Aller Wahrscheinlichkeit nach kennt kaum jemand im kalifornischen Santa Clara und in Palo Alto den Namen des deutschen Soziologen Helmut Schelsky. Auch nicht in Colombo auf Sri Lanka. Und ob jemand heute in der Führungsetage des Bundeswirtschaftsministeriums die Bücher des 1984 verstorbenen Wissenschaftlers liest – dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Dabei wirkt Schelskys Buch „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“ von 1975 interessanter und vor allem gegenwärtiger als vieles aus der Sachbuchproduktion von 2023.
Der Erfolg dieses Prinzips hängt eng mit dem gesellschaftlichen Aufstieg einer bestimmten Figur zusammen: des Scharlatans und – der Begriff soll hier fallen, weil er bisher noch zu selten vorkommt – der Scharlatanin. Wobei es sich geschlechtsunabhängig um eine ganz besondere Sorte handelt, die sich von Priestern, Heilern und Illusionisten alter Zeiten in einem wesentlichen Punkt unterscheidet. Jede Ära bringt einen ganz bestimmten Typus hervor, der zeitgleich in verschiedenen Ländern und auf ganz unterschiedlichen Positionen auftaucht. Bei dem hier beschriebenen modernen Scharlatan handelt es sich um eine Schlüsselfigur der Gegenwart.
Die hier geschilderten Fallbeispiele führen uns, wie oben schon angedeutet, nach Santa Clara, Palo Alto, Berlin und Colombo. Sie unterscheiden sich voneinander in vielen Einzelheiten, hängen aber trotzdem an einem Strang zusammen: der Überzeugung der einen, dass die anderen die Arbeit im Maschinenraum tun. Und, dass ein Scharlatan respektive eine Scharlatanin eine entscheidende Rolle dabei spielt.
In dieser kritischen Zeit zwischen April 2022 und dem 4. Januar 2023 übernahm Jay Ersapah, eigentlich Head of Risk für die Bank in Europa, Afrika und dem Nahen Osten, provisorisch auch noch die Risikokontrolle für die USA, also den Hauptmarkt der Bank. Da brannte es schon. Denn die Interimsrisikomanagerin tat in den acht Monaten erstaunlich viel – nur offenbar auf einem ganz anderen Gebiet als dem des Risikomanagements. Ersapah, nach eigener Auskunft eine „queere, farbige Person aus der Arbeiterklasse“, organisierte eine ganze Serie von LGBTQ+-Initiativen, etwa „Lesbian Visibility Days“, eine „Trans Awareness Week“, sie moderierte das EMEA Pride Forum und saß als Diskussionsteilnehmerin im Global Pride Forum der Bank auf dem Podium. Außerdem startete sie eine einmonatige Pride-Kampagne, und baute einen Gesundheits-Blog auf. In einem Unternehmensvideo erklärte Ersapah, sie könne „nicht stolzer sein“, für die SVB zu arbeiten, und dort „unterrepräsentierten Unternehmern“ zu helfen: „Ich fühle mich privilegiert, das Bewusstsein für gelebte queere Erfahrungen zu verbreiten und ein Gemeinschaftsgefühl für unsere LGBTQ+-Mitarbeiter und Verbündeten zu schaffen.“
Schelskys Beschreibung passt vollkommen auf die Bankerin und sie umgekehrt in seine Theorie. Sie kümmerte sich überwiegend um das, was er „Sinn- und Heilsvermittlung“ nannte, um den Überbau. Und so, wie sich die Endphase der Bank darstellt, ging sie fest davon aus, dass andere Kollegen ihre Arbeit tun, also Risiken früh genug erkennen würden. Möglicherweise hoffte sie auch, diese Notwendigkeit würde sich dadurch erledigen, dass die Schockwellen des Finanzmarkts aus irgendeinem Grund an Santa Clara vorbeilaufen.
Nicht weit von Santa Clara, in Palo Alto spielte sich ein Unternehmenswunder ab oder besser ein Unternehmerinnenwunder. Bis 2018 galt Elizabeth Anne Holmes als erfolgreichste Gründerin der Vereinigten Staaten. Finanzprofis bewerteten ihr Unternehmen Theranos, obwohl klein und erst 2003 gegründet, kurz vor seinem Zusammenbruch mit neun Milliarden Dollar. Das Unternehmen besaß nur ein einziges Produkt, allerdings ein sensationelles. Seinem Analysecomputer „Edison“ sollten nur ein paar Tropfen Blut genügen, um damit 200 verschiedene Tests durchzuführen, vom Cholesterinspiegel, Diabetes und vieles andere bis zur Krebsdiagnose. Und das sehr viel schneller und vor allem billiger als alle herkömmlichen Geräte. Nach der Darstellung von Holmes, welche die Stanford Universität kurz nach Studienbeginn schon mit 20 wieder verlassen hatte, handelte es sich bei Edison also um eine Art Thermomix der Labormedizin, der alles konnte und medizinische Analysen spottbillig machen würde.
