Tichys Einblick
Gefahr von außen

Das Damoklesschwert über dem Kopf der Grünen

Der Zweckoptimismus, mit dem die Grüne Partei in die Sondierungsgespräche eingetreten ist, überdeckt eine Reihe von massiven Problemen. Das größte davon spielt merkwürdigerweise so gut wie keine Rolle in den aktuellen politischen Analysen. Von Michael Reichel

IMAGO / Frank Ossenbrink

Auch wenn sich nicht alle ihre Hoffnungen erfüllt haben, sonnen sich die Grünen in dem Gefühl, zumindest der moralische Sieger der Bundestagswahl zu sein. Der Zweckoptimismus, mit dem die Grüne Partei in die Sondierungsgespräche eingetreten ist, überdeckt allerdings eine Reihe von massiven Problemen. Das größte davon spielt merkwürdigerweise so gut wie keine Rolle in den aktuellen politischen Analysen.

Problem Nr. 1: Durch die Aufstellung von Annalena Baerbock als ‚Kanzlerkandidatin‘ – ein Anspruch, der im Rückblick wie Hybris anmutet – hat die Partei ihren Höhenflug eigenhändig gestoppt. Es ist müßig zu spekulieren, welches Ergebnis mit Robert Habeck als Spitzenkandidat erreichbar gewesen wäre, denn Politik findet nun einmal nicht im Irrealis statt. Die Konsequenz besteht jedenfalls darin, dass die Grünen sich nicht auf Augenhöhe mit der SPD wiederfinden, die ihnen um mehr als 10 Prozentpunkte enteilt ist, sondern mit dem anderen Juniorpartner einer Ampel-Koalition, der FDP. Um es in der bildhaften Sprache Gerhard Schröders auszudrücken: Diese Koalition hätte, sofern sie zustande kommt, einen ‚Koch‘ und zwei ‚Kellner‘. Die Hoffnung der Grünen, wenigstens zum Sous-Chef der Küche zu avancieren, hat sich einstweilen erledigt.

Problem Nr. 2: Von den vor der Wahl angedachten drei Koalitionen mit grüner Beteiligung hat die Variante Rot-Grün-Rot keine Mehrheit der Sitze erreicht. Das dürfte nicht nur den linken Flügel der SPD unter Saskia Esken und Kevin Kühnert schwer enttäuscht haben, sondern auch einen erheblichen Teil der Grünen. Angesichts der Gemeinsamkeiten in der Klima-Programmatik wären die erratischen Vorstellungen der Linkspartei in der Außen- und Verteidigungspolitik wohl schnell zur quantité négligeable erklärt worden. Und was die Sache noch schlimmer macht: Der Wegfall dieser Koalitionsmöglichkeit hat die Verhandlungsposition der ungeliebten FDP erheblich gestärkt.

Problem Nr. 3: Nicht weniger als 67 der insgesamt 118 Abgeordneten der grünen Bundestagsfraktion sitzen erstmalig in diesem Parlament. Erfahrene, langgediente Abgeordnete wissen, dass Politik – insbesondere in einer Koalitionsregierung – aus einem ständigen Ausgleich divergierender Interessen besteht, und dass sie im parlamentarischen Alltag nicht selten einem Kuhhandel gleicht. Es dürfte der Führung der Grünen schwer fallen, gerade die Parlamentsneulinge (die bereits „wenig Kompromissbereitschaft“ angekündigt haben) zu überzeugen, dass die aus den Verhandlungen resultierenden unvermeidbaren Abstriche am Wahlprogramm kein Verrat an den eigenen Idealen sind, sondern zweckdienlicher Pragmatismus. Die SPD wird auf einer ‚sozialverträglichen‘ Klimapolitik bestehen, die FDP auf einer ‚wirtschaftsverträglichen‘. Herauskommen wird ein arg gerupftes Klimakonzept, das für heftige Diskussionen in der grünen Fraktion und für Abweichler bei Abstimmungen sorgen wird. Denn auch hier gilt: Absolute Überzeugungstreue ist ein Luxus, den sich nur Parteien leisten können, die seit Jahrzehnten in der Opposition sitzen.

