Am Ende kommt es wahrscheinlich anders, als man denkt
Roland Springer
Der inzwischen angelaufene Koalitionspoker macht deutlich, dass zeitgleich Verhandlungen über eine „Ampel-Koalition“ wie eine „Jamaika-Koalition“ stattfinden werden, um die jeweils anderen zu möglichst weitreichenden Zugeständnissen zu zwingen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Fortsetzung der „GroKo“.
Von den Medien wird derzeit mehrheitlich eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP hofiert, obwohl für eine solche Koalition im Wahlkampf von keiner der beteiligten Parteien geworben worden ist. Dasselbe gilt für die von den meisten Medien weniger oder auch gar nicht hofierte Koalition aus Union, Grünen und FDP. Wenn überhaupt, dann haben während des Wahlkampfs SPD und Grüne für ein rot-grünes und Union und FDP für ein schwarz-gelbes Bündnis geworben, nicht jedoch für eine „Ampel-Koalition“ und ebenso wenig für eine „Jamaika-Koalition“. Über sie wird inzwischen aber aufgrund der Ablehnung beider Bündnis-Angebote durch die Wähler verhandelt. Nicht geworben wurde außerdem, entgegen den üblichen Gepflogenheiten, von den beiden Regierungsparteien Union und SPD für eine erneute Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit. Deren Resultate priesen sie jeweils im Wahlkampf aber öffentlich gleichwohl als überaus positiv.
Stellt man in Rechnung, dass eine Wahl auch immer eine Abstimmung über die Fortsetzung oder Beendigung einer gerade amtierenden Regierung ist, dann fällt auf, dass die „GroKo” aus Union und SPD wider Erwarten rechnerisch mit zusammen knapp 50 Prozent der Zweitstimmen weit vor den beiden im Wahlkampf präsentierten anderen Koalitionsvarianten liegt. Für Schwarz-Gelb votierten nur knapp 36 Prozent, für Rot-Grün nur knapp 41 Prozent der Wähler. Die SPD-Führung warb im Wahlkampf zudem mehr oder weniger unverhüllt für eine rot-grüne Koalition unter Beteiligung der Linken, die aber ebenfalls nur etwas mehr als 45 Prozent erreichte. Ähnliches gilt für die schwarz-grüne Koalitionsvariante, mit der lange Zeit die Union wie auch die Grünen liebäugelten. Sie erhielt knapp magere 39 Prozent, obwohl sie in den Umfragen zeitweise bei deutlich über fünfzig Prozent lag.
Die einstigen Wahlverwandtschafts-Koalitionen von Schwarz-Gelb oder Rot-Grün sind nach Lage der Dinge in Deutschland bei einer Bundestagswahl nicht (mehr) mehrheitsfähig. Dasselbe gilt für das rot-grün-rote oder das schwarz-grüne Koalitions-Experiment. Von daher wäre es eigentlich naheliegend, Union und SPD zögen erneut eine Fortsetzung ihrer „GroKo” in Erwägung, dieses Mal mit Olaf Scholz als Kanzler. Genau dies tun sie aber bislang nicht. Die Union, weil sie das Kanzleramt behalten will, die SPD, weil sie die Union endlich in die Opposition schicken möchte. Beide sehen sich daher gezwungen, für die von ihnen jeweils angestrebte rot-grüne respektive schwarz-gelbe Wunsch-Koalition um den Wahlverwandtschafts-Partner des jeweils anderen GroKo-Partners zu buhlen. Der SPD müsste es gemeinsam mit den Grünen gelingen, die FDP für eine „linke“ (öko-soziale) Koalition zu begeistern. Die Union müsste es zusammen mit der FDP schaffen, die Grünen für eine „rechte“ (bürgerliche) Koalition zu gewinnen. Eine, freundlich ausgedrückt, überaus anspruchsvolle Zielsetzung, deren Erfolgsaussichten bei nüchterner Betrachtung alles andere als rosig sind, trotz aller derzeitigen Beteuerungen von allseitiger Gesprächs- und Kompromissbereitschaft auf „gleicher Augenhöhe“.
Zwischen SPD, Grünen und FDP besteht auf fast allen Politikfeldern zwar ebenso weitgehende Übereinstimmung in den Zielsetzungen wie zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP, nicht jedoch in den Maßnahmen zur Zielerreichung. Das gilt insbesondere für die Klima- und Energiepolitik, die Europapolitik und die Migrationspolitik. Bei weitgehend identischen Zielen setzt die FDP anders als SPD und Grüne auf weniger anstatt auf mehr staatliche Regulierung, während umgekehrt die Grünen, anders als die Union und die FDP, wiederum die staatliche Regulierung nicht nur auf dem Feld der Klimapolitik deutlich ausweiten wollen. Hinzu kommen einige Politikfelder, in der sich die designierten Ampel- respektive Jamaika-Koalitionäre nicht nur in den Maßnahmen, sondern schon in den Zielen deutlich voneinander unterscheiden, allen voran in der Steuer-, Finanz- und Schuldenpolitik. Während SPD und Grüne laut ihren Wahlprogrammen eine Erhöhung des Staatshaushalts mittels der Erhöhung bestehender und der Erhebung zusätzlicher Steuern sowie eine Ausweitung und vollständige Vergemeinschaftung von Schulden innerhalb des EURO-Raums anstreben, lehnen CDU, CSU und FDP dies laut ihren Wahlprogrammen mehr oder weniger deutlich ab.
Eine „Ampel-Koalition“ hätte von daher nur Aussicht auf Erfolg, wenn entweder SPD und Grüne deutliche Abstriche an ihren „linken“ Versprechungen gegenüber ihren Wählern machen würden oder die FDP dies umgekehrt mit ihren „rechten“ Versprechungen gegenüber ihren Wählern täte. Hinzu kommen die Differenzen, die es zusätzlich zwischen den Wahlversprechen der SPD und der Grünen, etwa auf dem Feld der Klimapolitik, gibt. Alle drei Parteien stehen somit in hohem Maße unter dem Druck, ihre zur Mobilisierung der eigenen Wählerschaft im Wahlkampf bewusst hochgeschraubten Wahlversprechen ganz oder teilweise zu brechen, um in Regierungsämter zu kommen. Bei ihren jeweiligen Wählern kann dies schon bei den nächsten Landtagswahlen zu entsprechenden Reaktionen führen, die wiederum Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat haben könnten, auf dessen Zustimmung jede Regierung mehr denn je angewiesen ist. Hinzu kämen die innerparteilichen Spannungen, die sich aus als zu groß empfundenen Zugeständnissen bei allen drei „Ampel-Koalitionären“ ergeben können.
Gleiches gilt umgekehrt aber auch für die Partner einer „Jamaika-Koalition“. Hier stünden nicht nur die Grünen vor der Frage, wie sie ihren Funktionären, Mitgliedern und Wählern ihre Zugeständnisse an CDU, CSU und FDP erklären, sondern diese Parteien vor demselben Problem gegenüber ihren Mitgliedern und Wählern. Im Falle des Zustandekommens einer der beiden Koalitionen müssten alle beteiligten Gesprächspartner daher versuchen, nicht die von ihnen gemachten Zugeständnisse an die anderen Parteien, sondern deren Zugeständnisse an die eigene Partei und damit den eigenen „Verhandlungserfolg“ öffentlich in den Vordergrund zu stellen, selbst wenn dieser äußerst dünn ausfallen sollte. Nur so ließe sich verhindern, dass einem oder auch mehreren der Koalitionäre der abgeschlossene Koalitionsvertrag schon bald auf die Füße fällt, es sei denn, man einigt sich darauf, einfach die Politikfelder auf die jeweiligen Partner zu verteilen, die dort dann weitgehend unbehelligt ihre Politik betreiben können. Von dieser österreichischen Lösung ist in Deutschland bislang aber keine Rede.
