Tichys Einblick
Weihnachten instrumentalisiert

Habecks Testballon

Nachdem es den Grünen gelungen ist, die Meinungsherrschaft zum Klimawandel zu erobern, testen sie nun, ob sie verloren gegangenes Terrain beim Thema Asyl und Migration wiedergewinnen können.

imago Images/photothek

Pünktlich vor Weihnachten starten die Grünen in Gestalt ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck einen Testballon, mit dem nicht die Entwicklung des natürlichen, sondern des politischen und gesellschaftlichen Klimas in Fragen von Asyl und Migration gemessen werden soll. Nachdem es mit Hilfe von Greta Thunberg und Fridays for Future gelungen ist, in breiten Bevölkerungsschichten eine neue Art von „Willkommenskultur“ für eine radikale Energiewende zu erzeugen, liegt es nahe, dass die Grünen gerne wüßten, ob sich angesichts der elenden Zustände in den griechischen Auffanglagern für Asylbewerber die „Willkommenskultur“ von 2015 bei Asyl und Migration nicht auch wieder reaktivieren ließe. Die derzeitigen Umfrageergebnisse, die den Grünen bundesweit anhaltend Werte um die 20 Prozent bescheinigen, schreien regelrecht danach, nicht nur beim Thema Klima und Umwelt, sondern auch beim Thema Migration zu versuchen, die Pole Position für die nächsten Bundestagswahlen (wieder) zu erobern.

Habeck lehnt sich bei seinem Vorstoß an das vertraute Vorgehen kirchlicher und anderer humanitärer Organisationen und Einrichtungen an, die in der Vorweihnachtszeit die Bürger gerne an ihre christliche Nächstenliebe erinnern. In Anzeigen und Anschreiben bitten sie um Spenden für notleidende Menschen im In- und Ausland, allen voran Kinder. Anders als die Kirchen buhlt Habeck mit seinem Vorschlag, einige tausend Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern nach Deutschland zu holen, allerdings nicht um persönliche Spenden, sondern eröffnet allen Deutschen die Chance, sich kurz vor Weihnachten noch einmal als wahre „Gutmenschen“ zu betätigen, ohne direkt in die eigene Tasche greifen zu müssen. Die Kosten für die Unterbringung, Verpflegung, Kleidung, ärztliche Versorgung, Beschulung usw. der aufgenommenen Kinder und ihren Angehörigen, die schon bald per Familiennachzug ihren Kindern folgen dürften, müssten nämlich nicht die Anhänger der grünen Asylpolitik, sondern alle Steuerzahler tragen. Das ist zwar auch dann der Fall, wenn die Kinder in ihren griechischen Lagern bleiben und dort mit deutschen Hilfsgeldern besser versorgt werden sollten. Der „moralische Gewinn“ der grünen Hypermoralisten wäre aber weit größer, könnten sie wie 2015 aller Welt demonstrieren, wie menschenfreundlich und weltoffen allein sie denken und handeln.

Mit christlicher Nächstenliebe hat Habecks Vorschlag wenig bis nichts zu tun. Zu ihr gehört nämlich ihrem Wesen nach die persönliche Hilfs- und Opferbereitschaft, die im Falle der Asylpolitik allenfalls bei der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe eine Rolle spielt. Außerhalb dieser Hilfe spielt sich das gesamte Asyl-Hilfssystem organisatorisch wie finanziell auf der Grundlage des deutschen Sozialsystems ab. Dieses entbindet den Einzelnen nicht nur in Fragen des Umgangs mit Asylbewerbern, sondern beispielsweise auch von Pflegebedürftigen grundsätzlich von allen persönlichen Hilfs- oder gar Opfer-Pflichten und überträgt diese spezialisierten staatlichen oder privaten Organisationen mit einem eigens qualifizierten Fachpersonal. Wer regelmäßig seine Steuern und Sozialabgaben entrichtet, ist damit zwangsläufig Teil eines auf humanitäre Leistungserbringung ausgerichteten Systems und erfüllt auf diese Weise gewollt oder ungewollt seine Pflichten zur Nächstenliebe.

Die mit dem modernen Sozialstaat einhergehende systemische Entkoppelung von persönlicher Hilfs- und Opferbereitschaft und moralischer Gesinnung erlaubt es allen „Gutmenschen“, ihren eigenen moralischen Haushalt und die moralische Anerkennung durch ihre Mitmenschen unter anderem dadurch zu steigern, dass sie Asylbewerber freien Zugang zum deutschen Sozialsystem gewähren, ohne für deren Unterbringung und Versorgung persönlich auch nur den kleinen Finger rühren zu müssen. Da die Asylbewerber für sie in aller Regel keine Konkurrenten um Arbeitsplätze und Wohnungen sind, besteht das einzige persönliche Risiko der Refugee-Welcome-Rufer darin, dass sie die mit der Massenzuwanderung verbundenen Ausgaben bei Steuern und Sozialabgaben mittragen müssen. Diese haben sie aber nicht alleine zu tragen, sondern können sie auf alle Steuerzahler und Sozialversicherungspflichtigen verteilen, auch wenn viele von ihnen keine Asylbewerber aufnehmen und versorgen wollen.