Problem Nr. 4: Die Führung der Grünen hat seit Langem angekündigt, dass die Ergebnisse von Koalitionsverhandlungen durch einen kleinen Parteitag unter Einbeziehung der rund 120.000 Mitglieder umfassenden Basis abgesegnet werden sollen. In diesem Rahmen dürften die bereits innerhalb der Fraktion zu erwartenden Kontroversen erneut aufflammen, allerdings in potenzierter Form. Wer den gesamten Wahlkampf vom hohen Ross herab geführt hat, mit dem Anspruch der moralischen Überlegenheit und einer wissenschaftlich unanfechtbaren Zukunftsvision, dürfte wohl erhebliche Probleme bekommen, den eigenen Mitgliedern die vor allem gegenüber der FDP gemachten Zugeständnisse als notwendiges Übel zu verkaufen. Das würde erst recht gelten, wenn die Verhandlungen über eine Ampel-Koalition wider Erwarten scheitern sollten und die grüne Führung mit der Perspektive einer Jamaika-Koalition vor ihre Basis treten müsste. Zweifellos würde Armin Laschet den Grünen in jeder Hinsicht entgegenkommen und noch das letzte Tafelsilber der CDU verscherbeln, um als Kanzler einer ‚Zukunftskoalition‘ reüssieren zu können. Doch nicht nur Markus Söder, sondern auch Laschets zahlreiche innerparteilichen Rivalen und nicht zuletzt die FDP würden eine Unterwerfung der CDU unter grüne Maximalforderungen zu verhindern wissen.

Problem Nr. 5: Sollte ein von den Grünen ausgehandelter Koalitionsvertrag all diese Hürden nehmen, wären die Probleme der Partei keineswegs beendet. Im Gegenteil: Am Horizont zeichnet sich eine neue Bedrohung ab, die den Namen Klimaliste trägt. Es handelt sich um eine radikalökologische Partei, die aus den Fridays-for-Future-Protesten hervorgegangen ist. Seit 2019 ist sie in einzelnen Bundesländern aktiv, im Juni 2021 hat sie sich als Klimaliste Deutschland auf Bundesebene konstituiert. Um bei der Bundestagswahl flächendeckend anzutreten, fehlte es ihr an Zeit zur Vorbereitung und an einer entsprechenden Organisationsstruktur. Natürlich war man sich auch im Klaren, dass jedes Wahlergebnis unter 5 Prozent nicht zur Stärkung des Klimaschutzes, sondern lediglich zur Schwächung der Grünen führen würde. So beschränkten sich einzelne ihrer Mitglieder darauf, als Direktkandidaten in ihren Wahlkreisen anzutreten. Doch nun hat die Partei vier Jahre Zeit, eine wahlkampffähige Infrastruktur aufzubauen, bei Landtags- und Kommunalwahlen anzutreten (nicht zu vergessen die gerne als Protestwahl genutzte EU-Wahl) und ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Vor allem dürfte es ihr zugutekommen, dass nach dem Abflauen der Corona-Pandemie die Fridays-for-Future-Demonstrationen wieder an Fahrt gewinnen. Wohlgemerkt handelt es sich bei den Anhängern der Klimaliste um Leute, denen bereits das Klima-Programm der Grünen nicht weit genug geht. Wie sie sich zu einer durch Koalitionskompromisse verwässerten Klima-Politik einer grünen Regierungspartei stellen würden, kann man sich leicht ausmalen. Die grüne Führung würde sich künftig in einer neuen Rolle wiederfinden: Sie wäre nicht mehr der Antreiber, sondern die Zielscheibe der FFF-Proteste.

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Im Prinzip droht den Grünen das gleiche Schicksal wie den übrigen Altparteien des Bundestags. Die SPD musste 2005 zähneknirschend mitansehen, wie sich aus ihren eigenen Reihen die WASG als Protest gegen die wirtschaftsfreundliche Realpolitik des SPD-Kanzlers Schröder formierte und 2007 mit der PDS zur LINKEN fusionierte. Von diesem Aderlass hat sich die SPD bis heute nicht erholt. Dasselbe Schicksal ereilte 2013 die CDU, als Bernd Lucke und weitere vormalige Mitglieder dieser Partei, die den Linksruck der CDU unter Kanzlerin Merkel nicht länger akzeptieren konnten, sich zur Gründung der AfD entschlossen. Auch wenn diese Partei inzwischen zu einem Sammelbecken all jener geworden ist, die sich von den traditionellen Parteien vernachlässigt und bevormundet fühlen, so steht doch außer Frage, dass sich die AfD ohne die ‚Sozialdemokratisierung‘ der CDU nicht in bürgerlichen Wählerschichten hätte etablieren können. Der FDP wiederum droht Ungemach von den Freien Wählern, die in den letzten Jahren ihren Stimmenanteil kontinuierlich ausbauen konnten und in den Gefilden der FDP-Klientel wildern. Für eine Partei wie die FDP, die in ihrer Geschichte immer wieder mal mit der 5-Prozent-Hürde zu kämpfen hatte, ist das eine ernsthafte Bedrohung – und ein zusätzlicher Grund, bei Koalitionsverhandlungen die Erwartungen der eigenen Wählerschaft tunlichst nicht zu enttäuschen.