Das Problem bestand darin, dass ihre Erfindung nie funktionierte. Edison spuckte eine Menge falscher Diagnosen aus, und zwar in beiden Richtungen: Er stellte Krankheiten fest, wo es keine gab, und entdeckte dafür andere nicht. Er funktionierte nicht nur nicht, sondern stellte eine Gefahr für die Getesteten dar. Ob Holmes überhaupt über die nötigen Fähigkeiten für die Computerisierung komplizierter Testverfahren verfügte, blieb offen. Ihr Partner Ramesh Balwani, ihr Geliebter und Nummer zwei bei Theranos, besaß jedenfalls keine einschlägigen Kenntnisse. Allerdings ein großes Talent darin, Mitarbeiter, die merkten, dass Edison keine brauchbaren Ergebnisse lieferte, einzuschüchtern, einzuwickeln oder bei Renitenz zu feuern.
Der dann zigfach wiederholte Satz vom weiblichen Steve Jobs ergab sich in den Medien nach dieser Vorbereitung praktisch von selbst. Die Figur des girl boss, der jungen Frau, die schon in ihren Zwanzigern an allen Männern vorbeizog, bediente sie in Perfektion. Damit ließen sich Zweifel am besten aus dem Weg räumen. Wer nicht an ihre Analysemaschine glaubte, lief Gefahr, als misogyner Patron dazustehen, der einer Superfrau den Erfolg nicht gönnte. Die Theranos-Chefin erzählte dem Aufsichtsrat, die Food and Drug Administration (FDA) und die WHO hätten die Funktionsfähigkeit von Edison bestätigt. Ein Telefonanruf bei den Organisationen hätte genügt, um diese Lüge auffliegen zu lassen. Den Investoren schwindelte Holmes hohe Umsätze vor. Schließlich kauften sie und Balwani heimlich Analysegeräte von Siemens, um überhaupt verwendbare Testergebnisse zu bekommen. Der Druck nach innen und die Fassade nach außen hielten die Theranos-Konstruktion erstaunlich lange zusammen, bis 2018 zwei Mitarbeiter die Aufsichtsbehörden informierten, die schnell feststellten, dass es sich bei Holmes Computer um eine gemeingefährliche Attrappe handelte (laut FDA lieferte Edison nur eine einzige Diagnose von angeblich 200 zuverlässig – Herpes). Theranos implodierte, seine Investoren verloren ihren gesamten Einsatz.
Im vergangenen Jahr verurteilte ein Gericht Holmes zu 11 Jahren Gefängnis. In dem Prozess – und hier liegt die Schlusspointe – verteidigte sie sich mit der Aussage, sie habe Aufsichtsratsmitglieder, Geldgeber und Öffentlichkeit belügen müssen, um Zeit zu gewinnen. Sie habe geglaubt, dass ihre Mitarbeiter Edison hinter dieser Kulisse noch irgendwie zu einem funktionierenden Gerät hätten machen können. Kurzum, sie hoffte, das Wunder, das sie schon nach außen verkauft hatte, würde sich durch die Arbeit der anderen nachträglich materialisieren. Vielleicht hielt sie das tatsächlich für möglich. Anders kann jemand auch kaum die Energie aufbringen, einfach weiterzumachen, obwohl ihr klar sein musste, dass sie jeden Tag auffliegen konnte. Die Mahnung für Hersteller berauschender Substanzen heißt zwar nicht grundlos: never use your own drug. Aber darin scheint das Besondere der modernen Scharlatane zu liegen: Anders als die Goldmacher früherer Jahrhunderte scheinen sie ihre eigene Illusion zu glauben.
Auf den 66 Seiten des „Nationalen Reformprogramm 2023“, die Habeck kürzlich ausarbeiten ließ, findet sich noch nicht einmal ein vager Hinweis, wie diese Lücke in sechseinhalb Jahren gestopft werden soll. Auch in den Reden des Ministers nicht. Es existieren auch weder Planungen für einen Gaskraftwerkspark noch für industrielle Großspeicher, und selbst wenn sie morgen begännen, wäre eine Fertigstellung in der kurzen Zeit völlig unrealistisch.