Dieser moralisch legitimierte finanzielle Transfer hat seit der Grenzöffnung des Jahres 2015 bislang unbekannte Ausmaße angenommen. Sie beliefen sich allein im Jahr 2018 laut FAZ vom 20. Mai 2019 für den Bund auf rund 23 Milliarden EURO, die laut der Bundesregierung aber leicht zu schultern sind. Dies erzeugte insbesondere bei den weniger gut betuchten Bevölkerungsschichten, denen seit Jahren gepredigt wurde, sie müssten zum Beispiel bei den Renten den Gürtel enger schnallen, gehörige Irritationen sowie eine zunehmende Abwehr der von der Bundesregierung im Namen der Grünen exekutierten „Willkommenskultur“. Die Bundesregierung sah sich, nachdem diese Abwehr auch noch in einen rasanten Stimmenzuwachs der AfD umschlug, wohl oder übel gezwungen, ihre Willkommenspolitik etwas zu modifizieren und den Bürgern zu versprechen, dass sie alles dafür tun werde, dass sich die grüne „Willkommenskultur“ des Jahres 2015 nicht wiederhole.

Das war nun allerdings alles andere als im Sinn der grünen Parteiführung, die den Herbst 2015 als eine der Sternstunden, wenn nicht als die Sternstunde deutscher Asyl- und Migrationspolitik betrachtet. Angesichts des Aufstiegs der AfD, der Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/2016, mehrerer islamistischer Anschläge zugewanderter Asylbewerber sowie zahlreicher Tötungsdelikte und Vergewaltigungen durch Asylbewerber mussten die Grünen das Projekt einer Wiederauflage und Fortführung ihrer „Willkommenskultur“ vorerst etwas auf Eis legen. Angesichts ihrer Wahlerfolge in Bayern und Hessen und bei den EU-Wahlen sowie angesichts ihrer Umfrageergebnisse und der Unterstützung, die sie in den Mainstream-Medien, allen voran den Talkshows von ARD und ZDF genießen, hat sich dies wieder etwas geändert. Aus Sicht der Parteiführung (und ihrer Berater) ist inzwischen wohl die Zeit reif, um einen neuen Anlauf in Richtung „Willkommenskultur“ zu unternehmen. Mit ihm lassen sich Signale an die eigenen Funktionäre, Mitglieder und Anhänger senden, dass man es angesichts möglicher Bündnisse mit der Union mit der Reaktivierung grüner Willkommenspolitik weiterhin ernst meint. Gleichzeitig lässt sich damit aber auch gut testen, wie die diesbezügliche Stimmung bei den Wählern und allen potentiellen Koalitionspartnern (CDU, CSU, SPD, Linke, FDP) ist. Besteht derzeit (schon) die Aussicht, gleichsam im Geleitzug von Greta und ihren Jüngern auch in der Asyl- und Migrationspolitik wie 2015 wieder die Meinungsführerschaft zu erobern?

Die Lager auf den griechischen Inseln, die sich trotz aller Vereinbarungen mit der Türkei zusehends füllen und sich teils in einem desaströsen Zustand befinden, eignen sich für einen solchen Vorstoß der Grünen mehr als der Verweis von Claudia Roth auf all die „Klimaflüchtlinge“, für die die Grünen gerne zusätzlich die Tore Deutschlands öffnen würden. Die Lage in Griechenland gleicht derjenigen in Budapest im Sommer 2015 und eignet sich hervorragend für neuerliche Appelle an das humane Gewissen der mit historischer und ökonomischer Schuld gegenüber Griechenland und allen „Flüchtlingen“ dieser Welt beladenen Deutschen. Anders als 2015 hält sich die Begeisterung nicht nur der Bürger, sondern auch der anderen Parteien, dem Aufruf von Habeck, eine erneute Aktion der moralischen Läuterung zu starten, bislang noch ziemlich in Grenzen. Allein der abgewählte, aber immer noch amtierende thüringische Ministerpräsident, Bodo Ramelow (Die Linke), sowie der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), haben sich umgehend bereit erklärt, Habecks Vorschlag zu folgen und signalisiert, dass sie bereit wären, dies als wahre Gesinnungstäter auch ohne die Erlaubnis der Bundesregierung zu tun.

Mit dabei wäre allerdings auch die katholische Caritas, wie die Süddeutsche Zeitung vom 23. Dezember berichtet. Bei ihr kann man allerdings nicht sicher sein, ob sie Habeck aus christlicher Nächstenliebe oder eher deswegen folgen will, weil angesichts gesunkener Asylbewerberzahlen ihre Einrichtungen weniger ausgelastet sind. Vielleicht kommt in ihrem Falle aber auch beides zusammen. Der deutsche Sozialstaat, zu dem nicht zuletzt auch die sozialwirtschaftlichen Großunternehmen der beiden christlichen Kirchen gehören, befreit seine Einzahler nämlich nicht nur von hergebrachten christlichen Pflichten der Nächstenliebe, sondern ermöglicht in deren Namen den mit ihm verbundenen Sozialunternehmen auch die eigene wirtschaftliche Existenz. Bert Brechts berühmter Spruch aus der Dreigroschen-Oper, zuerst kommt das Fressen, dann die Moral, trifft auf die deutschen Sozialunternehmen so nicht zu. Dort lautet er vielmehr: mit der Moral kommt auch das Fressen. Das weiß vermutlich auch Robert Habeck mit Blick auf das sich in Deutschland ausbreitende Asylgeschäft und dessen Betreiber.

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