Man muss nicht lange nach Beispielen suchen dafür, dass die politischen Entscheidungsträger der Bundesrepublik zunehmend der Wirklichkeit den Rücken kehren. Diese Beispiele sind inzwischen Legion. Noch nicht einmal die Kenntnis der Realität, führt zur Anerkennung der Realität.
Im Bundesrat stieß Merkels Entmündigungsgesetz zu recht auf herbe Kritik. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff sprach sogar von einem „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, andere Länderchefs wie Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier finden Teile des Gesetzes „verfassungsrechtlich problematisch“. Hörte man den teils gewundenen Argumentationen zu, fiel auf, dass Kritik am Gesetz leicht fiel, aber es sophistischer Künste bedurfte, dem Gesetz etwas Positives abzugewinnen.
Dennoch verzichteten die Länderchefs darauf, den Föderalismus zu verteidigen. Sie akzeptierten ein Gesetz, „dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis“ viele, wenn nicht alle für „unbefriedigend“ halten. Reiner Haseloff formulierte den Tenor der Diskussion, als er kritisierte: „Doch drängt sich nunmehr noch deutlicher die Frage auf, worin der Mehrwert dieses Gesetzes für die Menschen in Deutschland liegt gegenüber der im vergangenen Jahr im Grundsatz bewährten Abstimmung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen.“ Drängender als diese Frage stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, weshalb die Ministerpräsidenten nicht den Vermittlungsausschuss anrufen und stattdessen dieses Gesetz passieren lassen. Es gibt nicht einen vernünftigen Grund dafür, dass sich der Föderalismus in Deutschland selbst aufgibt, zumal zentralstaatlich organisierte Länder nicht besser durch die Pandemie kommen, siehe Frankreich – im Gegenteil.
Vielleicht hilft das Beispiel eines Abgeordneten der SPD aus Berlin Neukölln bei der Lösung des Rätsels weiter, weshalb man für etwas stimmt, wogegen man ist. Der Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu hatte gestern wie fast alle seiner Fraktionskollegen für Merkels Entmündigungsgesetz gestimmt. In einer Erklärung, auf die er in einem Tweet hinwies, listete Felgentreu dann akkurat alle Argumente gegen das Gesetz auf. Argumente, die er teilte, um schließlich in einem wesentlich kürzeren, zweiten Abschnitt darzulegen, weshalb er trotz politischer, fachlicher und inhaltlicher Ablehnung für das Gesetz gestimmt hatte.
Felgentreu macht für sich einen „Gewissenskonflikt“ geltend, den man auch weniger pathetisch Opportunismus, oder schlimmer noch Unterwürfigkeit nennen kann. Er stellt fest: „Im Ergebnis muss ich einsehen, dass meine inhaltlichen Bedenken im Gewissenskonflikt zwischen Loyalität zu Fraktion, Partei und Koalition einerseits und meiner Überzeugung hinsichtlich Repräsentanz und Föderalismus andererseits nicht ausreichen, um mich gegen die Mehrheit zu stellen.“ Vielleicht hätte sich Felgentreu an den Mut und die Gewissensgebundenheit eines Martin Luthers erinnern sollen, dessen Auftritt vor dem Reichstag in Worms vor 500 Jahren wir gerade vor ein paar Tagen feierten.
Wichtiger als die „grundgesetzliche Bindung der Abgeordneten an ihr Gewissen“ ist für Felgentreu die „Loyalität“ der Partei, also dem Parteiapparat, und der Fraktion gegenüber. Doch von dieser Loyalität der Partei und der Fraktion gegenüber weiß das Grundgesetz nichts. Völlig zu recht setzt das Grundgesetz auf die Freiheit des nur seinem Gewissen verpflichteten Abgeordneten. Wichtiger als das Gewissen ist in Felgentreus Argumentation hingegen das Wort des Fraktionsvorsitzenden. Kratzt man nur etwas an dem schönen Wort von dem der Partei und der Fraktion gegebenen Versprechen, kommt das alte deutsche Wort Gehorsam zum Vorschein.
Wenn es so ist, warum verkleinern wir dann nicht den Bundestag auf zwanzig oder dreißig Abgeordnete meinetwegen, die abhängig vom Wahlergebnis anteilmäßig ihre jeweiligen Parteien vertreten? Wozu brauchen wir dann die vielen, die nur das tun, was ihre Fraktionsführung von ihnen möchte, so wie es der Abgeordnete Felgentreu demonstriert hat?
Und an die Länderchefs die Frage gerichtet, warum schaffen wir nicht wie 1952 die DDR die Länder ab, wenn sie sich, polemisch gefragt, zu besseren Bezirken machen lassen? Sehr überzeugend waren die Schilderungen der Ministerpräsidenten darüber, was durch föderale Differenzierung erreicht wurde. Weshalb lassen sie sich die Möglichkeit der föderalen Differenzierung aus der Hand nehmen?
Reiner Haseloff hat Recht, der heutige Tag ist wahrlich ein „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, doch er ist mehr als dies, er ist generell ein Tiefpunkt in der demokratischen Kultur unseres Landes.
Historische Beispiele belegen, selbst in der urdemokratischen Schweiz nach 1945, wie schwer es ist, einmal aufgegebene Freiheitsrechte zurückzugewinnen. Dort, wo der Staat übergriffig dem Bürger gegenüber ist, wird er nur übergriffiger werden.