Wie geeignet ist man als Oppositionsführer, wenn die Kanzlerschlaftablette Olaf Scholz einen desavouiert? Diese Frage muss sich der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz gefallen lassen. Bei der heutigen Generaldebatte im Bundestag hat der Chef der größten Oppositionsfraktion eigentlich ein Heimspiel: Er kann mit der Aufmerksamkeit der Medien rechnen und den Regierungschef als Chefankläger zur Rechenschaft für die bisherige Koalitionsarbeit ziehen. Der Kanzler dagegen ist im Verteidigungsmodus.
Nach vier Jahren, in denen die AfD die Oppositionsführung innehatte, war man scharfe Angriffe gewohnt. Die Union inszeniert sich in der Form von Merz dagegen ungewöhnlich zahm. Er bleibt in einem kühlen, ironischen, fragenden Duktus. Vom Friedrich Merz der 2000er, der im Plenum für seine harten Angriffe berüchtigt war, ist (leider) nur wenig am heutigen Mittwochmorgen zu sehen.
Merz lobt die Zusammenarbeit beim „Sondervermögen“ – und beklagt zugleich neue Schulden
Im Sinne altrömischer Rhetorik beginnt Merz zuerst mit einem Lob des Gegners: Man habe am Sonntag beim Sondervermögen zur Verständigung gefunden, die Ampel sei den Forderungen der Union nachgekommen. Merz hebt dabei das Finanzierungsgesetz hervor, das die Verpflichtungen gegenüber der Nato auch nach Auslaufen der als Sondervermögen deklarierten Sonderschulden festschreibt.
Dann beginnt die eigentliche Offensive. Merz verweist auf einen Entschluss des Bundestags vom 28. April, schwere Waffen in die Ukraine zu schicken. Diesem Entschluss sei Scholz nicht nachgekommen. Die gesamte Regierungspolitik gegenüber der Ukraine sei eine von Behauptungen, von Ausreden und Verhinderungen. Merz greift das Beispiel der Staatssekretärin im Verteidigungsministerium auf, die von einer Nato-Absprache gesprochen habe, dass keine schweren Waffen in die Ukraine geliefert werden sollten. Merz über Scholz: „Sie behaupten mehr als sonst, sie sagen aber nichts.“
Der Oppositionsführer bleibt im Fragemodus, setzt aber keine Akzente
Der Ton bleibt ruhig. Merz zitiert aus einem FAZ-Artikel, der sagt, Scholz ruiniere das Ansehen deutscher Politik. Er bleibt im Duktus der Frage, der Suggestion und Insinuation, um das Verhalten der Bundesregierung bloßzustellen – ohne aber von einer Lüge zu sprechen. „Unredlich“ – auch das ein Zitat aus der FAZ, nicht von Merz – ist der schlimmste Anwurf gegen Scholz, der wie eine Katze um die heiße Wahrheit herumschleicht. „Was ist da los in Ihrer Regierung? Was verschweigen Sie uns eigentlich?“
Einer der stärksten Momente: Merz wirft Scholz vor, dass der ukrainische Parlamentspräsident in Berlin sei – aber keinen Termin im Bundeskanzleramt bekomme. Mit Putin habe der Kanzler dagegen 80 Minuten telefoniert. Wie das zusammengeht – darauf wird Merz auch in der Erklärung des Bundeskanzlers zwar keine Antwort bekommen. Es unterstreicht aber deutlich die Strategie der Bundesregierung, verräterische Momente totzuschweigen und darauf zu hoffen, dass es auch andere tun.
„Warum sagen Sie nicht einfach ganz klar: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen? Warum sagen Sie nicht ganz klar, die russischen Truppen müssen hinter die Kontaktlinie vom 24. Februar zurückgedrängt werden?“ Das Fragespiel geht weiter. Die Regierungserklärung zur „Zeitenwende“ vom 27. Februar hätten auch Unionsabgeordnete mit stehendem Applaus bedacht. Doch seitdem „verdampft alles, was Sie gesagt haben, im Unklaren und Ungefähren“. Es gebe keine europäische Initiative, es sei nicht einmal klar, wie Deutschland votieren würde, wenn die Ukraine als Beitrittskandidat für die EU vorgeschlagen würde.
Merz kreist in seiner Rede nur um die Ukraine – und macht es Scholz damit einfach
„Das Wort Zeitenwende bleibt beziehungslos im Raum stehen“, wirft Merz dem Kanzler vor, mit dem Begriff könne man nichts weiter verbinden als weitere Schulden. Dass Merz am Anfang der Rede gerade diese neuen Schulden als Sondervermögen mitunterstützt – Ehrensache. Zum Abschluss der Rede: wieder Fragen, wieder die Forderung nach Antworten. Nur in einem Satz deutet Merz an, dass er auch etwas zur Rentenreform wissen will. Es ist ein verräterischer Moment: Denn der Chef der deutschen Christdemokratie hat eine monothematische Rede gehalten, in der man leicht vergessen könnte, dass man nicht im Ausschuss für Äußeres, sondern in der Generaldebatte des Bundestages sitzt.