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Nun trifft es also auch die Grünen. Anders als bei den drei zuvor genannten ‚Konkurrenz-Parteien‘, die von Wählerwanderungen unterschiedlicher Provenienz profitieren und nicht primär eine einzige Partei schwächen, wären alle Stimmen für die Klimaliste Fleisch vom Fleische der Grünen. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2021 erreichte die Klimaliste BW aus dem Stand 0,9 Prozent der Stimmen. Das klingt zunächst einmal nicht nach viel, ist aber für eine gerade erst gegründete Vereinigung beachtlich und in Zukunft sicherlich ausbaufähig. Ein Schaden für die Grünen würde bei kommenden Wahlen nicht nur dann entstehen, wenn die Klimaliste über 5 Prozent käme, sondern bereits ein Ergebnis von 2 oder 3 Prozent der Stimmen – die dementsprechend den Grünen fehlen würden – könnte bewirken, dass zum Beispiel die Hoffnung der Grünen auf eine Kanzlerschaft hinfällig würde. Im aktuellen Bundestag sind es gerade einmal 1,6 Prozentpunkte Abstand, die bei einer großen Koalition den Führungsanspruch der SPD gegenüber der CDU begründen würden. Generell ist die heutige Parteienlandschaft so fragmentiert und die Wählerbindung so stark zurückgegangen, dass die Parteien um jeden Prozentpunkt, ja um jede Stimme kämpfen müssen.

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Bereits einmal liefen die Grünen Gefahr, einen nicht unerheblichen Teil ihrer Anziehungskraft an eine neue Partei zu verlieren. In den Jahren 2011 bis 2012 hatte die kurz zuvor gegründete Piratenpartei einen Höhenflug, der ihr den Einzug in vier Landtage und bundesweite Umfrageergebnisse von zeitweise über 10 Prozent bescherte. Vor allem bei den internetaffinen Jungwählern konnte sie erheblichen Zuspruch verzeichnen. Zu verdanken hatte sie das nicht zuletzt ihrer charismatischen und telegenen Geschäftsführerin Marina Weisband (die die Piraten später verließ und 2018 den Grünen beitrat). Die Grünen können von Glück reden, dass sich die Piratenpartei infolge interner Streitigkeiten von selbst zerlegte und wieder aus dem Spiel nahm. Doch was vor rund zehn Jahren noch abgewendet werden konnte, schwebt nun wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der grünen Parteispitze: die drohende Abwanderung eines Teils ihrer Kernklientel zu einer neuen Partei, die ähnliche Ziele verfolgt, aber noch radikaler, einer Partei, die frisch und unverbraucht ist und keines ihrer hehren Ideale auf dem Altar des parlamentarischen Pluralismus zu opfern gezwungen war.

Es ist nicht sicher, ob die Klimakrise den ökologisch bewegten Parteien überhaupt weitere Stimmengewinne bescheren wird – und falls ja, wem diese Stimmen zugutekämen. Sobald grüne Politik in die Praxis umgesetzt wird, werden viele ihrer Wähler zum ersten Mal im vollen Umfang registrieren, welche ausufernden Kosten und welche Einschränkungen an Lebensqualität bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes damit einhergehen. Jeder Versuch, diese Auswirkungen abzufedern, wird aber von radikalen Vertretern der Bewegung – wie etwa der Klimaliste – als mutwillige Zerstörung unserer Zukunft gebrandmarkt werden. Die Grünen könnten zerrieben werden zwischen den Sachzwängen einer Regierungsbeteiligung und den hochgesteckten Erwartungen kompromissloser Klimaaktivisten. Und während die erste grüne Regierungsbeteiligung von 1998 bis 2005 noch von einem innerparteilichen Zwist zwischen ‚Realos‘ und ‚Fundis‘ überschattet war, ist der stärkste Widerstand diesmal von hochmotivierten Weltrettern außerhalb der eigenen Partei zu erwarten. Aber dies haben die Grünen niemand anderem als sich selbst zuzuschreiben. Wer eine Politik des moralischen Absolutismus betreibt, darf sich nicht beklagen, wenn er daran gemessen wird.


Prof. Dr. Michael Reichel

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