Einige Fotos von ihrem unlängst stattgefundenen Treffen in Helsinki zeigen den amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seinen russischen Kollegen Wladimir Putin beim freundlichen Beisammensein. Diese Bilder sagen etwas sehr Wichtiges über die heutigen internationalen Beziehungen aus. Immer schon war Geopolitik ein sehr kompliziertes Unterfangen. Durch zwei miteinander verflochtene Entwicklungen ist sie in den vergangenen Jahren noch komplizierter geworden: durch die Entnationalisierung eines bedeutenden Teils der westlichen regierenden Klassen auf der einen, und die Internationalisierung des Krieges der Kulturen auf der anderen Seite.
Trump und Putin sprechen die gleiche Sprache. Beide sind kompromisslose Nationalisten, die ein gutes Gespür für die Interessen ihrer jeweiligen Nationen haben. Trotz der nationalen Rivalität zwischen den USA und Russland befinden sich beide Präsidenten auf der gleichen Seite des seit einiger Zeit global gewordenen Kulturkampfes. Es ist, wie der Journalist Tim Stanley vom Telegraph feststellte: „Wenn Trump mit Putin spricht, dann denkt er nicht an den Kalten Krieg. Er sieht in ihm vielmehr einen konservativen Vorkämpfer der Zivilisation.“ Viele Amerikaner betrachten Putin als einen potenziellen Verbündeten im Krieg der Kulturen.
Auch in Europa, in Italien, Frankreich, Deutschland und anderen Ländern haben die Gegner der Identitätspolitik, des Multikulturalismus und der EU eine eher positive Haltung Russland gegenüber. Es ist paradox, dass ausgerechnet Russland, das starke historische Wurzeln im byzantinischen Osten hat, eine größere Neigung zeigt, die westliche Zivilisation zu verteidigen als viele unter den politischen Führern der westlichen Welt.
Diejenigen auf der anderen Seite des westlichen politischen Spektrums, die die politischen und kulturellen Ansichten Trumps ablehnen, sind auch Russland gegenüber feindlich eingestellt. Doch anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, als westliche Politiker die Sowjetunion und ihre kommunistische Ideologie anklagten, verurteilen die heutigen Gegner Russland, weil es konservativ und autoritär ist.
Ein Beispiel dafür ist die berühmt gewordene Rede des ehemaligen Präsidenten Obama an die Jugend Europas im März 2014. In dieser Rede verband er seine Kritik an der russischen Besetzung der Krim mit der Kritik an bestimmten, vermeintlich „rückständigen“ kulturellen Werten zu Hause in den USA. Er feierte die Politik der Identität und der Freizügigkeit und klagte die „alte, traditionalistische Auffassung von Macht“ an. Er sagte: „Statt unsere schwulen und lesbischen Brüder und Schwestern zu attackieren“ – wie es Russland tut – „können wir unsere Gesetze nutzen, um ihre Rechte zu schützen“.
In Wahrheit galt Obamas Angriff weniger Russland als seinen traditionalistischen Gegnern in den USA. So weitet sich der zunächst einheimische Kampf der Kulturen immer mehr auf das Verhältnis zwischen den USA und Russland aus. Als Trump bestritt, dass es eine russische Einmischung in die 2016er Präsidentschaftswahlen in den USA gegeben habe, war er vermutlich auch vom Wunsch motiviert, alte Rechnungen mit seinen innenpolitischen Gegnern zu begleichen.
Der Krieg der Kulturen wird global
Als Antwort auf die Raumgewinnung von antitraditionalistischen Werten in den USA und im überwiegenden Teil des Westens entschloss sich Putin, die Führungsrolle im weltweiten Kampf für die christliche, traditionelle Lebensweise zu übernehmen. Im Gegenzug begannen westliche Diplomaten, Russland für seine nationalistische, patriarchale und sexistische Kultur zu kritisieren. 2012 brachte Präsident Putin seine Überzeugungen klar zum Ausdruck, als er erklärte, dass „es eine intensive Auseinandersetzung um das kulturelle Selbstbewusstsein, um spirituelle und moralische Werte und Normen gibt“. Er sagte, dass der Kampf „ die Weltsicht ganzer ethnischer Gruppen zu beeinflussen, das Verlangen, sie dem jeweils eigenen Willen zu unterwerfen und ihnen die je eigenen Systeme des Glaubens und der Werte aufzuzwingen, ebenso absolute Realität ist, wie der Kampf um Rohstoffe, die so viele Nationen, unsere eingeschlossen, miterlebt haben“.
