Wer privat beim Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Gerhard Schröder, eingeladen war, musste in einem heruntergekommenen Mietshaus in Hannover über abgetretene Treppen erstmal hochklettern. Schröder wohnte auf Etage mit Doris, Tochter und Katze auf 60 Quadratmeter; ich hatte mir nicht vorstellen können, dass ein Spitzenpolitiker derart überschaubar wohnt. Die Toilette war in der Dachschräge, da musste man die Knickhaltung üben.
Aus der Baracke ins Kanzleramt
Schröder lachte darüber. Er plante gerade die Hochzeit mit Doris Köpf, meiner journalistischen Kollegin aus Bonner Korrespondententagen. Sie bastelten am Ehevertrag. „Ich muss Doris vor mir schützen“, sagte Schröder nur dazu. „So abgebrannt, wie ich bin …“.
Es wird ja oft erzählt, dass Schröder ohne Vater aufwuchs. Der war gefallen, noch ehe Gerd geboren war. Ein Kriegsschicksal, groß werden in der Holzbaracke, die Mutter geht putzen. Das hat Schröder nicht vergessen, das kann man nicht vergessen. Es unterscheidet ihn von den Größen der heutigen Politik, die das erlebt haben, was Helmut Kohl mal die „Gnade der späten Geburt“ genannt hatte und wofür er heftig gescholten worden war. Die Gnade, in den fetten Wohlstandsspeck hineingeboren zu werden, mit Studium in Großbritannien und Auslandsaufenthalten. Einfach so.
Da ist Schröder bulliger. Er studierte trotzdem, obwohl vielleicht die Elektrikerlehre für ihn vorgesehen war als Höhepunkt der Karriere. Er ist die personifizierte Aufsteigergeschichte der Nachkriegszeit. Da durfte man nicht so pingelig sein. Da musste man was wollen.
Mit dem beruflichen Erfolg lebte er die Spannung aus: der Hochgekommene aus der Barackensiedlung – und die, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren waren.
Der teure Wein wird gemeinsam geleert
Da kam Schröder eines Abends von einer Veranstaltung mit Ferdinand Piëch zurück; Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender des VW-Konzerns. In der Hand eine Flasche Wein, deren Werte vermutlich einer Jahresmiete der Schröder-Bude entsprach. Schröder war zunächst ratlos: Was tun mit so einem Tropfen? „Trinken wir ihn aus“, war die Lösung, und so geschah es. Wenig andächtig übrigens.
Damals hatte Schröder einen kleinen Kreis von 10 Beratern um sich geschart; honorarfrei. Die Landtagswahl in Niedersachsen 1998 wurde von Schröder zur „Volksabstimmung über den Kanzlerkandidaten der SPD“ erklärt. Gegenspieler war Oskar Lafontaine, als Parteivorsitzender der SPD Herrscher über den reichsten und mächtigsten Funktionärsapparat Deutschlands. Schnell war klar: Ein Wahlsieg in Niedersachsen würde Schröder zum Kanzlerkandidaten machen. Kohl war zu diesem Zeitpunkt politisch und persönlich ermattet, Wolfgang Schäuble sollte zwar Nachfolger werden – aber zögerte. Entgegen früherer Absprachen zog Kohl seine erneute Kandidatur nicht zurück. War es nur der alte Bulle, der nicht loslassen konnte? Oder wusste Kohl, das Schäuble der immer Zögernde war und blieb, der immer Deckung suchte, die Feldschlacht lieber vermied und beim Poker „All-in“, alles auf die Karten in der Hand, niemals wagen würde?
Schröder setzte sein gesamtes politisches Kapital auf diesen Moment: „all in“ in der großen Runde gegen Lafontaine und Kohl und Schäuble. Die Wetten liefen gegen ihn; Lafontaine Parteivorsitzender; gewitzter, gerissener und intellektueller. Kohl war politisch und psychisch am Ende, sein Pfälzer Dialekt klang nicht mehr hausväterlich, sondern gestrig. Wenn er wieder Staatsbesucher zum Saumagen-Essen einlud, begann man sich zu schämen. Egal ob Schröder oder Lafontaine, die Zukunft konnte nicht bei der verstaubten CDU liegen, sondern bei der Generation der Toskana-Fraktion und ihrer Liebe zum Dolce Vita und längst verfeinertem Lebensgenuss.
All-in unter der Gürtellinie
Gegen solche Auseinandersetzungen sind Poker-Runden übrigens geradezu eine Veranstaltung für den bunten Nachmittag der Nonnen und Betschwestern. In der Politik fängt das eigentliche Spielfeld unter der Gürtellinie an. Schröder hatte sich gerade von seiner zweiten Frau „Hillu“ getrennt; sie wurde von den Lafontaine-Blättern wie Spiegel, Zeit, Stern, Süddeutsche als Personifizierung der selbständigen, modernen, emanzipierten Frau gefeiert, dabei hatte sie immer in einer klassischen Versorger-Ehe gelebt. Doris Köpf war alleinerziehend, schlug sich mit Tochter als Reporterin bei Focus durch, öffentlich wurde sie jedoch als Hausweibchen klein gemacht. Aber Fakten sind das eine, Haltung was ganz anderes. Dafür konnte Doris damals schon Computer und zauberte bei Besprechungen die neuesten Umfragedaten hervor, für so was brauchte man damals noch Abteilungen im Willy-Brandt-Haus.
Oskar Lafontaine stand für den Kurs der klassischen SPD; mehr Umverteilung, mehr staatliche Planung und Lenkung, mehr Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft, Sahra Wagenknecht wiederholt die alte Leier gerade wie eine Wiedergeburt.
Schröders Konzept war das der „Neuen Mitte“: Die Generation der 30- bis 50-Jährigen sollte mobilisiert werden. Eine unideologische Generation, bestens ausgebildet, beruflich erfolgreich, beweglich und erfolgshungrig. Appelliert wurde an ihr Gerechtigkeitsgefühl und Verantwortung, Solidarität war nicht der richtige Ton.
Wer etwas errungen hatte mit Hilfe auch der Gesellschaft, sollte seinen Teil zurückgeben. Ein programmatisches Buch entstand; „Ab in die Neue Mitte“. Da ging es viel um die „Vorsprungsgesellschaft“, als die man Deutschland sah: technologisch überlegen, innovativ, erfolgreich. „Standortentscheidungen von Unternehmern sind reicher, willkürlicher, flexibler geworden. Deutsche Unternehmen müssen sich die Frage stellen, warum und wie weit sie in diesem Land bleiben.“ Von emotionaler Bindung an den Ursprungsort – keine Rede mehr. Wie war das 2024 mit dem „Standort-Patriotismus“, der den Deutschen Fußballbund veranlassen soll, in Herzogenaurach zu bestellen? Viel war die Rede von Vertrauenskultur, eigebettet in soziale Stabilität und dynamische Entscheidungen, aber auch von einer Reform des Sozialstaats, der gerade nach der Wiedervereinigung begann, die wirtschaftlichen Erfolge von morgen schon heute zum Frühstück zu verzehren. Perspektiven statt Verzicht, lautete die Losung. Heute herrschen Verzichtsforderungen. Aber ist das wirklich die Perspektive?
Die Pläne waren – noch ehe sie gedruckt wurden – Makulatur. Schröder war nach der Wahl gezwungen, mit den Grünen unter Joschka Fischer zu koalieren, Oskar Lafontaine hielt hinten trotzdem die Fäden in der Hand. Der Apparat triumphierte immer. Statt Bewegung begann der Stillstand; Atomausstieg und Dosenpfand. Der unideologisch auftretende Gerhard Schröder fand keinen Hebel gegen die grüne Ideologie, schon damals stieß Schröders Bekenntnis zur Arbeitsgesellschaft auf den Traum vom bevormundenden grünen Lähmungsstaat, der allen geben will und doch nur nimmt.
Wirtschaft als Basis jeder Sozialpolitik
Schröder kungelte mit der Industrie, war der Genosse der Bosse. Es war die Zeit der Brioni-Anzüge und dicken Zigarren, der Lebensgenuss brach sich Bahn, die enge Wohnung längst Geschichte. Wladimir Putin der neue Maßstab; Männerfreundschaft. Auf Kanzlerreisen nährte man sich von Rotwein, den Stahlunternehmer Jürgen Großmann hat man im Handgepäck dabei; ein Selfmademan, der die kaputte Georgsmarienhütte und den längst totgesagten deutschen Stahl zu neuem Leben erweckt hatte. Das war die neue Generation der Erfolgreichen, die andere daran teilhaben ließen, auf dass die Baracken der Vergangenheit angehörten.
Es ist bezeichnend, dass Schröder noch ein zweites Mal „all-in“ ging – mit den Hartz-Reformen, die Deutschland vor der totalen Überschuldung und gesellschaftlichen Lähmung befreiten. „Leistungen des Staates kürzen und mehr Eigenleistungen von jedem Einzelnen abfordern“ – dieser Satz ist so richtig, wie er heute nicht mehr denkbar ist, wo ein Staat so tut, als könnte er alles leisten, was der Einzelne nicht leisten will. Und Wirtschaft als Basis der Sozialpolitik? Die Gegenwart leidet daran, dass sie sich über Selbstverständlichkeiten hinwegsetzen will.
Schröder hat damals mit juristischen Winkelzügen eine Neuwahl erzwungen – und knapp verloren. „Sie kann es nicht“, war nach der Wahl sein Diktum über Angela Merkel. Er sollte mehr Recht bekommen als jedermann lieb sein kann, und doch hat er mit seinen Sozialreformen Deutschland einen vermutlich letzten wirtschaftlichen Frühling beschert, der Merkel über 16 Jahre intellektueller Stagnation und willkürlich herbeigeführter Katastrophen hinweg trug.
Es war nicht alles gut bei Schröder, beileibe nicht. Aber in der Politik ist das mehr – entscheidend viel mehr – als „es war nicht alles schlecht“, die Bilanz Merkels in den Worten von Wolfgang Bosbach.
Es war nicht alles gut – und das ist viel, wie wir erleben
Gegen den Apparat der SPD von gestern und der sektiererhaft triumphierenden Grünen hat Schröder Deutschland viele gute Jahre gesichert, sich selbst auch. Was wäre geschehen, wenn er ein paar Wählerstimmen mehr gewonnen hätte? Merkel wäre Deutschland erspart geblieben – schon das eine vertane historische Chance.
Es hat wenig Sinn, das „Was wäre, wenn“-Spiel zu betreiben. Hätte Schröder den Ukraine-Krieg verhindert? Vermutlich. Irgendwie. Bezeichnend, dass der Geburtstagsfilm der ARD eine geschlagene lange Stunde versucht zu bestreiten, dass Schröder mit Putin reden darf – wobei er es in Übereinstimmung mit der Ukraine unternimmt. Schröder passt nicht mehr in eine Zeit, in der Haltung eingefordert wird, statt Gespräche über Grenzen zu führen. Man kann sein Verhalten im Irak-Krieg bewundern oder ablehnen. Aber muss er für sein Festhalten an seinem alten Freund Putin gerichtet werden? Nein. Offene Freundschaft kann eine letzte Brücke sein, verklemmtes Gefummel unter der Decke ist schädlicher. Man muss Schröder nicht heilig sprechen, aber zu verhandeln kann nie verkehrt sein, und der Hass, der ihm dafür entgegenschlägt, zeigt, wie sehr sich Deutschland hinter Haltungsmauern verschanzt hat, die isolieren und ruinieren statt vorwärts zu führen.
Und die SPD? Hat Schröders Porträt aus dem Internet-Auftritt gelöscht. Hängt in einer abgehalfterten Regierung fest, weil sie weiß: Es wird nur noch schlimmer. Schämt sich ihres letzten Wahlsiegers, betrieb dessen Parteiausschluss und lässt Personalien wie Kevin Kühnert darüber bestimmen.
Olaf Scholz, unter Schröder ein eher belächelter Staatssekretär für das Soziale, kommt daher beim Staatsbesuch im T-Shirt wie Klempner Kubatzki; meist offener Kragen, verklemmt grinsend, wo Schröder brüllend gelacht hätte. Wer sich über Schröders Brioni-Anzüge lustig gemacht hat, trauert heute dem eleganten, älteren Herren nach, und seinem lauten Raubtierlachen.