Tichys Einblick
Weg zu einem europäisiertem Islamismus

Gehört der Islam zu Deutschland? Kommt drauf an!

Normativ gesehen, gehört der Islam nicht zu Deutschland. Er kann dazu gehören, wenn er sich grundlegend wandelt, sich den kulturellen Werten der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft öffnet, entorientalisiert und inkulturiert. Am Zug sind also die Muslime.

Minarett und Kirche auf den Hügeln von Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Die Stadt ist berühmt für ihre religiöse Koexistenz.

© Getty Images

Seit Tagen schwappen die Wogen einer fruchtlosen Diskussion über die Ränder einer künstlich aufrechterhaltenen Erregungszone. Wieder einmal geht die Diskussion munter durcheinander. Ist die Behauptung, der Islam gehöre zu Deutschland, empirisch oder normativ gemeint? Die Frage wird nicht einmal gestellt. Aber manchmal ist Differenzierung nützlich. Denn empirisch betrachtet ist die umstrittene Aussage eine Banalität. Natürlich gehören die Muslime zu Deutschland. Wie Vegetarier, FDP-Wähler oder Autofahrer. Normativ betrachtet ist dieser Satz aber voller Brisanz. Denn die islamischen Werte stehen zu den kulturellen Werten Europas im Widerspruch. Europa steckt in einem Dilemma.

Die Europäische Identitätskrise verursacht Ratlosigkeit

Wer die I-Frage seriös beantworten will, kommt um den Blick auf einige grundlegende Tatsachen nicht herum. Offenkundig ist: Die europäischen Länder stecken in einem Dilemma und das Dilemma kann als Folge einer europäischen Identitätskrise gedeutet werden. Während sich die Europäer in Selbstzweifeln aufreiben, stellt der eingewanderte Islam die europäischen Werte offensiv infrage und setzt ihnen selbstbewusst die eigenen Werte entgegen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist ein Wertekonflikt entstanden, der vor allem eines hinterlässt: Ratlosigkeit. Wie soll mit diesen Wertekonflikten umgegangen werden? Sollen unsere Grundwerte für alle verbindlich sein, für Einheimische und Einwanderer, gleich, aus welchem Kulturkreis sie kommen? Oder ist die europäische Zukunft ein Wertepluralismus, der andere Werte auch dann noch akzeptiert, wenn sie den eigenen unvereinbar gegenüberstehen?

Auf der einen Seite also die kulturellen und politischen Werte Europas, auf der anderen Seite die des Islam. Die offensichtliche Ausweglosigkeit des Wertekonfliktes scheint einen Teil der Politiker Zuflucht in einer Art von Umarmungsstrategie nehmen zu lassen, nach dem Motto: Wenn Du Deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann umarme ihn. Vielleicht sprechen deshalb viele Politiker statt von einem Werte-Dilemma lieber von Bereicherung durch den Islam. Das ist politisch korrekt, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Denn der Islam ist keine Bereicherung, er ist vielmehr das Problem (Ralph Giordano). Natürlich geben das manche Politiker, die in offizieller Mission gerne auf Euphemismus machen, hinter vorgehaltener Hand auch zu. Soweit die europäischen Gemeinsamkeiten. In Deutschland treibt der staatsoffizielle Euphemismus allerdings besondere Blüten. Denn hier gedeiht der scheinbar unausrottbare Glaube an die Fähigkeit des Rechts, alle Probleme lösen zu können, besonders prächtig. Man spielt das Werte-Dilemma auf die rechtliche Ebene herunter und ergeht sich dann in der Illusion eines kulturneutralen Rechts, das über allen kulturellen Unterschieden steht. Ist man so weit gekommen, muss über die konflikthafte oder gar unüberbrückbare Natur kultureller Unterschiede nicht mehr geredet werden. Aus diesem Unwillen oder dieser Unfähigkeit zur schonungslosen Auseinandersetzung hat sich in Deutschland die Vorstellung entwickelt, der Islam könne, wenn schon keine kulturelle Anpassung zu erwarten sei, nach und nach rechtsstaatlich gezähmt werden. Dazu müssten die Muslime und der nach Deutschland eingewanderte Islam nur die Grundwerte der Verfassung anerkennen.

Kann die Entwicklung eines gemeinsamen „Glossar’s“ der Anfang einer Annäherung sein?