Putin kultiviert das Image von Russland als eines moralischen Kreuzritters, der für das Überleben der menschlichen Zivilisation kämpft. In seiner jährlichen Ansprache über die Lage der Nation 2013 antwortete er auf die westliche Kritik des russischen Umgangs mit Homosexuellen, indem er den Verfall der Moral im Westen beklagte. Er brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die westlichen Sozialtechniken moralisch in die Irre führten: „Die von oben geführte Zerstörung der traditionellen Werte hat nicht nur für die Gesellschaft negative Konsequenzen … sie ist auch von Natur aus undemokratisch, weil sie auf abstrakten Ideen beruht und dem Willen der Mehrheit widerspricht“. Er erklärte auch, dass die traditionellen Werte der Familie der einzige wirksame Schutz gegen die neuen Werte bedeuteten, die „geschlechtslos und unfruchtbar“ seien.
Putin ist keineswegs die erste bedeutende russische Persönlichkeit, die das Engagement des Westens für seine eigene Zivilisation in Frage stellt. Alexander Solschenizyn drückte sich 1978 in seiner berühmten Rede vor Studenten an der Harvard-Universität noch viel direkter aus. Den russischen Dissidenten, der damals im amerikanischen Exil lebte, widerte der Nihilismus und die Apathie an, die in den westlichen Gesellschaften vorherrschte. Er sagte: „Die westliche Welt hat ihre Zivilcourage verloren – sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch jeder einzelne. Das gilt für jedes Land.“ Und er fuhr fort: „Dieser Verlust des Mutes ist besonders deutlich unter den Regierenden und innerhalb der intellektuellen Elite zu beobachten.“ Mit seiner Klage über die verirrte Elite beleuchtete Solschenizyn ein Problem, das von den Medien und den kulturellen Institutionen geflissentlich ignoriert wurde. Jetzt, vierzig Jahre später, ist die Entfremdung der westlichen Elite von ihrer eigenen Kultur zu einem der großen Probleme unserer Zeit geworden.
Elite auf der Flucht
Einige Kritiker von Präsident Trump sind so weit gegangen, ihn des Verrats zu beschuldigen, weil er Mitglieder amerikanischer Institutionen in Putins Gegenwart kritisiert hatte. Aber Trump fühlte ganz genau, dass er mehr Gemeinsamkeiten mit seinem russischen Gesprächspartner hatte, als mit seinen politischen Gegnern zu Hause. Sein Verhalten unterscheidet sich nicht im Geringsten von dem jener britischen Politiker, die als Gegner des Brexit offen mit ihren Kollegen in der EU kollaborieren, um den Austritt zu unterminieren und ihre den Austritt befürwortenden Landsleute zu demütigen. Sie machen immer wieder klar, dass sie mehr mit den ähnlich gesinnten in der EU gemeinsam haben als mit jenen geschmähten Engländern und Xenophoben, die für den Brexit gestimmt haben. Manche drohen sogar damit, nach dem Austritt das Vereinigte Königreich zu verlassen, um sich in einem der „aufgeklärteren“ EU-Staaten niederzulassen.
Die Spaltung, die durch den Brexit und den Krieg der Kulturen offensichtlich wird, weist auf eine dramatische politische Entwicklung hin: auf die Entnationalisierung, ja sogar Deterritorialisierung großer Teile der europäischen politischen Klasse.
Vordergründig scheint der Trend zur Entnationalisierung der Eliten eine Folge der Globalisierung zu sein. Kommentatoren behaupten, internationale Netzwerke verdrängten die nationalen, und supranationale Institutionen zögen die besten Köpfe an. Unternehmer, Wissenschaftler und Akademiker würden global denken und verhielten sich immer lässiger, manchmal sogar verächtlicher, ihrer nationalen Zugehörigkeit gegenüber.
Doch die Entnationalisierung der Eliten ist nicht einfach ein Produkt der Globalisierung. Im Wesentlichen haben sich die Eliten politisch und kulturell von ihren eigenen nationalen Institutionen entfremdet. Es ist einfacher, Dinge durch internationale Netzwerke zu erledigen. Viele britische Abgeordnete haben das Gefühl, sie hätten mehr Gemeinsamkeiten mit ihren französischen Kollegen als mit den Wählern, denen sie ihre Position zu verdanken haben. Die kulturellen Eliten haben sich immer mehr vom Leben und den Auffassungen ihrer weniger glücklichen Landsleute entfernt. Der amerikanische politische Philosoph Christopher Lasch war einer der ersten, der auf die Tendenz zur Entnationalisierung der Eliten aufmerksam gemacht hat. Er schrieb 1995:
„Die Mitglieder der neuen Intelligenz-Aristokratie klumpen sich an den Küsten zusammen und wollen mit dem Landesinneren nichts mehr zu tun haben. Sie pflegen ihre Verbindungen mit dem internationalen Markt des schnell beweglichen Geldes, des Glamours, der Mode und der Popkultur. Es ist fraglich, ob sie sich überhaupt für Amerikaner halten. Patriotismus rangiert gewiss nicht weit oben auf ihrer Skala der Tugenden.“
Lasch stellte auch fest, dass sich die neue Aristokratie zwar nicht für den Patriotismus begeistern kann, jedoch bereitwillig den Multikulturalismus und die Diversität bejaht.
Durch den Krieg der Kulturen hat sich die Loslösung der Eliten von den Institutionen ihrer jeweiligen Nationen beschleunigt. Seit den 90er Jahren hat sich die mentale Distanz zwischen den Auffassungen der Eliten und den Befindlichkeiten der Bevölkerung immer mehr vergrößert. Die Kulturelite bejaht die Identitätspolitik, missachtet jedoch die eigene nationale Identität. Die für die internationalen Beziehungen und die Außenpolitik Verantwortlichen teilen weitgehend die Ansichten des politischen Establishments. Und da sie – wie die Elite allgemein – eher transnationale als nationale Neigungen haben, ist ihre Bereitschaft eher gering, nationale Interessen im globalen Zusammenhang zu verfolgen. Wenn sie geopolitisch agieren, ist ihr Verhalten unberechenbar und konfus. Die Tragödie der unausgegorenen humanitären Intervention in Syrien ist ein Beispiel für das Desaster, das eine Diplomatie anrichten kann, die nicht zwischen der transnationalen Kulturrhetorik und den nationalen Interessen unterscheiden kann.
Wenn sich die Ebenen von Diplomatie und Geopolitik sowie Kulturkampf und Identitätspolitik miteinander vermengen, kommt am Ende nichts Gutes heraus. Die kulturkampfbedingte Polarisierung im Inneren der Länder ist schon schlimm genug. Doch wenn diese kulturelle Frontstellung international wird und immer mehr politische Akteure erfasst, kann sie noch viel gefährlichere Folgen zeitigen.
Kulturelle Auseinandersetzungen über Lebensstil und Werte können nur extrem schwer aufgelöst werden, weil sie so eng mit den grundlegenden moralischen Fragen von Gut und Böse verknüpft sind. Solche Konflikte sind nur in den seltensten Fällen pragmatischen Lösungen zugänglich und können deshalb leicht außer Kontrolle geraten. Damit sich das nicht noch stärker auf die Geopolitik auswirkt, müssen wir in der Außenpolitik die aufgeheizte Kulturrhetorik einstellen, und einen Weg zurück zur offenen Vertretung von nationalen Interessen finden. Aber damit das geschehen kann, brauchen wir politische Führungspersönlichkeiten, die sich in allererster Linie als Führer ihrer Nationen verstehen.
Frank Furedi
Dieser Beitrag von Frank Furedi wurde von Krisztina Koenen übersetzt und erschien am 23. Juli 2018 zuerst bei Spiked, dem Partnermagazin von Novo. Die deutsche Übersetzung erscheint auch bei Novo. Argumente für den Fortschritt mit deren freundlicher Genehmigung.