In diesen Tagen wird in Brüssel über ein gigantisches Corona-Hilfspaket von 750 Milliarden, aber auch über den Haushalt der nächsten Jahre beraten. Beides sind außerordentlich kontroverse Themen. Die Befürworter eines Ausbaus der Macht der EU-Institutionen, die führenden Mitglieder der Kommission und die maßgeblichen Parlamentarier des EU-Parlaments, haben die Corona-Krise geschickt genutzt, um ihre Gegner auszumanövrieren. Es handelt sich um einen klassischen „power grab“, wie man das im Englischen nennen würde. Dieser ist freilich nur erfolgreich gewesen, weil die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten hofft, von der jetzt geplanten Transferunion entweder direkt zu profitieren, oder doch zumindest wie im Fall Frankreichs indirekt, indem Deutschland gezwungen wird, einen großen Teil der Last an Transferleistungen für die wirtschaftlich schwachen Ländern zu übernehmen. Das würde Frankreich, das selber am wirtschaftlichen Wohlergehen der Mittelmeerländer stark interessiert ist, entlasten.
Unter anderem soll die EU jetzt die Möglichkeit erhalten, an den Finanzmärkten Kredite aufzunehmen, was bislang als unzulässig galt, obwohl, wie man einräumen muss, der EU-Stabilitätsmechanismus (ESM), der zur Rettung der Defizitländer der Eurozone geschaffen wurde, sich bereits über Anleihen finanziert hatte. So neu ist also der Schritt zu einer gemeinsamen Verschuldung dann auch wieder nicht, nur dass sich diesmal am Horizont eine erhebliche und vermutlich dauerhafte Ausweitung der Ausgaben der EU abzeichnet, die dann zunächst nicht über eine Erhöhung der Einnahmen, sondern über Schuldenaufnahme finanziert würde. Geht es jetzt zu Anfang „nur“ um einige hundert Milliarden Euro, dürften schon recht bald ganz andere Summen im Raum stehen, zwei oder drei, vielleicht aber auch vier oder fünf Billionen Euro, denn wenn die Hürden auf dem Weg zu gemeinsamen Schulden einmal gefallen sind, wird es kein Halten mehr geben, das ist sicher.
Das Problem dabei ist freilich, dass am Ende doch die Nationalstaaten für die Schulden der EU, auch wenn diese nicht in ihren Bilanzen auftauchen, geradestehen müssen. Realistisch gesehen werden es relativ wenige Nationalstaaten sein, die hier als Bürgen in Frage kommen, denn Länder wie Italien werden namentlich nach Corona kaum dazu in der Lage sein, auch noch einen Teil der gemeinsamen europäischen Schulden mitzutragen. Beim jetzigen Stand der Dinge wird es daher vor allem Deutschland sein, das diese garantieren muss.
Nur irgendwann, in vielleicht 15 oder 20 Jahren, werden die relevanten Finanzinvestoren ihre Rechnung aufmachen und entdecken, dass ein stark überaltertes, wirtschaftlich eher stagnierendes Land, das zusätzlich zu erheblichen eigenen Schulden und Zahlungsverpflichtungen auch in Form von Renten und Pensionen faktisch auch noch bis zu 50 % der gemeinsamen EU-Schulden, wenn nicht mehr, tragen muss, vielleicht doch nicht mehr so recht kreditwürdig ist. Ob dann die wundersame Geldvermehrung durch die EZB noch reichen wird, um deutschen Anleihen ein AAA-Rating zu garantieren, muss man füglich bezweifeln, und damit könnte nicht nur das Kartenhaus der deutschen Staatsfinanzen, sondern auch das des EU-Finanzsystems insgesamt in sich zusammenfallen.
Finanzielle Zuschüsse müssten eigentlich mit Reformauflagen verbunden werden
Nun mag man freilich einwenden, dass die jetzige Politik der Unterstützung der durch Corona besonders stark heimgesuchten Ländern alternativlos sei. Wollen wir ein wirtschaftlich so wichtiges Land wie Italien, wo der Lockdown, der Corona eindämmen sollte – und auch eingedämmt hat –, massive Auswirkungen gehabt hat, einfach dem noch steileren und diesmal endgültigen Niedergang überlassen? Käme es zu einem völligen Absturz Italiens, womöglich bis hin zu einem offenen oder versteckten Staatsbankrott, dann würde dafür in der Tat auch Deutschland einen hohen Preis zahlen, das stimmt sicher.