Dann würde alles gut. „Bekenntnis zum Grundgesetz“ heißt die schablonenhafte Formel. Auf diese Vorstellung hat sich die staatliche Seite z.B. bei der Deutschen Islamkonferenz versteift. Mit den Grundwerten des Grundgesetzes sind Begriffe wie Demokratie, Gleichheit vor dem Recht, Recht auf Selbstbestimmung, Rechtsstaat und Menschenwürde, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Gewaltfreiheit, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden sowie die Trennung von Religion und Staat gemeint. Solange diese Rechtsbegriffe abstrakt gehandelt und nicht mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden müssen, stimmt die muslimische Seite zu. Die Islamlobbyisten versichern, dass gerade diese Werte dem Islam besonders am Herzen liegen. Was aber, wenn die islamische und die nichtislamische Seite mit diesen Wertbegriffen jeweils andere Inhalte verbinden? Die muslimische Lobby sieht das Grundgesetz nämlich keineswegs als Fixpunkt gemeinschaftlichen Zusammenlebens an. Gerade die Multikulturalität der Gesellschaft dynamisiere das Grundgesetz, das heißt, öffne es für Änderung und Weiterentwicklung. Änderung und Weiterentwicklung seien die logische Konsequenz der Einwanderung neuer kultureller und religiöser Werte, die mit den herkömmlichen Werten der Aufnahmegesellschaft konkurrierten.

Das Recht als kulturneutraler Problemlöser ist eine Falle

Zumindest sehen das prominente Vertreter der islamischen Gemeinde so. Hakki Keskin etwa, der von 2005 bis 2009 für die Linkspartei im Bundestag saß und bis 2005 Vorsitzender der einflussreichen Türkischen Gemeinde in Deutschland war. Man wird ihn wohl als säkularen Muslim bezeichnen können, auch wenn niemand so genau weiß, was das sein soll. Jedenfalls ist er einer, der noch nicht einmal zur Lobby des traditionellen Islam in Deutschland gehört. Aber selbst für ihn ist es „völlig inakzeptabel“, wenn die Werteordnung des Grundgesetzes gleichgesetzt wird mit der Werteordnung einer zwar säkularen, aber historisch christlich geprägten Kultur. Denn wie soll „ein Nicht-Christ, ein Muslim, Jude, Hindu etc. die christlich-abendländische Kultur akzeptieren, um integriert zu werden? Und noch dazu die eigene Kultur bewahren können.“

Aus seiner, aber auch aus Sicht der Integrationsstaatsministerin Aydan Özoguz, die diesen Gedanken vor kurzem wieder aufgegriffen hat, liegt der wirkliche Grundkonsens folglich nicht in der vorbehaltlosen Anerkennung des Grundgesetzes, sondern in der Übereinkunft, dass der Minimalkonsens, der in der Verfassung zum Ausdruck kommt, Gegenstand interkultureller Aushandlung ist.

Das hat sich der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble möglicherweise ein wenig anders vorgestellt, als er 2006 die Deutsche Islamkonferenz in Gang setzte. Und die scheinbar bestechende Idee, die sich das Recht als kulturneutralen Problemlöser vorstellt, ist in Wirklichkeit eine Falle. Allerdings scheinen die Missverständnisse auch anderswo verbreitet. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) scheint ebenfalls dem unerschütterlichen Glauben an die Fähigkeit des Rechts zu frönen, das Werte-Dilemma neutralisieren zu können:

„Der freiheitliche Staat verlangt von Muslimen und ihren Organisationen nicht, dass sie sich wie die Kirche um eine überzeugende theologische Begründung der Vereinbarkeit ihrer Religion mit den Grundwerten der freiheitlichen Demokratie bemühen und diese öffentlich erklären. Ihm genügt die gelebte Rechtstreue der Religionsgemeinschaften in seinem Gebiet. Zu wünschen ist dennoch, dass die Religionsgemeinschaften ihr Verhältnis zu Staat und Gesellschaft öffentlich und nachvollziehbar darlegen und erkennbar machen, wie es die evangelische Kirche getan hat“.

Aber auch diese Position übersieht, dass formale Rechtsbefolgung noch lange nicht die innere Anerkennung der Rechtsordnung garantiert. Formale Treue zur Verfassung reicht nicht. Das dämmert mittlerweile dem einen oder anderen in Deutschland. Christine Langenfeld, Direktorin des Institutes für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen, hat deshalb auch inhaltliche Verfassungstreue gefordert.