Die inzwischen schon begonnenen informellen und formellen Sondierungsgespräche zeugen ganz im Gegenteil unmissverständlich von dem Bemühen der FDP und der Grünen, durch das Offenhalten beider Koalitions-Optionen den Druck auf CDU/CSU und SPD zu erhöhen, durch weitreichende Zugeständnisse an ihre jeweiligen politischen Vorhaben die Koalitionshürden für eine Beteiligung der FDP an einer „Ampel-Koalition“ und für eine Beteiligung der Grünen an einer „Jamaika-Koalition“ möglichst abzusenken. Je niedriger diese Hürden sind, desto leichter wird der Einstieg nach „links“ für die FDP oder nach „rechts“ für die Grünen, desto größer wird aber gleichzeitig auch der Druck auf die jeweils anderen Koalitionspartner, ihre Wahlversprechen zu brechen.
Sobald die FDP ihre „Ampel-Gespräche“ oder die Grünen ihre „Jamaika-Gespräche“ beenden und sich für den bislang von ihnen favorisierten Wunschpartner in Gestalt der SPD respektive der Union entscheiden sollten, säßen diese beiden Parteien mit ihren jeweiligen Wunschpartnern dann freilich wieder am deutlich längeren Hebel. Der Druck auf eigene Zugeständnisse im Verhandlungsprozess stiege bei der FDP respektive den Grünen gewaltig. Ein Ausstieg aus laufenden Verhandlungen, um das eigene politische Gesicht nicht gänzlich zu verlieren, wie ihn die FDP im Jahr 2017 vollzog, dürfte dann kaum noch möglich sein, allenfalls noch das Angebot, eine rot-grüne respektive eine schwarz-gelbe Minderheits-Koalition zu tolerieren. Vermutlich werden genau deswegen die zeitgleichen Verhandlungen über eine „Ampel-Koalition“ oder eine „Jamaika-Koalition“ erst beendet, wenn beide gescheitert sind oder eine von beiden tatsächlich kurz vor dem Abschluss steht.
Gegen den vorzeitigen Abbruch der Verhandlungen über die „Ampel“ durch die FDP oder über „Jamaika“ durch die Grünen spricht außerdem, dass dies sofort mit einem Abbruch der Verhandlungen über die jeweils andere Koalitionsvariante beantwortet werden müsste. Denn sollte sich die FDP der „Ampel“ verweigern, bliebe den Grünen nur der Abbruch der Gespräche über „Jamaika“, wenn sie sich nicht dem Vorwurf der Kapitulation vor der FDP aussetzen wollen. Umgekehrt gilt dasselbe im Falle einer Beendigung von „Jamaika“ durch die Grünen für die FDP, die dann schwerlich weiter über eine „Ampel“ verhandeln könnte. Insofern könnte nur die SPD oder die Union die Verhandlungen über die von ihnen geführten Koalitionen vorzeitig abbrechen, woran aber die beiden Rivalen um das Kanzleramt gewiss das geringste Interesse haben.
Nicht auszuschließen ist angesichts dieser recht vertrackten Gemengelage, dass im Laufe der Verhandlungen die FDP und/oder die Grünen einer rot-grünen und/oder einer schwarz-gelben Minderheitsregierung Tolerierungsangebote unterbreiten werden, nachdem sie erneut erkannt haben, dass angesichts der zur Verfügung stehenden Optionen im Interesse der eigenen Partei, ihrer Mitglieder und Wähler das Nicht-Regieren dem Regieren vorzuziehen ist. Die FDP ist mit ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2017, die Oppositionsbänke den Regierungssesseln vorzuziehen, nicht schlecht gefahren. Das von ihr gefeierte Ergebnis von 11,5 Prozent hat sie sich jedenfalls als Oppositionspartei erkämpft, nachdem sie als Regierungspartei im Jahr 2013 aus dem Bundestag ausgeschieden ist, wo sie während ihrer vierjährigen Regierungszeit mit fast fünfzehn Prozent vertreten war und trotzdem keines ihrer zentralen Wahlversprechen einlösen konnte. Sollte von der FDP oder Grünen die Option einer Minderheitsregierung ernsthaft ins Spiel gebracht werden, dann dürfte aufgrund der Mehrheitsverhältnisse allerdings erneut die Stunde einer Fortführung der „GroKo” aus SPD und Union schlagen. Bundespräsident Steinmeier hätte dann im fortdauernden Koalitionspoker wieder einiges zu tun, um dieses Mal nicht die SPD, sondern die Union vom Nutzen einer solchen Koalition zu überzeugen.
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