Tichys Einblick
Der Grünen Problem mit den Deutschen

Deutschland?

Bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 verloren die Grünen als Gegner der Vereinigung fast die Hälfte ihrer Wähler, blieben mit 4,8% unter der 5-Prozent-Hürde. Weshalb nun, eine Generation später, für die Grünen sich die Gretchenfrage stellt: Nun sag, wie hast du’s mit den Deutschen?

Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen

IMAGO / photothek

Der Programmentwurf der Grünen für die Bundestagswahl 2021 trägt den Titel: „Deutschland. Alles ist drin.“ Im Vorfeld des Parteitages vom 11.-13. Juni hatten über 300 Mitglieder den Änderungsantrag gestellt, das Titelwort Deutschland zu streichen. Auf dem Parteitag wurde dann dieser Antrag zurückgezogen. Aber auch mit Deutschland haben die Grünen ein Problem, sozusagen ihre „Deutschenfrage“.

Was sprach bei den Grünen gegen das Titelwort Deutschland im Wahlprogramm? Ihr Kreisverband Hamm (Westfalen) befürchtete etwa, dieser Ländername könne „sehr negativ assoziiert werden“, im Sinne von „nationalistischer Politik“, „Deutschland first à la Trump“ oder gar „Deutschland über alles“. Also: Besser streichen, neudeutsch: canceln. Allerdings hätte das die Grünen nicht von den „negativen Assoziationen“ befreit; denn Deutschland kommt nicht nur im Titel ihres Wahlprogramms vor, sondern auch im Text, und zwar ziemlich häufig: 81-mal (auf 136 Seiten).
in Deutschland

Bei gut der Hälfte dieser Belege handelt es sich um den Präpositionalausdruck in Deutschland; einige Beispiele:
● Arbeitsplätze/Kohlekraftwerke/Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland
● Menschen, die ohne Papiere in Deutschland leben (S. 66)
● In Deutschland gelten gut sechs Millionen Menschen ab 18 Jahren als „funktionale
Analphabet*innen“ (S. 81)
● Wer in Deutschland geboren wird, soll die Möglichkeit erhalten, deutsche*r Staatsbürger*in zu werden (S. 98)
● Menschen in Deutschland mit familiären Bindungen in die Türkei (S. 122)

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Der Ausdruck in Deutschland bezeichnet hier das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. In einem Wahlprogramm muss dieser Staat irgendwie benannt werden: Die Wähler wollen schließlich wissen, was eine Partei für den Staat, in dem sie leben, vorhat, und dieser Staat heißt nun einmal amtlich „Bundesrepublik Deutschland“, in Kurzform: Deutschland.

Gibt es hierfür sprachliche Alternativen? Am einfachsten wäre es, als Kurzform nicht den zweiten Bestandteil des amtlichen Namens zu wählen, sondern den ersten, also: Bundesrepublik. Das würde aber heute zu Missverständnissen führen, weil man unter Bundesrepublik eher „die alte Bundesrepublik“ (1949-1989) vor der Wiedervereinigung versteht. Wer Deutschland vermeiden will, muss deshalb zu Umschreibungen greifen: unser Land, unser Staat, dieses Land u. Ä. Solche Umschreibungen kommen auch im grünen Programm vor, aber nur gelegentlich; systematisch gebraucht, würden sie die Frage aufwerfen, warum der richtige Namen des Landes bzw. Staates nicht gesagt wird.

Gehört (nicht) zu Deutschland

Das Wort Deutschland tritt im Wahlprogramm der Grünen fast nur als staatlich-geographischer Begriff auf, z. B. klimaneutrales Deutschland, Finanzplatz Deutschland oder – wie gesagt – in Deutschland. Es gibt aber (neben dem Titel) auch einige Aussagen, in denen Deutschland „mehr“ bedeutet als einen Standort:
● Deutschland ist ein Einwanderungsland (S. 98)
● Deutschland ist vielfältig (S. 35)
● Der Islam gehört zu Deutschland (S. 92)

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Es geht hier um wesentliche Merkmale von Deutschland, genauer: des von den Grünen erwünschten Deutschland. Ein „Einwanderungsland“ im politischen Sinn, bei dem das Staatsvolk sich nicht nur durch Geburten im Lande ergänzt, sondern auch durch gezielte Aufnahme zukünftiger Bürger von außerhalb, war Deutschland nie; es hat nicht einmal ein „Einwanderungsgesetz“. Faktisch ist es allerdings in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Migrationsplattform geworden, wo nicht der Staat die „Einwanderer“ auswählt, sondern die Einwanderer den Staat und dann „eben da sind“.

Auch unter der „Vielfalt“ Deutschlands verstehen die Grünen etwas anderes als das traditionelle Länderlob, welches die unterschiedlichen Landschaften (von der Küste bis zum Hochgebirge) pries sowie die Verschiedenheit der regionalen Sprachen (Dialekte) und Volksstämme. Die grüne Vielfalt bezieht sich auf die sexuelle Orientierung und internationale Herkunft der Bevölkerung – beides keine deutschlandtypischen Merkmale.