Großunternehmen wie BASF und Bayer, die immer größere Teile ihres Geschäfts ins Ausland verlagern, scheinen ihre Schlüsse zu ziehen. In den schon länger existierenden Medien spielt die kommende Versorgungslücke so gut wie keine Rolle. Habeck mit seinen Staatssekretären Patrick Graichen und Michael Kellner glaubt augenscheinlich fest daran, dass andere – die Ingenieure in den Leitwarten, die das Stromnetz steuern und überhaupt alle Fachleute auf der technischen Seite das System trotzdem irgendwie am Laufen halten. Beziehungsweise, dass andere buchstäblich die Arbeit erledigen, indem sie in französischen Kern- und polnischen Kohlekraftwerken die Energie herstellen und immer genau dann liefern, wenn sie in Habeckland fehlt. Der Minister und seine Helfer versichern, ohne in Einzelheiten zu gehen, nur ganz grundsätzlich, es werde alles gut gehen. Da ihr Projekt zu einer globalen Rettungsmission gehört, ist, wie es oft heißt, „Scheitern keine Option“. Aus der überragenden Wichtigkeit leitet sich demnach unmittelbar die Garantie ab, dass die Sache gelingt.
In der Figur des Politikers kommt vieles zusammen. Zum einen Schelskys Figur des priesterlichen Sinn- und Heilsvermittlers, zum anderen vieles, was an Jay Ersapah von der Silicon Valley Bank und Elizabeth Holmes erinnert. Mit Ersapah verbindet ihn sein Hang zu Themen, die nichts mit seiner eigentlichen Aufgabe zu tun haben, ihm aber am Herzen liegen und bei den Anhängern für gute Stimmung sorgen, beispielsweise eine Reise zu Indianern im brasilianischen Regenwald. Der Theranos-Gründerin ähnelt er noch stärker mit seinem unbestreitbaren Geschick, im Wechselspiel mit geneigten Medien eine Figur zu verkörpern, die wie Holmes perfekt auf mediale Erwartungen passt. Bei ihr wirkte der Steve-Jobs-Ähnlichkeitswettbewerb und die Girl-Boss-Rolle. Im Fall Habeck bebildern Fotos mit Wildpferden oder indianischer Willkommensbemalung die Außendarstellung des Minister-Philosophen, der öffentlich über das Politikersein an sich nachdenkt und das durchaus mit werblichem Erfolg. So ohne weiteres bekommt jemand nicht den Börne-Essayistik-Preis auf Vorschlag eines FAZ-Herausgebers. Über Holmes hieß es nicht zu Unrecht, sie sei so anders als andere Techniknerds und Unternehmerinnen. Das traf ja auch zu, nur eben ein bisschen anders, als es ihre Laudatoren meinten. Zu fast jedem Habeckporträt gehört die Versicherung, der Kinderbuchautor wirke gar nicht wie ein Berufspolitiker. In der Tat, niemand kann so wie er vor der Kamera stehen, von Möglichkeitsräumen sprechen und dabei dramatische Gesichtseffekte zeigen – außer vielleicht ein Luftgitarrensolist.
Apropos Möglichkeitsräume: Holmes ähnelt er vermutlich auch in dem Glauben an das nachgelieferte Wunder – hier eben ungeahnte Sprünge in der Speichertechnologie, eine bisher unbekannte Möglichkeit, an einer anderen Stelle große Mengen an Elektroenergie einzusparen, oder eine ganz andere Wunderwaffe der Transformation. Sollte sein Plan, praktisch alles zu elektrifizieren und gleichzeitig reihenweise grundlastfähige Kraftwerke abzuschalten, in einem Crash enden, würde er möglicherweise ähnlich wie Holmes sagen, ihm beziehungsweise den anderen, die sich um die technische Seite kümmern sollten, hätte eben die Zeit gefehlt.
Grundsätzlich gleichen Ersapah, Holmes, Habeck und etliche andere einander darin, dass sie ihre Energie fast völlig auf ihre Außendarstellung verwendeten und im Fall des Deutschen noch verwenden, und das mit erstaunlichen Resultaten. Fünf Jahre lang ein Unternehmen aufrechtzuerhalten, das faktisch nur aus einer Fassade besteht, das schafft nicht jeder. Es stellt auch eine beachtliche Leistung dar, als verantwortlicher Politiker der immer noch größten Volkswirtschaft Europas mit der Versicherung durchzukommen, es werde schon alles gut gehen, während die Warnlampen schon dunkelrot blinken, und sich dabei noch als der Nachdenkliche darzustellen, der sich im Amt aufreibt, um seinen „Auftrag für die Menschen“ (Habeck) zu erfüllen.
