Tichys Einblick
Bundestagsdebatte

Habeck rechnet mit Merkels Klimapolitik ab, obwohl es die eigene ist

Energiepolitik wird in Deutschland weiterhin nicht als Wirtschafts- oder Sicherheitspolitik begriffen, sondern als Klimapolitik. Die Ampel zieht den Ruin der deutschen Wirtschaft der Erosion grüner Überzeugungen vor. Und morgen geht die politische Klasse in Urlaub, während das Land in ein Desaster abdriftet.

Fotoaktion der Grünen: "Volle Energie für Erneuerbare!" u.a. mit Katharina Dröge und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages in Berlin, 07.07.2022

IMAGO / Christian Spicker

Historiker werden vielleicht einmal den Juli 2022 als einen Höhepunkt des grünen Wahns bezeichnen. In einem vielsagenden Gespräch zwischen Markus Lanz und Wirtschaftsminister Robert Habeck fragt der Moderator nach: Können Sie ausschließen, die bis zu neunfach gestiegenen Erdgaspreise an die Endkunden weiterzugeben? Habeck: „Diese Möglichkeit besteht, wir haben sie uns geschaffen. Das ist ja eine politisch gewollte Erweiterung der Handlungsoptionen.“

— GreenWatch (@Watch_Greens) July 6, 2022

Offenbar wirkt der Mehltau der Merkeljahre beim Fernsehpublikum nach. Denn hätten die Zuschauer wirklich verstanden, was Habeck da sagt, dann müsste es heute eigentlich so ausschauen wie in den benachbarten Niederlanden – mit dem feinen Unterschied, dass eine solche Preiserhöhung nicht nur die Existenz der Bauern, sondern sämtliche Industriezweige und Haushalte betreffen würde. Zu dieser Politik passt die Ankündigung des Grünen, dass es keine staatliche Deckelung angesichts steigender Gaspreise geben werde. „Eine Deckelung der Preise wäre bei einem knappen Gut ein Signal: Energie ist nicht wertvoll, haut raus, was ihr wollt“, sagte Habeck am Mittwoch am Rande der Münchner Handwerksmesse.

Habeck hält die geregelte Stromversorgung für Luxus

Habeck würfelt mit der Existenz von Millionen, findet aber nichts dabei, da er eine geregelte Stromversorgung offenbar für Luxus hält. Selbst die dystopische Regierung in der Science-Fiction-Kommödie „Idiocracy“ erscheint im Vergleich kompetenter.

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Auch im Ausland blickt man mittlerweile besorgt auf den Motor der europäischen Wirtschaft wie europäischen Integration. Während deutsche Journalisten auf die sich anbahnende Währungs- und Finanzkrise blicken, die ein Schuldenland wie Italien zu Fall bringen könnte, blicken italienische Journalisten mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen auf den möglichen Kollaps der deutschen Industrie; wenn die deutsche Wirtschaft bricht, braucht man nicht länger über Spread, Banken, Zinsen oder Schulden zu philosophieren. Dann heißt es schlicht: Game over.

Das Magazin Bloomberg stellt mit einer Anspielung auf die erfolgreiche „Game of Thrones“-Reihe fest: Many Winters are coming. Der Journalist Javier Blas malt für Europa darin ein düsteres Zukunftsszenario. Die europäische Wirtschaft müsse sich auf Jahre hinaus auf eine Schließung von Industriesektoren einstellen, Lieferketten drohen zu brechen, ein Kollaps stehe bevor. Zitat:

Unter vier Augen sagen europäische Führungskräfte, dass sie die bevorstehende vierteljährliche Berichtssaison Mitte Juli nutzen werden, um weitere Werksschließungen anzukündigen. Betroffen sind die Branchen mit dem intensivsten Energieverbrauch: Düngemittel, Grundmetalle und Stahl, Chemie, Keramik, Glas und Papier. Aber zunehmend auch die Lebensmittelproduktion. Beheizte Gewächshäuser und Hühnerfarmen müssen mit astronomischen Energiekosten rechnen.

Bloomberg: es drohen Werksschließungen und der Zusammenbruch von Lieferketten in Europa

Angesichts dessen sei „keine Idee mehr zu verrückt“, ob es sich um den Weiterbetrieb von Kernkraft, die Einstellung von CO2-Limits, Kohleausbau oder neue Gasbohrungen handelt – selbst wenn das Erdbeben in Gebieten wie den Niederlanden bedeuten könnte. Die europäischen Regierungen müssten jetzt Entscheidungen treffen, am besten einen Gipfel veranstalten, um Jahre des Mangels zu managen, bevor es zu spät ist.

Javier hat diesen Artikel vor einer Woche geschrieben und den hohen deutschen Megawattstundenpreis von 250 Euro als Mitursache angeführt. Heute sind es mehr als 340 Euro – ein Allzeithoch. „Beim derzeitigen Preisniveau wird die deutsche Fertigung zusammenbrechen“, sagt Blas auf Twitter.

Wie bei der Flutkatatsrophe geht das Parlament vor der Energiekatastrophe in Urlaub

Doch in Deutschland ist die Reaktion auf diesen vorhergesagten Horror widersprüchlich. Statt echte Krisengipfel einzuberufen (die „Konzertierte Aktion“ als größter Stuhlkreis der Nation dürfte wie ihr Vorgänger in den 1960er Jahren scheitern), um die wirklich drängenden Probleme aufzugreifen und sich gesamteuropäisch abzustimmen – verabschieden sich Bundesregierung und Parlament am Freitag fröhlich in die Sommerpause. Ähnlich wie bei der Flutkatastrophe vor einem Jahr lässt man sich angesichts eines Desasters von historischer Dimension nicht seinen Urlaub nehmen.

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Ab dem 11. Juli dreht Gazprom die Pipeline Nord Stream wegen Wartungsarbeiten ab. Was danach passiert, weiß noch niemand so recht. Womöglich ist es auch nicht weiter wichtig. Denn die heutige Tagesordnung des Bundestages zeigt nur eines: vorwärts immer, rückwärts nimmer. Nein, es ist nicht so, als hätte das deutsche Parlament keinen Sinn für die Energiekrise. Allein die Handhabung und vermeintliche Lösung des Problems spricht Bände. Energiepolitik wird in Deutschland nicht als Wirtschafts- oder Sicherheitspolitik begriffen, sondern als Klimapolitik. Nicht nur die Ampel trägt dafür Verantwortung, sondern insbesondere die Union, die unter Merkel diesen Weg eingeschlagen hat, den bereits Rot-Grün unter Schröder wies.

Als erster Tagesordnungspunkt steht daher der Ausbau der Erneuerbaren Energien auf dem Programm. Stupide fertigt die Ampel die Entscheidungen vom Herbst letzten Jahres ab, die sich mit der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Situation nicht vertragen. Es ist der Tag 1 nach der EU-Entscheidung, dass die Kernkraft als nachhaltig und „grün“ einzustufen sei. Die grünen Tränen über die verlorene Causa fließen immer noch; doch gerade wegen dieser Niederlage scheint der Trotz umso größer, es heute noch einmal allen zeigen zu wollen.

Der grüne Junkie spricht davon, frei vom Fossilen zu sein und spritzt sich Erdgas

Habeck fällt in seiner Rede nichts anderes ein, als davon zu sprechen, dass Deutschland heute „im Regen“ stünde, weil man das nun zu verabschiedende Paket nicht vor zehn Jahren durchgezogen hätte. Wie Windkraft und Solar die dringend benötigte Grundlast erzeugen, bleibt auch in dieser Debatte ein gut gehütetes Geheimnis.

Denn für die Grundlast ist seit der unionsgeführten Energiewende und der grünen Idee einer „Brückentechnologie“ ausländisches Erdgas verantwortlich. Habecks Anhänger erklären solche Worte zu jener „Ehrlichkeit“, die sie am Wirtschaftsminister schätzen, obwohl es der Höhepunkt der Unehrlichkeit ist. Habeck rechnet mit Merkels Klimapolitik ab, obwohl es die eigene ist. Fracking-Gas und LNG-Terminals waren Habecks Alptraum als Landesminister in Schleswig-Holstein. Der grüne Junkie spricht davon, frei vom Fossilen zu sein – und spritzt sich Erdgas.

Die AfD will eine namentliche Abstimmung zur Kernkraft

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Da der heißgeliebte Stoff nun jedoch zum Problem wird, muss die Ampel am selben Tag über eine Reduzierung des Gasverbrauchs entscheiden. Dafür treten auch Ersatzkraftwerke im Falle eines Gasengpasses auf den Plan. Pikant: das gilt bei der Stromerzeugung im Bereich Kohle und Mineralöl, aber nicht Kernkraft. Die Ampel zieht den Ruin der deutschen Wirtschaft der Erosion grüner Überzeugungen vor. Die AfD hat daher eine namentliche Abstimmung über ein Weiterlaufen der Atomkraft in Deutschland angesetzt. Jeder soll am Ende die Namen der Bundestagsabgeordneten kennen dürfen, die sich für diese Politik entschieden haben. Da AfD-Anträge prinzipiell abgeschmettert werden, dürften es viele sein. Zugleich spricht sich die Fraktion für eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aus.

Auch die Union versucht einen Kontrapunkt zu setzen, der aber angesichts der langjährigen Verwicklung mit der Öko-Lobby und der Verantwortung für die Energiewende fragwürdig erscheint. Nur zaghaft setzt die Union den Weiterbetrieb „klimaneutraler“ Verbrennungsmotoren auf den Parlamentsplan. Darunter zählt die CDU/CSU-Fraktion E-Fuels und Wasserstoff, was angesichts der sich anbahnenden Krise nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist – wer soll sich diese Fahrzeuge bei einer drohenden Verarmung der Bevölkerung denn noch leisten können? Zwar gibt es auch aus der Union Signale, sich für einen Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke in Deutschland einzusetzen, doch dürfte eine Zustimmung zu den AfD-Anträgen ausgeschlossen sein. Parteipolitik schlägt erfahrungsgemäß Verantwortung für das Land. Es gilt schließlich Prioritäten in der anstehenden Wirtschaftskrise zu setzen. Stattdessen will die Union einen eigenen Antrag vorlegen.

Was sich hier darbietet, ist die Bankrotterklärung einer politischen Elite, die das Land seit mindestens zwei Jahrzehnten sehenden Auges ins Desaster zerrt. Niemand scheint die Lage wirklich ermessen zu können oder wünscht sich, dass Industrie und Bürger entweder auswandern oder unter der Last von Inflation, Preissteigerung und Energiekrise kollabieren. Entlastungen, so hatte es der Kanzler bereits angekündigt, seien vor der Pause sowieso nicht zu erwarten. Man müsse erst schauen, wie sich die bisherigen Pakete im Sommer auswirkten – und dann nachjustieren. Man kann nur hoffen, dass es an diesem Sankt-Nimmerleins-Tag noch etwas nachzujustieren gibt.

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