Weil Merz in außenpolitischen Sphären staatsmännischer Bedeutung schwebt, tangieren ihn offenbar die brennenden Probleme der CDU-Zielgruppe nicht. Es ist der 1. Juni, der Tag des „Entlastungsgesetzes“, und vom Unionsführer, der einmal Finanzminister werden wollte, ist kein einziger Aufschlag zu hören, wenn es um einen Angriff auf diese Regierungspolitik geht. Fast fürchtet man: weil das neue Grundsatzprogramm der Union außer bei der Ukraine offenbar doch für alles zu haben ist. Was soll man schon kritisieren, wenn man sich selbst für höhere Abgaben, Energiewende und sexuelle Diversität bis in den Kindergarten ausspricht?
Mitten in der Inflation fordert Merz einen Bundeswehr-Solidaritätszuschlag
Und wie realitätsfern ist es eigentlich, wenn der Oppositionsführer in Zeiten von Preisexplosionen und nach zwei Jahren Corona allen Ernstes im Bundestag einen Solidaritätszuschlag für die Bundeswehr fordert? Es ist womöglich der größte anzunehmende Rohrkrepierer, den man sich vorstellen kann. Mehrwertsteuersenkungen? Vorschläge für eine Steuerreform? Pläne, wie man die Inflation in den Griff bekommt? Wie Unternehmer wieder Investitionen tätigen können? CDU/CSU haben offenbar keine Ideen – oder halten sie für belanglos.
Weil Merz bei diesen Themen schläft, kann Scholz umso erfolgreicher um die Wahrheit herumschleichen. Dem Oppositionsführer tritt ein erstaunlich wacher, ungemütlicher Kanzler entgegen, der seinen pädagogischen Kindergarten-Ton auf der Regierungsbank gelassen hat. „More beef“ wäre vernünftiger gewesen, statt etwas Konkretes zu sagen, sei Merz mit Fragen durchs Plenum „herumgetänzelt“ – man putzt sich die Ohren, ein Politiker mit plastischen Vergleichen, etwas, das man eigentlich von dem angeblichen Rhetoriktalent Friedrich Merz, und nicht vom vermeintlichen Merkel-Imitator Scholz, erwartet hätte.
Dann geht der SPD-Politiker in die Vollen: Nicht mit Putin, sondern mit Macron habe er zuletzt telefoniert, der „Soli für die Bundeswehr“ sei ein „merkwürdiger Einfall“ von jemandem, der im ganzen Wahlkampf Stimmung gegen den Solidaritätszuschlag gemacht hat. Und dann kommt der Moment, in dem er Merz geradezu an die Wand spielt: „Die Verteidigungsminister der letzten Jahrzehnte waren von der CDU/CSU. Darüber hätten Sie ein Wort verlieren können, Herr Merz!“
Der Kanzler desavouiert den Oppositionsführer: Die CDU hat 16 Jahre lang die missratene Verteidigungspolitik bestimmt
Die Misere der Bundeswehr habe nicht unter der Ampel begonnen, sondern mit dem unionsgeführten Verteidigungsministerium. Namentlich nennt er Karl Theodor von Guttenberg, der aus Profilsucht eine „Bundeswehrreform“ gewollt, die Wehrpflicht abgeschafft und die Bundeswehr zusammengespart hätte. „16 Jahre lang Versäumnisse der CDU-Minister werden jetzt aufgeholt.“ Jeder Soldat in Deutschland wisse, dass es CDU und CSU waren, die die Sparzeit in der Bundeswehr begonnen hätten. Die Retourkutsche sitzt, in der Union wird es hörbar unruhig.
Scholz weiß genau, welche Wunden der Union er zielgesetzt aufreißen kann – schließlich hat die SPD drei der vier Merkel-Regierungen mitbegleitet. Es rächt sich, dass die Union Sicherheit und Militär – ähnlich wie Wirtschaftsthemen – traditionell für sich beansprucht hat, aber unter der bleiernen Kanzlerin nichts von dem lieferte, was sie versprach. Scholz, angriffslustig wie selten, rechnet mit der Ära Merkel ab. Auch das eine Aufgabe, die eigentlich Merzens Sache sein müsste – wie die des Oppositionsführers, die Scholz für wenige Minuten post Merkelem innehat.
Nun rächt sich der monokausale Kosakenritt von Friedrich Merz. Scholz kann sich als Entlastungskanzler inszenieren, auf die steigende Inflation verweisen, die die Bundesregierung mit den richtigen Programmen in den Griff bekäme. Das Neun-Euro-Ticket sei bereits jetzt aufgrund großer Nachfrage ein Erfolg, man entlaste diejenige, die aufs Auto oder Bus und Bahn angewiesen seien. Nachdem Scholz auf unbeackertem Terrain angekommen ist, kann er wieder ungestört in den Modus der Merkel-Phrasen wechseln („wenn ein Land zusammenhält, kann es auch durch schwere Krisen kommen“).
