediale Kommunikation); Science and Technology Studies (Wissenschaft-Technologie-Politik); Wissenschafts- / Erkenntnistheorie (Wissenssoziologie, Sozialkonstruktivismus).“
Zur Stelleninflation kommt eine furchterregende Inflationierung akademischer Standards, die logischerweise einhergeht mit einer Entwertung der Inhalte: 30.000 Doktortitel stößt die Deutschland AG jährlich aus. Bei manchen ist die Halbwertszeit allerdings knapp bemessen, wie ein jüngstes Beispiel aus dem Bundeskabinett zeigt. 19.839 Studiengänge zählte man in Vor-Corona-Zeiten hierzulande – Tendenz: rapide steigend. Beispielsweise „Caritaswissenschaft und werteorientiertes Managment“ (Universität des Bayerischen Waldes in Passau), „unterstützt von ICUnet.AG mit Blick auf einen hochwertigen Customer-Centricity-Ansatz“. Nicht zu vergessen der Umstand, dass bald jede Hundehütte aus Prestigegründen für sich in Anspruch nimmt, ein Ortsschild mit der Aufschrift „Hochschulstadt“ aufstellen zu dürfen.
Was schließlich der Erziehungswissenschaftler Peter J. Brenner in seiner Analyse der „Generation Baerbock“ konstatiert: „Die Universitäten sind zum Aufwärmbecken für Karrieren in der Politik, in staatsalimentierten NGOs sowie in den Medien geworden“ – lässt sich vielfach belegen.
Manche, aber eben nicht alle schaffen es von der Universität in einen anderen staatlich geförderten Bereich. Wenigstens sind sie dann dem Kellerverlies entkommen. Ein Doktorand der Ethnologie etwa wählt sich ein Ökodorf als „sozial-ökologisches Modellprojekt“, „in dem nachhaltige Lebensstile gelebt werden“, zu seinem Forschungsfeld, von dem er Antworten auf die Bedrohung durch den Klimawandel erhofft. Unmittelbar nach Abschluss seiner akademischen Qualifikationsarbeit bearbeitet derselbe als Projektmanager bei der Berliner „Denkfabrik“ adelphi im Auftrag des Bundesumweltministeriums das Themenfeld „Prozessoptimierung, Kommunikation und Mobilisierung im (kommunalen) Klimaschutz“.
Diese wahre Geschichte einer Doktorwerdung wirft ein bezeichnendes Licht auf die gezielte Ökonomisierung von „Forschung“ durch den Forscher und stellt die grundsätzliche Frage nach dem Kern akademischer Praxis: Schreibt jemand eine universitäre Abschlussarbeit im 21. Jahrhundert aus wissenschaftlicher Neugier? Oder als themenspezifische Bewerbung für den Einstieg in eine lukrative halbstaatliche Berufskarriere? Der gesamte Sprachduktus erwähnter Dissertation, schon ihr normativer Titel „Vom neuen guten Leben“, spricht für letzteres. „Generell plädiere ich dafür, potentielle Allianzen stärker wahrzunehmen und bewusst zu verstärken“, heißt es dort. Das ist Politikberaterprosa. Mit Forschung hat es nichts zu tun. Sinn und Zweck der Gesellschaftswissenschaften ist es nun einmal, Lebenswirklichkeiten einer kritischen Analyse zu unterziehen. Wer verlautbaren möchte: „Die Unverhältnismäßigkeit der Förderung von Forschungsschiffen und Zukunftsautos gegenüber sozialen Initiativen kritisiere ich“, sollte sich zu seiner Berufung als Lobbyist bekennen, statt unter der irreführenden Flagge „ethnographische Dissertation“ zu segeln.
Alle diese fortgesetzten Angriffe auf das Wissenschafts-Ethos muss bedenken, wer die Aufregung um eine einfache Wahrheit verstehen will, die nichts anderes verkündet als: Nicht jeder Student kann Professor werden. Letztlich hat diese banale Tatsache zum Twitter-Aufstand im Namen Hannas geführt, der ohne die inzwischen zum Mainstream mutierte linke Anspruchshaltung nicht verständlich ist.
Wer ist eigentlich Hanna?
Schaut man nach, wer hinter der Kampagne #IchbinHanna steht, ist das Ergebnis ziemlich deutlich: Es sind die üblichen Verdächtigen, die urbanen Anywheres, die auf Twitter und eigenen Homepages keine Gelegenheit auslassen, ihre gute Gesinnung zu demonstrieren. Da ist die Literaturwissenschaftlerin, die ein „Lehrexperiment #RelevanteLiteraturwissenschaft“ initiiert hat – „über die Repräsentation von Frauen und Minderheiten im literarischen Feld, über Kanon und #DieKanon, #metoo, #metwo und #mequeer“.