Klingt einleuchtend, aber sie springt trotzdem zu kurz. Denn wie sollte aus formaler Verfassungstreue eine inhaltliche werden, wenn die Muslime die kulturellen Werte, deren Ausdruck die Grundwerte der Verfassung sind, nicht internalisiert haben?

Religionsfreiheit als Mittel der Subversion – Religion darf alles

Ein weiteres Handicap behindert die Verteidigung der angeblich unverhandelbaren Werte des Grundgesetzes. Das deutsche Verfassungsrecht hat sich in die Zwangsjacke einer beinahe uferlos verstandenen Religionsfreiheit gezwängt. Zu welch haarsträubenden Schlüssen es führt, wenn Religionsfreiheit verabsolutiert wird, zeigt wiederum die Position der EKD:

„Die Wahrnehmung der Religionsfreiheit darf selbst dann nicht infrage gestellt werden, wenn der Glaube den vorherrschenden Wertvorstellungen und Lebensformen in Deutschland widerspricht. Die Freiheit des Glaubens und Gewissens eröffnet einen Schutzraum, in dem geglaubt und gedacht werden darf, was der großen Mehrheit der Bevölkerung unakzeptabel erscheint.“

Diese Position suggeriert: Religion darf alles. Das ist auch die Auffassung des organisierten Islam in Deutschland und sie enthält eine verborgene List. Eine grenzenlos gedachte Religionsfreiheit öffnet nämlich die Hintertür für die schleichende Anerkennung von Werten, die mit dem bisherigen kulturellen Werteverständnis des Grundgesetzes nichts zu tun haben. Religionsfreiheit als Mittel der Subversion. Ein genialer Gedanke. Und der in dieser schrankenlosen Form von Religionsfreiheit freigesetzte Relativismus zersetzt den kulturellen Selbstbehauptungswillen der Aufnahmegesellschaft, er untergräbt die Entschlossenheit, darauf zu bestehen, dass die eigenen Werte für alle verbindlich und tatsächlich nicht verhandelbar sind.

Die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats ist abhängig von Moral und WIR-Gefühl seiner Bürger

Was tun? Der demokratische Rechtsstaat ist schon aus Gründen der bloßen Selbsterhaltung auf „ein staatstragendes Ethos“, die Moral und ein Wir-Gefühl der Bürger angewiesen. Da hat Ernst-Wolfgang Böckenförde zweifellos Recht. Seine berühmte Formel bringt diese Notwendigkeit auf den Punkt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Aber damit ist das Problem gedanklich nur um eine Stufe verschoben. Woher kommen diese „Voraussetzungen“, was sind ihre Quellen? Meist unterschlagen wird sein darauffolgender Satz. Diese Voraussetzungen seien nur gegeben, wenn sich der freiheitliche Staat auch auf die „moralische Substanz des einzelnen“ und die „Homogenität der Gesellschaft“ stützen könne. Das klingt ein wenig rätselhaft.

Seinen vollen Sinn entfaltet der Satz, wenn er als „Homogenität eines gesellschaftlich-kulturellen Wertekonsenses“ gelesen wird. Heute distanziert sich Böckenförde von seiner Homogenitätsforderung. Leider, denn damit entschärft er die Richtigkeit seiner Aussage. Böckenförde schränkt ein, er habe lediglich an relative Homogenität gedacht. Das freilich ist eine banale Feststellung, weil es in der sozialen Welt gar nichts anderes als höchstens relative Homogenität geben kann. Eine Binsenweisheit ist auch seine Ansicht, dass die Bürger eines Landes eine gemeinsame Vorstellung davon haben müssten, wie sie zusammenleben wollten. Da die Vorstellungen darüber aber weit auseinandergingen, könne diese „relative Gemeinsamkeit“ nur bedeuten, dass „Toleranz und die Anerkennung von Verschiedenheit“ die „gemeinsame Grundhaltung“ seien. Diese im linksliberalen und grünalternativen Milieu besonders beliebte Schlussfolgerung führt allerdings direkt ins Abseits. Denn die gesellschaftlichen und individuellen Unterschiede können nur dann produktiv sein, wenn die „gemeinsame Grundhaltung“ mehr ist als die Erkenntnis, dass man gar keine Gemeinsamkeiten hat. Existieren keine Gemeinsamkeiten unter den Bürgern, außer dass man sich gegenseitig attestiert, dass man keine hat, dann zersetzen konkurrierende oder gar unvereinbare Werte das notwendige Minimum an gesellschaftlichem Zusammenhalt.