Scholz kann die Inflation unhinterfragt Putin in die Schuhe schieben
Weil Merz den Platz geräumt hat, kommt Scholz auch mit anderen Flunkereien durch. So kann er ungestört das Narrativ bestärken, die Preissteigerung sei der „von Putin ausgelöste Krieg“. Im Plenum lacht jemand unüberhörbar. Scholz ist sauer: „Was lachen Sie?“ Wenn Inflation, Preissteigerung und Energiekrise Probleme „von außen“ sind, dann ist tiefere Ursachenforschung nicht nötig. Die Preissteigerungen seien auf „einmalige Schocks“ zurückzuführen, neben dem Ukraine-Krieg die Ausläufer der Corona-Krise, etwa, wenn bis heute Containerschiffe in Shanghai blockiert seien. Von der EZB und der im September sich abzeichnenden Energiekrise – mitverantwortet durch einen Ausfall der Windkraft wegen einer Windflaute – hören wir nichts.
Zudem kündigte er eine „Konzertierte Aktion“ an, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Über das schwammige Projekt kam aber so gut wie nichts heraus – sondern hörte sich vor allem nach einem Gipfel von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern mit Regierungsbeteiligung an.
Auch im Sozialbereich kann sich Scholz als Problemlöser mit Bürgergeld, stabilem Rentenniveu und steigendem Mindestlohn inszenieren, schlicht, weil Merz höchstens die Schuldenproblematik angesprochen hat. Der Kanzler verspricht: Ab nächstem Jahr gilt wieder die Schuldenbremse. Das ist kein großes Versprechen. Mit Sicherheit fallen der Bundesregierung noch weitere „Sondervermögen“ ein, die man in aller Eile für kommende Generationen stricken kann – vielleicht wieder mit freundlicher Hilfe der Union.
Ukraine-Krieg: Ist „erfolgreich verteidigen“ das neue „gewinnen“?
Es folgt der übliche Klimapopanz: CO2-Neutralität 2040, die Beschleunigung von LNG-Terminals, der Ausbau „Erneuerbarer Energien“, Zusammenarbeit mit der EU, um das alles voranzutreiben. Alles nichts Neues. Die Kompromisslosigkeit, mit der das Klimaziel – und insbesondere die Bewilligung von Verwaltungsverfahren – verfolgt wird, ist dagegen neu. Scholz: „Wir werden uns nicht den Schneid abkaufen lassen von Lobbyisten, Bedenkenträgern oder Anhängern des Status quo.“ Dies sei „das Jahr der Entscheidung“.
Erst zum Schluss kam Scholz dann als „Höhepunkt“ auf den Ukraine-Konflikt zu sprechen. Während sich Scholz um eine Antwort auf die Frage nach dem Termin für den ukrainischen Parlamentspräsidenten oder die Umsetzung des Bundestagsbeschlusses drückte, windete er sich bezüglich der Kriegsziele nur halb heraus: „Unser Ziel ist, dass Putin den Krieg verliert, dass die Ukraine sich verteidigen kann und damit erfolgreich ist.“ Heißt das, „erfolgreich verteidigen“ ist das neue „gewinnen“?
Man werde die Ukrainer so lange unterstützen, wie das nötig sei, mit „allen Möglichkeiten“, die man auf den Weg gebracht hätte. Putins Imperialismus werde man in Europa nicht akzeptieren. Genau dieser Überfall auf ein unschuldiges Land in Europa sei die „Zeitenwende“, korrigierte Scholz Merz, und diese habe bereits damit begonnen, dass man die jahrzehntelange Staatspraxis der Bundesrepublik, keine Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, aufgegeben habe – wohlgemerkt unter der Führung einer Ampel-Regierung. Deutschland übernehme jetzt die sicherheitspolitische Verantwortung als größtes Land der EU, die europäischen Partner seien darüber „erleichtert“. Dass die Bundeswehr die größte konventionelle Armee Europas im Nato-System werde, sei ein „Quantensprung“.
Scholz lobt den „Ringtausch“ mit Griechenland, verschweigt aber den ausstehenden mit Polen
Wie viel von diesen Versprechen übrigleibt, bleibt daher offen. Ankündigungen und Nebel sind schließlich das Lebenselixier dieser Bundesregierung – und das nicht nur im Ukraine-Krieg. Dass Scholz dennoch souverän auftreten konnte, gelang nur dank Friedrich Merz, der die vielen offenen Flanken nicht nutzte – oder nicht nutzen wollte.
Es wird dieser Tage viel von schweren Waffen gesprochen, besonders, wenn es um Olaf Scholz geht. Dessen schwerste Waffe ist bekanntlich der Nebelwerfer. Um aber den Nebelwerfer Scholz zu stellen, ist Merz offenbar zu schwach. Und das nicht nur, weil ohne Aufarbeitung der Merkel-Ära die Union jederzeit dieselbe Angriffsfläche bietet wie das amtierende Katastrophenkabinett.