Von daher ist eine gewisse Form von Solidarität unter den Mitgliedsstaaten der EU durchaus begründbar. Nur wofür genau werden die Hilfsgelder der EU in Höhe von 750 Milliarden Euro wirklich ausgegeben? Wird das Geld so eingesetzt, dass die Empfängerländer dadurch wettbewerbsfähiger werden oder wird es einfach nur mit der Gießkanne ausgeschüttet wie so oft bei EU-Subventionen? Auffällig ist zunächst, und darauf hat unter anderen der Heidelberger Ökonom Friedrich Heinemann (Literaturhinweis am Textende) aufmerksam gemacht, dass nicht etwa die Länder gemessen an ihrem BIP das meiste Geld erhalten, die am meisten unter der Krise gelitten haben. Nein, in Proportion zur Wirtschaftskraft profitieren Bulgarien und Kroatien sowie Griechenland ganz besonders stark (Bulgarien im Umfang von knapp 20 % seines BIP, im Vergleich zu den 3,2 %, die Italien erhält, und zu den gut 6%, die an Spanien gehen), obwohl diese Länder wirtschaftlich keineswegs stärker betroffen waren als Italien. Das heißt, der EU-Kommission geht es nur zum geringeren Teil um einen Ausgleich der Schäden, die durch Corona entstanden sind, sondern vielmehr um eine allgemeine Umverteilung von den „reichen“ zu den armen Ländern in der EU.
Relativ gut bei der Verteilung der Subventionen (ca. 7 % des BIP an Hilfen, etwas mehr als Spanien) hat freilich auch Polen abgeschnitten, das sich wirtschaftlich bislang in der Krise recht gut behauptet hat. Hier ging es wohl vor allem darum, sich die polnische Zustimmung zu den neuen Transfermechanismen zu erkaufen. Diese ist in der Tat nicht selbstverständlich, denn in Warschau könnte man sich unter Umständen ausrechnen, dass auf Dauer die Gelder, die jetzt in großem Umfang an die Mittelmeerländer ausgeschüttet werden, fehlen werden, wenn es darum geht, in Zukunft Osteuropa so großzügig zu unterstützen wie in der Vergangenheit.
Damit wird aber deutlich, dass die Verteilung der Gelder aus dem EU-„Aufbaufonds“ keiner wirtschaftlichen, sondern primär einer politischen Logik folgt. Im Grunde genommen handelt es sich wie so oft bei zentralen Entscheidungen der EU um einen schiefen Kompromiss, der von Anfang an so angelegt ist, dass er nicht wirklich funktionieren kann, oder die angestrebten Ziele – eine dauerhafte wirtschaftliche Erholung Europas – zumindest nicht erreicht werden können. Die EU stellt einmal mehr unter Beweis, dass sie auf Grund der spezifischen Verfahrenslogik, die ihre Entscheidungen bestimmt, ein grundsätzlich nicht lernfähiges System ist und sie daher dazu verdammt ist, die immer gleichen Fehler bis in alle Ewigkeit zu wiederholen.
Das gilt umso mehr, wenn man sich ansieht, an welche Bedingungen die Zuschüsse nach den bisherigen Planungen gebunden sind, nämlich eben gerade an keine konkreten Auflagen zur Umsetzung wirtschaftlicher Strukturreformen. Zwar fordern die Niederlande jetzt solche Auflagen ein – mit gutem Recht – aber da Merkel dem niederländische Ministerpräsidenten Rutte in den Rücken gefallen ist, um Macron gefällig zu sein, ist die Chance der sparsamen Skeptiker sich durchzusetzen eher begrenzt. Allenfalls wird es einmal mehr irgendeinen vagen Formelkompromiss geben.
Sicher, in Italien, wo Politiker und Wähler in Krisenzeiten selten auf die Fehler schauen, die man selbst gemacht hat, und wo man die Schuld von jeher gern jenseits der Alpen gesucht hat, ist der Widerstand gegen Reformauflagen geradezu fanatisch. Man fürchtet die Folgen für relevante Interessengruppen, etwa die relativ großzügig (deutlich großzügiger als in Deutschland) alimentieren Rentner und Pensionäre, ist aber auch über die Demütigung erbost, die ein Souveränitätsverlust mit sich brächte. Allerdings, wenn man von Dritten Geld haben will, bringt das meist eine gewisse Abhängigkeit mit sich. Diese soll Italien und anderen diesmal erspart bleiben, so will es offenbar die EU-Kommission unter der gewohnt umsichtigen Führung Frau von der Leyens, die schon im deutschen Verteidigungsministerium gezeigt hat, dass sie in Fragen der langfristigen Finanzplanung über ganz besondere Fähigkeiten verfügt.
Dass Problem ist, dass die EU-Kommission mit dieser Politik nicht nur den Geber-Ländern, deren Geld am Ende vermutlich zu großen Teilen verschwendet wird, enorme Lasten aufbürdet, sondern auch der EU insgesamt schadet. Denn irgendwann werden sowohl die Kreditwürdigkeit Deutschlands, die für die Stabilität des gesamten Eurosystems und die Solvenz der EU insgesamt von entscheidender Bedeutung ist, als auch die Fähigkeit der EZB, die Schuldenkrise vieler Euro-Länder durch eine steigende monetäre Staatsfinanzierung zu verbergen, an ihr Ende kommen. Dann wäre es gut, man hätte das Geld, das man jetzt aus allen Füllhörnern gleichzeitig verteilt, einigermaßen sinnvoll und zukunftsträchtig ausgegeben.
Dass dies geschehen wird, ist jedoch unwahrscheinlich, da der EU-Kommission sowohl der Wille als auch die Fähigkeit gänzlich fehlen, eine entsprechende Kontrolle auszuüben. Es geht ihr einerseits, wie schon betont, vor allem darum, die eigene Macht zu vergrößern, indem der Haushalt der EU massiv ausgeweitet wird, andererseits aber auch darum, die eigentlich nicht lösbaren strukturellen Probleme der Eurozone erneut durch massive Finanztransfers für den Moment unsichtbar werden zu lassen. Das ist eigentlich der reine Zynismus, der aber in der EU-Politik wohl mittlerweile den Normalfall darstellt.
Die EU-Institutionen beschleunigen den Niedergang Europas
Damit entsteht eine Transferunion, die zwar für den Moment Länder wie Spanien, Griechenland, Portugal und Italien entlastet, aber den wirtschaftlichen Niedergang EU-Europas, der sich jetzt schon deutlich abzeichnet, eher beschleunigen wird, zumal das Brüsseler Füllhorn, das jetzt ausgeschüttet wird, zum Beispiel in Italien eher die Strukturen verfestigen wird, die dazu beigetragen haben, dass das Land in den letzten 20 Jahren kaum Wirtschaftswachstum aufzuweisen hatte. Reformen hat es in Italien in den letzten zwei Jahrzehnten wenn überhaupt meist nur unter dem Druck der Finanzmärkte gegeben; nur, gerade dieser Druck wird durch die Zinspolitik der EZB einerseits und die Geldhilfen aus Brüssel andererseits weitgehend neutralisiert.
Tut man Ländern wie Italien damit wirklich einen Gefallen? Wohl eher nicht, aber darauf kommt es dann wohl am Ende auch nicht an. Wichtig ist den Akteuren eher, die jetzige italienische Regierung im Amt zu halten.
Eher ist es denkbar, dass auf Sicht der nächsten 10-15 Jahre auf Grund des sich jetzt abzeichnenden finalen Sieges der Defizitländer über die Geberländer in der EU der Widerstand gegen Brüssel im Norden der EU immer größer wird. Für Deutschland mag ein Austritt aus der EU für alle Ewigkeit undenkbar sein, für die Niederlande und die skandinavischen Länder ist er es aber nicht, zumal man mit Großbritannien, das die EU schon verlassen hat, dann einen Wirtschaftsblock von durchaus beachtlicher Größe bilden könnte.
Aber so wie in Brüssel niemand jemals ernsthaft den Brexit einkalkuliert hatte, so wird auch niemand dort über die Möglichkeit eines weiteren Zerfalls der EU nachdenken. Dieses Thema ist tabu. Dann müsste man ja von der Idee Abschied nehmen, dass es für jedes Problem nur eine Lösung gibt: „Mehr Europa“, und das wird man nie tun, weil das ganze politische System der EU auf dieser Idee beruht. Von daher wird sich der Niedergang Europas unter Führung der jetzigen EU-Kommission unweigerlich beschleunigen. Ändern kann man das nicht, jedenfalls nicht als deutscher Bürger, denn die Karten, die Deutschland einst in der Hand hatte, um auf die Brüsseler Politik Einfluss zu nehmen, hat es verspielt, die meisten schon unter Kohl, vor allem durch die Schaffung des Euro, den Rest unter Merkel, der es nie gelungen ist, für ihre vielen Zugeständnisse in Brüssel jemals konkrete Gegenleistungen zu erhalten.
Für die Jüngeren bleibt vielleicht noch die Option, sich durch Auswanderung in Länder, die nicht durch eine Schuldenunion ruiniert werden, in Sicherheit zu bringen, die Älteren werden den kommenden Niedergang und die damit einhergehende persönliche Verarmung akzeptieren müssen.
Zur vertiefenden Lektüre empfohlen: Friedrich Heinemann, „Next Generation EU“ und das drohende Risiko einer verpassten europäischen Chance. Ich verdanke den Hinweis auf die Studie von Heinemann Herrn Engin Eroglu, MdEP, Freie Wähler, der auf seiner Facebook-Seite dankenswerter Weise auf sie aufmerksam gemacht hat.