Religion ist nicht per se verbindend

Umgekehrt: Die Voraussetzungen, von denen der freiheitliche Verfassungsstaat lebt, sind dann optimal, wenn die Bürger eines Landes einen gemeinsamen kulturellen Horizont haben und wenn gleichzeitig die Minderheiten, die davon abweichen, zahlenmäßig unbedeutend, passiv und nicht militant sind. Ein Beispiel dafür sind die Zeugen Jehovas, die mit dem Staat nichts zu tun haben wollen, ihn aber auch nicht bekämpfen. Ein gemeinsamer kultureller Horizont ist gegeben, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft eine nationale Kultur teilen, wenn sie dieselben kulturellen Werte haben, wenn sie sich als Nation fühlen. Die Nation ist eine „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson), die sich durch Geschichte, Kultur und Sprache verbunden sieht. Religion ist nicht per se verbindend. In Deutschland, das seit dem 16. Jahrhundert konfessionell geteilt ist, war es bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht das Christentum, das Protestanten und Katholiken ein Gefühl der Gemeinsamkeit vermittelte, sondern das konfessionsübergreifende Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Kulturnation. Je schwächer der kulturelle Wertekonsens, desto labiler sind die Grundlagen des Staates. Nur in der Diktatur kann fehlende kulturelle Homogenität bis zu einem gewissen Grad durch ideologischen Ersatz, aber auch durch Zwang und Gewalt kompensiert werden. Wenn auch nicht dauerhaft, wie die Geschichte zeigt.

Wenn „relative Gemeinsamkeit“ zu den Voraussetzungen gehört, von denen der freiheitliche Verfassungsstaat lebt, dann ist diese Gemeinsamkeit im Falle des Islam gerade nicht gegeben. Dann hilft es auch nicht, wenn der europäische und deutsche Islamdiskurs mit solch kümmerlichen Gemeinplätzen bestritten wird, wie sie auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise von Karin Göring-Eckardt oder Jens Spahn vorgetragen worden sind, die, wie schon zuvor Renate Künast und andere, den „Islam einbürgern“ wollten.

Noch nichtssagender ist das allfällige Rezept, dass beide Seiten aufeinander zugehen müssten, um das Werte-Dilemma zu überwinden. Aber warum sollte die Aufnahmegesellschaft ihre eigenen Werte aufgeben, um einer eingewanderten Minderheit entgegenzukommen?

Die Überwindung des Werte-Dilemmas ist Sache des Islam

Es ist Sache des Islam, das Werte-Dilemma zu überwinden und seine Einbürgerungstauglichkeit zu beweisen. Oder er wird nie dazugehören. Die Aufnahmegesellschaften Europas haben ihre Schuldigkeit längst getan. Sie sind in Vorleistung gegangen und haben den Muslimen von Anfang an das volle Grundrecht auf Religionsfreiheit zugestanden. Aber Islam und Muslime können nur dann Teil Europas werden, wenn sie die kulturelle Prägung durch das Christentum sowie die politischen und kulturellen Werte Europas und der Länder, in die sie eingewandert sind, bedingungslos anerkennen und internalisieren. Der Islam kann nur dann Teil Europas werden, wenn er sich von seiner Herkunftskultur löst, sich entorientalisiert und inkulturiert und sich die kulturellen Ausdrucksformen vor Ort zu eigen macht.

Sogar der Imam der Zagreber Moschee, Aziz Hasanović, empfindet es als grotesk, wenn in Europa Menschen in arabischer Kleidung auftreten, die dem Wüstenklima angepasst ist, und behaupten, diese Kleidung sei islamisch. Das sei, so Hasanović, ein typisches Beispiel grober Unkenntnis der Grenzen zwischen Religion und Kultur.

Aber so einfach ist das nicht. Der Islam identifiziert sich mit der arabischen Kultur, weil Gott im Koran in arabischer Sprache zu den Menschen gesprochen hat. Die Verabsolutierung der arabischen Kultur wirkt ausgrenzend. Ähnliches gilt für Kopftuch oder Schleier. Ob nur religiöses oder auch politisches Symbol, sie sind „Zeichen für Geschlechterapartheid“ (Güner Balci, Filmemacherin). Sie stehen für die totalitäre Herrschaft der Scharia und sind Ausdruck der Absonderung und Integrationsunwilligkeit der Muslime.

Inkulturation bedingt Perspektivwechsel – sprachlich und kulturell

Die Fähigkeit zur Inkulturation hat das Christentum dem Islam voraus. Die christliche Mission sah sich von Anfang an mit der Notwendigkeit konfrontiert, das Evangelium in die einzelnen Sprachen der Welt zu übersetzen. Das entsprach ihrem biblischen Auftrag. Übersetzung heißt aber, den Glaubensinhalt in einer anderen Sprache und damit in einer anderen Gedankenwelt zu reformulieren. Das kann nur gelingen, indem der Übersetzer seine sprachliche und kulturelle Perspektive wechselt zugunsten der Sprache und Kultur, in die der Text übersetzt werden soll. Eine Inkulturation des Islam ist vom heutigen Standpunkt aus betrachtet unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen.

Die deutsche und europäische Geschichte kennt den Musterfall, der in großen Teilen erfolgreichen kulturellen Assimilation der Juden, im 19. und 20. Jahrhundert. In dieser Epoche hat sich das Judentum von einer Ethnoreligion zu einer Konfession gewandelt. Voraussetzung dafür war eine liberalisierte Religion, die sich aus der rituellen Erstarrung einer Gesetzesreligion gelöst hatte. „Die meisten der rund 500.000 im Deutschen Reich lebenden Juden waren angepasst und hatten für sich selbst den Prozess der Akkulturation und Assimilation abgeschlossen. Sie verstanden sich nicht nur, sondern sie fühlten sich auch als ‚deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens‘.“ Dass eine inkulturatorische Entwicklung auch für den Islam nicht ganz ausgeschlossen werden kann, zeigt das Beispiel der Stadt Labin in Istrien (Republik Kroatien). Der Friedhof der Stadt beweist, dass Muslime ihre letzte Ruhe durchaus in der Gesellschaft von Ungläubigen und ohne die obligatorische Ausrichtung der Gräber nach Mekka finden können. Auf dem nach katholischen Gepflogenheiten angelegten Friedhof unterscheiden sich die bunt gemischten Gräber lediglich dadurch, dass die Marmorgrabsteine von Katholiken Kreuze, die von Musli-men den Halbmond, die von jugoslawischen Kommunisten fünfzackige Sterne und die von Agnostikern und Atheisten gar kein Symbol tragen.

Niemand weiß, ob der Weg in einen europäisierten Islam überhaupt möglich ist. Ein erster Schritt auf diesem Weg wäre, dass die islamischen Verbände auf die anmaßende Forderung verzichten, die demokratischen Staaten Europas müssten zu allen Religionen gleich viel Distanz (Äquidistanz) halten und alle Religionen in jeder Hinsicht völlig gleich behandeln.

Die Kultur Deutschlands und der europäischen Länder ist christlich geprägt, auch wenn die christlichen Werte heute großenteils nur noch in säkularer Form gesellschaftlich wirksam sind. Die Zahl der praktizierenden Christen nimmt zwar ab, aber immer noch sieht eine Mehrheit ihre kulturelle Identität im Christentum verwurzelt. Schon deshalb kann der Staat kulturell nicht neutral sein. Das ist der Grund dafür, dass auch ein liberaler und demokratischer Rechtsstaat das privilegiert, was ihm als wahr gilt, und öffentlich wirksam diskriminiert, was er für einen Irrtum hält (Robert Spaemann).