Das Wort Deutschland ist – so die klassische Wörterbuchdefinition – ein „Ländername für das Territorium der deutschen Nation“. In der tausendjährigen Geschichte dieser Nation, der Deutschen, spielte der Islam keine direkte Rolle: Deutschland grenzte nicht an die islamische Welt und hatte bis Mitte des 20. Jahrhunderts weniger als 10.000 muslimische Einwohner. Heute sind es ca. 5 Millionen, insofern gehört der Islam zu den Religionen in Deutschland. Mit der Aussage „der Islam gehört zu Deutschland“ meint das grüne Programm aber nicht die triviale Tatsache, dass es den Islam in Deutschland gibt, sondern dass diese Religion wesentlich für Deutschland sei. Unwesentlich hingegen sind – zumindest sprachlich – die Deutschen: sie kommen kein einziges Mal im Wahlprogramm vor.
Aber geht das, ein Deutschland ohne Deutsche? Für die Grünen durchaus: Ihre Bundesrepublik Deutschland ist grundsätzlich offen für alle Menschen (8 Milliarden), sozusagen ein „Menschland“, und auch die 75 Millionen Deutschen könnten als Menschen darin ihren Platz finden.

Von theodiscus zu „Nie wieder Deutschland“

Der Worttyp deutsch hat eine 1.300-jährige Geschichte. Er ist – in der mittellateinischen Form theodiscus – zuerst als Sprachname (lingua theodisca) belegt und bezeichnete im Reich Karls des Großen (765-814) die germanischen Volkssprachen im Unterschied zu den romanischen Volkssprachen und der Bildungssprache Latein. Im frühmittelhochdeutschen Annolied (um 1080) kommt deutsch nicht nur als Sprachname vor (diutischin sprecchin „deutsch sprechen“), sondern auch als Volks- und Ländername: diutischi liuti „deutsche Leute“, diutsche lant „deutsche Lande“ (die Zusammenschreibung setzt sich erst im 16. Jahrhundert durch).

Bis Ende des 18. Jahrhunderts war Deutschland ein unscharfer geographischer Begriff für das deutsche Siedlungsgebiet in Mitteleuropa, und als Deutschen bezeichnete man jeden deutscher Muttersprache, unabhängig von seiner staatlichen Zugehörigkeit. In der Goethezeit (1770-1830) erweiterte sich diese sprachlich-geographische Grundbedeutung von deutsch durch eine kulturelle Komponente: die gebildeten Deutschen verstanden sich als eine „Kulturnation“, deren intellektuelles und künstlerisches Feld der gesamte deutsche Sprachraum war. Dieses „geistige“ Deutschland blieb zunächst vom staatlich-politischen Leben getrennt, schlug aber im Laufe des 19. Jahrhunderts in ein politisches Bewusstsein um: „Wir wollen nicht glauben“, schrieb 1842 der Literaturhistoriker Gervinus in seiner Geschichte der deutschen Dichtung, „dass diese Nation in Kunst, Religion und Wissenschaft das Größte vermocht habe, und im Staate gar nichts vermöge.“

8. Mai 1945
Der Jahrestag der Niederlage – und die neudeutschen Narrative
Mit der Reichsgründung von 1871 verengte sich der Deutschlandbegriff sprachlich auf das Territorium des neuen Deutschen Reiches, und unter „Deutschen“ verstand man nun in erster Linie dessen Staatsbürger. Nach dem Ende des Deutschen Reiches, 1945, verschwand Deutschland von der politischen Landkarte. Auf seinem Boden entstanden 1949 zwei Staaten, die beide in ihrem Namen den Bestandteil deutsch führten: die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Bis Ende der 1950er Jahre erhoben beide den Anspruch, ganz Deutschland zu vertreten. Die DDR gab dann diese gesamtdeutsche Orientierung auf und bezeichnete sich 1974 in Art. 1 ihrer Verfassung nicht mehr als „sozialistischer Staat deutscher Nation“, sondern als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“.

Auf die deutsche Sprache hatten die vierzig Jahre politischer Zweistaatlichkeit keinen wesentlichen Einfluss: sie blieb gesamtdeutsch, ebenso wie das kulturnationale Bewusstsein. Das erklärt, warum 1989/90 die deutsche Zweistaatlichkeit innerhalb nur eines Jahres beendet wurde: das Staatsvolk, die Deutschen, vereinigte sich politisch wieder.

Es gab damals in der (alten) Bundesrepublik nur eine Partei, welche diese Entwicklung nicht wollte: die Grünen. Noch im Frühjahr 1990 demonstrierten sie in zahlreichen westdeutschen Städten gegen die Wiedervereinigung unter dem Motto: Nie wieder Deutschland!

Das war selbst den Anhängern der Grünen zu viel. Bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 verlor die Partei fast die Hälfte ihrer Wähler, blieb mit 4,8% unter der 5-Prozent-Hürde und kam nicht in den Bundestag. Allerdings nur für vier Jahre, weshalb nun, eine Generation später, für die Grünen sich die Gretchenfrage stellt: Nun sag, wie hast du’s mit den Deutschen?

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