Eine verbreitete Überzeugung lautet, wirklich große Systeme – Wirtschaftsbranchen, Währungen, ganze Volkswirtschaften – könnten eigentlich kaum kaputtgehen, weil es in ihnen viele Auffanglinien gibt. Und eben die Arbeiter unter Deck, die Dinge am Laufen halten und notfalls auch reparieren können. Je größer ein System, desto wahrscheinlicher pendelt es sich auch nach schweren Erschütterungen wieder in einem stabilen Zustand ein. Das trifft bis zu einem bestimmten Punkt zu. Natürlich kollabieren Banken sehr viel leichter als ganze Volkswirtschaften. Aber auch das kann passieren.
Ein einprägsames Beispiel dafür gab es 2022. Es kam in den meisten deutschen Medien entweder gar nicht oder nur stark verkürzt vor. Im April 2021 verbot die Regierung von Sri Lanka unter Präsident Gotabaya Rajapaksa über Nacht den Einsatz von chemischem Dünger und Pestiziden in der Landwirtschaft der Insel. Mit dieser von oben erzwungenen Politik wollte er Sri Lanka in die erste „giftfreie Nation“ der Welt verwandeln, wie es in dem regierungsamtlichen „Programm für Wohlstand und Pracht“ hieß. Der große Umbruch wäre nicht möglich gewesen ohne die begeisterte Unterstützung westlicher NGOs für Rajapaksa. Neben diesen Kräften spielte die scharlataneske indische Aktivistin Vandana Shiva eine Schlüsselrolle, die seit Jahren mit einer Mischung aus Esoterik und Antikapitalismus über internationale Podien tingelt. Sie erklärte das Düngemittelverbot zum Beginn einer neuen goldenen Ära für die Landwirtschaft: „Diese Entscheidung hilft den Bauern definitiv, wohlhabender zu werden.“ Damit lieferte sie das Sinn- und Heilsversprechen; die konkrete Anstrengung, Sri Lanka in ein grünes Paradies zu verwandeln, sollte die Landbevölkerung übernehmen.
Dann passierte exakt das, was nahezu alle tatsächlichen Experten vorausgesagt hatten. Ohne Kunstdünger und Pestizide fiel der Reisertrag um 20 und die Teeernte um 18 Prozent. Tee gehört zu den Hauptexportartikeln der Insel. Sehr viele der ohnehin nicht reichen Bauern verarmten innerhalb kürzester Zeit. Reis verknappte sich, die Lebensmittelpreise schnellten nach oben. Außerdem bildete sich schnell ein Düngerschwarzmarkt, auf dem auch wirklich toxische, unkontrollierte Produkte landeten. Nach nur sechs Monaten nahm die Regierung das Düngerverbot wieder zurück. Damit konnte sie den Schaden nicht wieder gutmachen. Der katastrophale Einbruch seiner Landwirtschaft stürzte den Staat, der sowieso schon durch den Kollaps des Tourismus während der Corona-Zeit mit verschärften wirtschaftlichen Problemen kämpfte, in seine schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg. Am Ende stürmten wütende Bürger den Präsidentensitz und zündeten das Haus der Premiers an.
Weil sich die Figur des wirkungsvollen Scharlatans tatsächlich von den meisten Menschen unterscheidet, bezweifelt der eine oder andere, dass sie überhaupt existiert oder genauer, sie meinen, die Öffentlichkeit müsste diesen Typus eigentlich schnell durchschauen. Zu dieser Figur gehört allerdings fast immer eine enorme Überzeugungskraft, eine persönliche Aura, vor allem dann, wenn sie ihre eigene Erzählung tatsächlich glaubt. Mediale Netzwerke machen die Aurapflege außerdem deutlich leichter als in den belächelten vormodernen Zeiten. Heute bezieht sich ‚Heilsversprechen’ anders als früher, als es dabei vor allem um Himmel und Hölle ging, ganz direkt auf Heilung in jedem Sinn. In einer Öffentlichkeit die fast alles pathologisiert, von der „Erde, die Fieber hat“ und der kranken Natur bis zum Trauma durch verletzende Worte, wächst auch die Sehnsucht nach Wundertätern.
Noch vor der Verurteilung von Holmes entstand in den USA die achtteilige TV-Serie „The Dropout“, die Aufstieg und Fall der Wunderfrau erzählt. Wie immer das große Experiment des Robert Habeck ausgeht, es bietet alle nötigen Elemente für ein Filmdrama in Fortsetzungen. Kaum etwas erzählt so viel über eine Gesellschaft wie die Antwort auf die Frage, wen eine kritische Masse als Sinnvermittler anerkennt. Denn das hängt fast vollkommen von der Person ab. Und so gut wie gar nicht von der Lehre.