Da haben wir den alerten Mittelalter-Historiker, der mutig „gegen rechts“ kämpft, etwa bei der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg mit einem Vortrag mit dem kryptischen Titel „Das rechte Mittelalter oder das Mittelalter der Rechten?“ (Hauptsache gegen rechts, das versteht jeder), außerdem in einem aufklärerischen Workshop „Das YouTube-Mittelalter – weiß, misogyn und rechts-konservativ? Mit einem Ausblick auf Vimeo und BitChute.“
Da äußert sich schließlich der Professor of Global History, prototypischer Anywhere in „New York/Bodø/Aschaffenburg” (Twitter-Profil), der „Gedanken zum aktuellen Zeitgeschehen“ bloggt („Moria, oder: Das Versagen eines europäischen Traumes“), „vornehmlich zu Themen wie Migration, Nationalismus“ (Überraschung!), und der ansonsten schwer Dechiffrierbares produziert: „Es ist m.E. wichtig mehr #Diversität u. #Gerechtigkeit an dt. Unis u. HS zu schaffen u 1 transparentes #Leistungsprinzip durchzusetzen.“ (Das „Leistungsprinzip“ des Global-Historikers scheint korrekte Orthographie nicht zu umfassen.)
Das im Namen Hannas aufmuckende akademische Prekariat an den Hochschulen zählt in seiner großen Masse zu den stärksten Unterstützungstruppen der politischen Linken und speziell der Grünen. Denn auf diesen Kräften ruht die Hoffnung auf noch eine staatliche durchfinanzierte Initiative, noch eine NGO, noch ein Forschungsverbund, der irgendwie die Flucht aus dem Unikeller mit vierzig möglich macht. Wie die Sicht auf die Welt außerhalb der urban-akademischen Blasen beurteilt wird, hatte die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt jüngst gezeigt: Bei insgesamt 41 Wahlkreisen verfehlte Bündnis 90/Die Grünen in 32 Fällen die Fünf-Prozent-Hürde, manchenorts spektakulär deutlich. Nur durch hohe Stimmenzahlen in den Universitätsstädten Magdeburg und Halle/Saale schaffte die medial messianisch gefeierte Partei knapp den Einzug in den Landtag.
Insofern muss man #IchBinHanna wohl lesen als Aufschrei derer, die sich jahrelang einem politischen Milieu angedient haben – und jetzt darauf bestehen, bei der Ernte nicht übergangen zu werden.
Nebenbei bemerkt will #IchbinHanna dem Publikum auch noch einen Bären aufbinden: Da plant eine Gruppe generalstabsmäßig eine Hysterie-Welle („Aufschrei“ laut Tagesspiegel), um anschließend wahrheitswidrig zu behaupten: „#IchbinHanna ist ein spontan entstandender Twitter-Trend“.
Dabei vermeldet Sebastian Kubon, einer der Initiatoren dieses „spontanen“ Zorns, auf Twitter öffentlichkeitsaffin die durch ihn bewusst vollzogene Gründung des Hashtags:
Das @BMBF_Bund verschleißt befristete Wissenschaftler_innen und verhöhnt sie auch noch. Zur Erinnerung, dass das WissZeitVG sich gegen Menschen richtet, gebe ich dem wiss. Prekariat ein Gesicht: #IchbinHanna. #95vsWissZeitVG
— Sebastian Kubon (@SebastianKubon) June 10, 2021
Und nicht nur das. Unter 95vswisszeitvg.wordpress.com hat Kubon mit seinen Mitstreiterinnen Amrei Bahr und Kristin Eichhorn eine Homepage eingerichtet, die ihre einschlägigen Aktivitäten seit November 2020 penibel dokumentiert. „Spontan“?
Die fiktive Hanna des Bildungsministeriums ist übrigens Biologin. Bei jenen Lautsprechern, die sich jetzt aufregen, handelt es sich fast durchweg um Literaturwissenschaftler, Historiker und Philosophen, heute überwiegend als „Agendawissenschaftler“ (Sandra Kostner) tätig.
Bundesbildungsministerin Karliczek, eine ausgebildete Hotelfachfrau, die durch gute Vernetzung in der NRW-CDU auf den Kabinettsposten kam, verkündete gerade, sie würde den Job als Wissenschaftsministerin gern weitermachen. Nach vier Jahren kenne sie jetzt „die Stellschrauben“. In gewissem Sinn stimmt das sogar. Sie schob im Juni 2020 mit 40 Millionen Euro den „Forschungsverbund Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ an, der nach ihrer einführenden Rede nicht voraussetzungslos forschen, sondern der Politik „relevante Antworten“ liefern soll. Natürlich brennen die prekär beschäftigten Akademiker darauf, zu liefern, was immer der Geldgeber wünscht – wenn es dafür nur einen unbefristeten Vertrag und damit Schutz vor Alterselend gibt.
Aber selbst zehn neue Forschungsverbünde würden nicht für alle Hannas reichen, die von unten nachwachsen. Wer sich unter ihnen für Dialektik interessiert, der weiß, dass die Solidarität nur im Twitter-Hashtag existiert. In der Realität ist jeder einzelne ein erbitterter Konkurrent um die immer zu knappen Ressourcen. Schöner als bei #IchbinHanna sind Wokismus und Neoliberalismus einander noch nie begegnet.
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor.