Die Außenministerin ist momentan gern jottwehdeh, „janz weit draußen“. Auf Palau im Pazifik, in Japan, in Indonesien, so weit als möglich entfernt von Deutschland, vom Zentrum des Desasters, an dem sie so ganz und gar nicht unschuldig ist. Der Finanzminister versucht die Krise, die er befeuert, in einer Märchenhochzeit auf Sylt zu vergessen, die ihn auch leider daran hindert, im Bundestag Ferda Ataman zur Kartoffel-Diskriminierungsbeauftragten des Bundes zu wählen. Der Energieminister schreibt derweil wie der allerfleißigste Regierungspoet über die herannahende Krise, die er durch Handeln hätte verhindern können, und trägt wie ein Minnesänger aus seinen Oden des Verzichts vor.
Nur der Bundeskanzler versucht noch, durch ostentative Ruhe den Durchbruch der Krise hinauszuzögern, indem er wie der Kapitän auf der Titanic die Katastrophe durch das Herunterkühlen von Panikattacken zu mildern trachtet. Außerdem sucht er nach einer Lösung, indem er weiterhin mit Putin spricht. Er weiß, dass die Welt nicht so einfach ist, wie es sich die Grünen und ihre Medien so vorstellen. Doch sie alle eint die Angst vor dem Herbst oder dem Winter, vor einer Zeit, in der weder Appelle noch Durchhalteparolen, auch nicht die Ausrufung der pandemischen Lage als Ultima Ratio, um Bürgerproteste und Energieaufstände zu verhindern, helfen werden.
„Schrecksekunde in Riga“, titelte am 20. April die Bild-Zeitung: „Auffahr-Unfall in Baerbock-Kolonne“ und informierte den Leser sogleich: „Schrecksekunde beim Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in Lettland: Auf der Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt der Hauptstadt Riga kam es am Dienstag in der Kolonne der Grünen-Politikerin zu einem Auffahr-Unfall. Betroffen waren die beiden mit Journalisten besetzten Kleinbusse.“ Symbolträchtiger geht es kaum noch, denn Baerbocks Auftritt in Riga stellt in der Tat einen der größten Unfälle deutscher Außenpolitik seit Bestehen der Bundesrepublik dar. Unter die Räder kamen die deutschen Interessen, die Interessen des deutschen Volkes, von dem die deutsche Außenministerin laut Schwur eigentlich Schaden abwenden sollte.
In Riga verkündete Annalena Baerbock – als stünde sie auf der Tribüne eines grünen Parteitages –: „Was wir mehr denn je tun müssen, ist, unsere Energieimporte von Russland ein für alle Mal zu beenden.“ Sie fügte hinzu, damit es auch der letzte Unterabteilungsleiter im Kreml verstehen musste: „Wenn wir diesen Schritt jetzt gehen, uns unabhängig zu machen von russischen fossilen Importen, dann muss das der Schritt für immer sein.“ Mit welchem Leichtsinn die Außenministerin mit dem „für immer“ die Ewigkeit berührt, zeigt die maßlose Überschätzung der Grünen, die Selbstvergottung.
Während Angela Merkel noch vom Ende her denken wollte und dadurch das Ende hervorbrachte, wechselten die Grünen vom Reich der Wirklichkeit ins Reich der Illusion. Sodann entwarf die Außenministerin, die „aus dem Völkerrecht kommt“, die atemberaubende Vision, dass Deutschland schnell und vollständig aus russischen Energieimporten aussteigen werde: „Aus Kohle bis Ende des Sommers. Öl halbieren wir bis zum Sommer und werden bis Jahresende bei Null sein.“ Auch den Import russischen Erdgases werde man in einem gemeinsamen europäischen Fahrplan durchführen. „Denn unser gemeinsamer Ausstieg, der Komplettausstieg der Europäischen Union, das ist unsere gemeinsame Stärke.“
Während ihres Besuchs in Riga, wo sie mit den Außenministern von Lettland, Estland und Litauen zusammentraf, wurde Baerbock nicht müde, immer wieder zu betonen: „Wir wollen alle Gaslieferungen auslaufen lassen, lieber heute als morgen.“ Spätestens nach Vernehmen dieser Worte dürfte man, wie man jetzt sieht, im Kreml keine Mühe mehr gescheut haben, um den innigen Wunsch der deutschen Außenministerin zu erfüllen, und zwar so schnell wie möglich. Baerbock beklagt heute, was sie selbst damals in Riga gefordert hat.
Zur Bekräftigung der Baerbockschen Vision und zur Motivation der Russen verkündete Robert Habeck keine zwei Wochen später nach einem Treffen der EU-Energieminister in Brüssel, dass ein Erdöl-Embargo gegen Russland „sehr wahrscheinlich“ kommen werde. Der deutsche Vizekanzler verriet am 2. Mai schon mal, dass im sechsten Sanktionspaket „sicherlich einiges zu Öl drin stehen“ werde. Habeck, der sich bereits am Vormittage seiner Apotheose fühlte, gab sich zuversichtlich, dass es gelingen werde, „auch widerspenstige Staaten zur Zustimmung zu bewegen“. Da die Grünen unter „widerspenstig“ nur „realistisch“ verstehen, hätte er auch von realistischen Staaten sprechen können.
Schon am 2. März hatte Robert Habeck klargestellt, dass Deutschland, mit dem er nach eigenen Worten noch nie etwas anzufangen wusste, und es auch heute nicht weiß, vorbereitet sei, sollte Russland seine Gaslieferungen stoppen: „Für den laufenden Winter und den Sommer kann ich Entwarnung geben, das würden wir gut überstehen.“ Er wollte sogar schon die Verzweiflung Wladimir Putins und seines Regimes, die immer größer würde, erblicken. Am 26. April sah Habeck Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdöl deutlich verringert und ein Ölembargo gegen Russland als „handhabbar“ an. Deutschland sei einer Unabhängigkeit von russischen Ölimporten „sehr, sehr nahe gekommen“. Doch der Energieminister Habeck hatte ja auch schon mal behauptet, dass Deutschland nur noch 12 Prozent seines Rohölbedarfs aus Russland beziehe.
Nach dem Treffen mit seiner polnischen Amtskollegin Anna Moskwa ließ der Minister die deutsche Medienwelt wissen: „Heute kann ich sagen, dass ein Embargo handhabbar für Deutschland geworden ist“, denn der Anteil russischen Öls an allen Rohöl-Importen des Landes liege nur noch bei zwölf Prozent. In Moskau dürfte man sich die Augen gerieben haben, denn die Wirklichkeit außerhalb der Träume des Ministers sah allerdings sehr anders aus. Tatsächlich lag die Importquote von Erdöl zu diesem Zeitpunkt nicht bei 12, sondern bei 28 Prozent.
Am Montag unterzeichneten Robert Habeck und sein tschechischer Amtskollege Jozef Sikula eine Absichtserklärung angesichts der Sorge vor dem Erdgas-Lieferstopp der Russen, ein gemeinsames Erdgas-Solidaritätsabkommen abzuschließen – am Dienstag mit Österreichs Klimaministerin Leonore Gewessler. Robert Habeck, der gern Erklären, Kommentieren und Verkünden mit Handeln verwechselt, gab der Welt schon mal vollmundig zu verstehen: „Wir helfen uns gegenseitig mit der Gasversorgung und werden das auch aus Deutschland für Tschechien tun.“
Allerdings vermied es der deutsche Energieminister, der es liebt, der Welt zu erklären, zu sagen, was in diesem Fall unter „gegenseitig“ zu verstehen ist, denn Tschechien wie Österreich sind so gut wie vollständig von russischen Gasimporten abhängig. Da bekanntermaßen Böhmen nicht am Meer liegt, stellen schwimmende LNG-Tanks keine Alternative dar, kurzfristig noch nicht einmal für Deutschland. Diesmal wird man sich im Kreml nicht mehr die Augen gerieben, sondern dürfte sich daran gewöhnt haben, die Auftritte grüner Spitzenpolitiker als Satire zu genießen.
Im Stile von Durchhalteparolen versucht der Minister, die Ergebnisse seiner desaströsen Wirtschaftspolitik zu verschleiern: „Ich bitte jeden und jede, jetzt schon einen Beitrag zum Energiesparen zu leisten.“ „Als Faustformel würde ich ausgeben: zehn Prozent Einsparung geht immer.“ Kabarettisten, so es noch welche gäbe, könnten formulieren, im Falle des Ministers gingen auch 100 Prozent Einsparung immer.
Die Tschechen sind jedenfalls klug genug, der Ampel nicht zu vertrauen, sie haben sich bereits Kapazitäten an einem künftigen LNG-Terminal in den Niederlanden gesichert. Nach den Pleiten in Katar und in Japan sind die Intensität der Sparappelle, die Dynamik der Preissteigerungen, die dazu führt, dass die Leute zum Sparen gezwungen werden, weil sie sich Energie nicht mehr leisten können, sowie die kommandowirtschaftlichen Elemente, die man als marktwirtschaftliche Instrumente zum Energiesparen zu verkaufen sucht, ein sicheres Indiz für das vollständige Scheitern grüner Politik und für das Ausmaß des grünen Irrationalismus.
Wie weitergehend das Realitätsbewusstsein fehlt, hat niemand besser dokumentiert als Habecks Vordenker und nunmehr Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium Patrick Graichen, der allen Ernstes auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Stephan Pilsinger schreibt: „Empfehlenswert ist die Ausstattung mit Notstromaggregaten insbesondere für Betreiber von kritischer Infrastruktur.“ Die Notstromaggregate sollten eine Überbrückungszeit von 72 Stunden gewährleisten. Niemand scheint den ehemaligen Chef des grünen Think Tanks Agora Energiewende darüber informiert zu haben, dass die Notstromaggregate die aus bösen fossilen Energieträgern hergestellten Kraftstoffe benötigen, aus die man doch aussteigen will. Im Lichte dieses Vorschlags erweist sich Habecks Eintreten für das Erdölembargo übrigens als besonders sinnvoll.
Man kann es chronologisch verfolgen: Je herber die Rückschläge in der Realität werden, umso pathetischer werden die Aufrufe zum Sparen, zur „Solidarität”, zur Notgemeinschaft – als ob man das nicht alles aus der Geschichte kennt: „Wir können nur unabhängiger von russischen Importen werden, wenn wir es als großes gemeinsames Projekt ansehen, an dem wir alle mitwirken.“ Wenn man an Ostern die Bahn oder das Fahrrad nehmen könne, sei das gut. „Das schont den Geldbeutel und ärgert Putin“, sagte Habeck. So einfach ist es, noch einfacher wird es, wenn die Bahn dann einfach nicht fährt. Durch den Lockdown wurden die Deutschen ja daran gewöhnt, nicht zu verreisen und zu Hause zu bleiben. Wie sagte Robert Habeck: „Das schont den Geldbeutel und ärgert Putin“? Wenn die von den Grünen getriebene Regierung nicht den Staat delegitimiert, dann ist es schleierhaft, was mit dem Wort von der Delegitimierung des Staates eigentlich gemeint sein soll.
Die Regierung ist am Ende, sie deindustrialisiert durch eine faktisch sozialistische Wirtschaftspolitik Deutschland, zerstört durch eine illusionäre Energiepolitik unter dem Stichwort Energiewende Deutschlands Wohlstand und droht, das Land in die schlimmste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 zu treiben. Habeck versucht sich mit dem Wort von den „externen Schocks“, mit dem Krieg in der Ukraine, mit dem Verweis auf Putins Kriegspolitik herauszureden, doch dass die Bundesrepublik diesen „externen Schocks“ hilflos ausgeliefert ist, resultiert aus dem politischen Versagen der sogenannten Eliten. Es ist die Arroganz und die Wirklichkeitsblindheit von Leuten, die den Wohlstand, den sie nicht erarbeitet haben, als gegeben voraussetzen. Man nennt es Dekadenz. In der DDR kursierte der Witz, dass zum neuen Wappentier des Staates das Krokodil erhoben würde: Obwohl das Wasser bis zum Hals steht, hat man immer noch eine große Klappe.
Inzwischen haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Energieminister Robert Habeck erfolgreich dafür eingesetzt, dass Kanada die Gasturbine nach Deutschland schickt, damit Deutschland sie zum Einbau in Nord Stream I den Russen übergibt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat unterdessen scharf gegen die Lieferung der Gasturbine an Russland via Deutschland protestiert. Angesichts dieser „inakzeptablen Ausnahme beim Sanktionsregime gegen Russland“ wurde in Kiew der kanadische Botschafter einbestellt. In einer Videobotschaft erklärte Selenskyj am Montagabend: „Wenn ein terroristischer Staat eine solche Ausnahme bei den Sanktionen durchsetzen kann, welche Ausnahmen will er dann morgen oder übermorgen? Diese Frage ist sehr gefährlich.“
Wie sagte Habeck: Die Ukraine bestimmt? Auch über den deutschen Winter?