Tichys Einblick
Das vergessene Problem unserer Zeit

Hanau, Würzburg & Co. – Psychotiker bedrohen uns alle

Die Täter von Würzburg und Hanau waren psychotisch. Es rollt ein Problem auf diese Gesellschaft zu, das kaum jemand zur Kenntnis nehmen will. Weil es unangenehm ist, sich mit Fragen der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung auseinanderzusetzen – es ist aber notwendig. Eine Stimme aus der Praxis.

IMAGO / Hans Lucas

In den Medien und sozialen Netzwerken wird noch immer über das Motiv des 24-jährigen Somaliers gestritten, der in Würzburg drei Frauen mit einem Messer tötete und neun weitere Menschen teils lebensgefährlich verletzte. Jetzt soll der Mann aus der Untersuchungshaft in eine Psychiatrie überstellt werden. Von der Sache her ist das nicht falsch, denn der Täter war offensichtlich psychotisch (hier mehr das dazu) – die Maßnahme kommt aber viel zu spät und wirkt auch eher wie der Versuch, das Thema zu begraben, damit das Verbrechen in Vergessenheit gerät. Der Eindruck, der wohl entstehen soll: Psychotiker gibt es nun mal, dagegen kann man nichts tun, der Staat trägt keine Schuld, genauso wenig wie die Einwanderungspolitik. Das alles kommt eben nicht von ungefähr. Und das macht das Verbrechen auch nicht zur unpolitischen Lappalie.

Man hätte die Tat verhindern können, indem man den mehrfach aufgefallenen Täter frühzeitig zwangseingewiesen oder indem man den eigentlich illegalen Einwanderer rechtzeitig ausgewiesen hätte. Der Staat trägt in jedem Fall eine Mitschuld: Der Täter war lange vor der Tat auffällig und man hätte präventive Maßnahmen ergreifen können und müssen. Es zeigt sich stattdessen ein Muster: Man greift immer erst ein, wenn es zu spät ist. Bei Psychotikern im allgemeinen ist das der Fall. Es ist ein immenses Problem, das auf unsere Gesellschaft zurollt.

Von der wahren Instrumentalisierung
Würzburg und Hanau - zwei Psychotiker und zwei Maßstäbe
Manfred Lütz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und über 20 Jahre Leiter des Alexianer Krankenhauses in Köln, nahm gegenüber Focus Online, dazu Stellung. Seiner Meinung nach litt Jibril A. an Schizophrenie – genau wie Tobias Rathjen, der in Hanau neun Menschen tötete und der eritreische Flüchtling Habte A., der in Frankfurt 2019 einen achtjährigen Jungen vor einen einfahrenden Zug stieß. Wenn jemand akut schizophren und völlig in seinem Wahn gefangen ist, in dem vermehrt Gewaltphantasien auftauchen, sollte man ihn laut dem Mediziner auch gegen seinen Willen behandeln können.

Genau daran scheitert es in Deutschland aber sehr häufig. Lütz fordert deshalb eine kritische, wohlmöglich kontroverse gesellschaftliche Debatte – und Aufklärung. Heutzutage wisse nämlich kaum jemand, dass durch die Hilfe neuroleptischer Medikamente etwa zwei Dritteln der Betroffenen ein relativ normales Leben ermöglicht werden kann.

Der Psychiater beschreibt außerdem ein Problem, dass ich in meiner Arbeit in einem Betreuungsbüro selbst schon häufig erlebt habe. Die Richter scheuen sich davor, eine Zwangsmedikation zu bewilligen, selbst wenn sie schon eine Zwangseinweisung beschlossen haben – was in vielen Fällen grundsätzlich aber leider auch erst dann passiert, wenn schon jemand zu Schaden gekommen ist. Die Freiheit des Kranken wird über seine Gesundheit und seine Sicherheit sowie die aller anderen gestellt. Dabei sind die Betroffenen nach einer erfolgreichen Zwangsbehandlung oft von Herzen dankbar, dass man sie aus ihrem Wahn befreit hat – das betont auch Manfred Lütz. Mit einer Aussage bringt er den fatalen Umgang mit akut psychotischen Menschen auf den Punkt: Die Vorenthaltung einer wirksamen psychiatrischen Behandlung ist im Grunde unterlassene Hilfeleistung.

Täter Illegal & polizeibekannt
Würzburg: Eklatantes, mehrfaches Staatsversagen hat diese Bluttat möglich gemacht
Es gibt im Zuge der Anti-Psychiatrie-Politik aber auch noch ein weiteres gravierendes Problem, das so schreckliche Ereignisse wie in Würzburg oder Hanau erst möglich macht: dass Behörden aus Datenschutzgründen keine Informationen miteinander austauschen dürfen und dementsprechend handlungsunfähig sind. Die Polizei oder das Kriminalamt dürfen mit Ärzten oder Psychologen, genauso wie mit Gesundheitsbehörden, keinerlei relevante patienten- bzw. krankheitsbezogene Daten austauschen. Der hessische Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Dirk Peglow, bestätigte gegenüber der FAZ, dass man bisher keine Möglichkeit hatte, aggressive Täter mit psychischen Störungen im Fokus zu behalten. Wegen der „Vielzahl und Schwere der Fälle“ müsse man deshalb überlegen, „ob es nicht hilfreich sei“, wenn sich die Polizei unter Wahrung der Schweigepflicht mit Psychiatern und Psychologen austauschen kann. Er fordert ein „Radarsystem“, damit sich die Polizei ein Bild über „auffällige Personen“ machen kann, bevor sie schwere Straftaten verüben.

Die Debatte über Psychotiker, will in Deutschland kaum einer führen. Denn Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen regen Assoziationen in dunkle Kapitel der Geschichte und auch daran, dass derartige Vorgänge als Vorwand für totalitäre Regime dienten, um Oppositionelle aus dem Weg zu räumen. Es ist kein angenehmes Thema – aber ein notwendiges. Psychotiker bedrohen das Leben von uns allen. Ich habe in meiner Arbeit zahlreiche Fälle gesehen. Es führt kein Weg an psychiatrischen Zwangsmaßnahmen vorbei, denn die Justiz greift erst ein, wenn es schon zu spät ist. Wie jetzt im Falle Würzburg auch.

Eine Gesetzanpassung, die Ärzten und Betreuern auch gegen den Willen des Betroffenen einen größeren Handlungsspielraum im Punkto Unterbringung und Zwangsbehandlung einräumt, ist notwendig. Nur so können die Betroffenen vor sich selbst geschützt werden. Und nur so können weitere Gewalttaten wie in Würzburg oder Hanau verhindert werden.


Pauline Schwarz ist Psychologie-Studentin aus Berlin und arbeitet seit mehreren Jahren in einem Betreuungsbüro. 

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