Eine differenzierende Betrachtung von Religionen ist folglich erlaubt, ja sogar notwendig. So darf der Staat das Maß der öffentlichen Anerkennung oder gar Unterstützung durchaus von ihren Leistungen für das Individuum und von ihrem Beitrag zur gesellschaftlichen Integration abhängig machen. Wenn der Islam nicht zur Integration beiträgt, sondern zur Segregation, dann kann er nicht erwarten, dass der Staat eine solche Religion auch noch fördert. Ernst-Wolfgang Böckenförde geht sogar noch einen Schritt weiter. Er fordert, der Staat habe dafür Sorge zu tragen,

„dass […] solange die […] Vorbehalte [gegenüber Säkularisierung und Religionsfreiheit] fortbestehen, die Angehörigen des Islam durch geeignete Maßnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration […] in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen. Darin liegt nicht mehr als seine Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist.“

Wenn Böckenförde Recht hat, dann ist der Staat aus Selbsterhaltungsinteresse nicht nur zur Abwehr von Gefahren verpflichtet, die durch die Einwanderung fremder Kulturen entstehen. Darüber hinaus handelt er legitim und rational, wenn er die kulturellen Voraussetzungen fördert, die die Grundlage des „freiheitlichen Verfassungsstaates“ sind. Logischerweise darf er dann in Rechnung stellen, dass die europäische Kultur durch das Christentum geprägt wurde. Das heißt nicht, dass ausschließlich die kulturelle Leistung der Kirchen anerkannt wird. Das heißt nur, dass der Staat sich zu seinen kulturellen und historischen Wurzeln bekennt.

Es ist an den Muslimen sich den nichtislamischen Mehrheitsgesellschaften zu öffnen

Der Islam hat einen langen Weg vor sich, wenn er zu einer europäischen Religion werden will. In erster Linie muss er lernen, dass ihm auch das Grundrecht der Religionsfreiheit keinen Freibrief ausstellt. Europa hat kein Interesse daran, dass die Religionsfreiheit dazu missbraucht wird, die religiösen Überzeugungen der Muslime zu radikalisieren und sie gegenüber den Mehrheitsgesellschaften abzuschotten. Will sich der Islam in Europa „einbürgern“, dann muss er sich den nichtislamischen Mehrheitsgesellschaften öffnen. Denn die europäischen Länder haben Anspruch auf die uneingeschränkte Loyalität der Muslime, und nicht nur auf eine, die an Bedingungen geknüpft ist.

Muslime und Islam werden diese Loyalität aber nur entwickeln können, wenn sie sich die kulturellen und die politischen Grundwerte Europas aneignen und sie internalisieren. Der Islam müsste seinen Charakter als politische Religion aufgeben und dem Projekt der Islamisierung Europas abschwören. In religiöser Hinsicht müsste der Islam lernen, dass er seinen Anspruch auf die absolute Wahrheit nur im Rahmen eines religiösen Pluralismus vertreten kann. Der Satz des von islamischen Terroristen 1996 ermordeten katholischen Bischofs von Oran/Algerien, Pierre Lucien Claverie, ist der programmatische Ausdruck dieses Lernprozesses:

„Ich persönlich bin überzeugt, dass die Menschheit nur als Plural existiert und dass wir dem Totalitarismus verfallen, sobald wir behaupten, die Wahrheit zu besitzen oder im Namen der Menschheit zu sprechen. Niemand besitzt die Wahrheit, jeder sucht sie.“

Die Zukunftsaussichten für einen europäisierten Islam sind bis jetzt eher bescheiden. Aber vielleicht entwickelt sich irgendwann ein privater, rein spiritueller Islam. Ein neuer Islam, wenn Muslime die kulturellen Werte Europas Schritt für Schritt in ihr Leben, ihren Alltag und ihre Religion importieren. Danach sieht es einstweilen freilich noch nicht aus.

Gehört der Islam zu Europa? Normativ gesehen nicht. Kann der Islam zu Europa gehören? Er kann, aber nur, wenn er sich grundlegend wandelt. Er kann, wenn er sich als fähig erweisen sollte, sich den kulturellen Werten der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft zu öffnen, sich zu entorientalisieren und sich zu inkulturieren. Ist diese Vorstellung realistisch? Wie gesagt, es wäre ein weiter Weg. Aber Muslime jedoch können heute schon zu Europa gehören, wenn sie wollen. Voraussetzung ist, dass sie sich die kulturellen Werte Europas zu eigen machen und sie verinnerlichen.

Tun sie es, dann werden die europäischen Mehrheitsgesellschaften sie mit offenen Armen empfangen. Am Zug sind jetzt also die Muslime.


Prof. Dr. Berthold Löffler, Hochschule Ravensburg-Weingarten. Mit seinem italienischen Kollegen Bruno Tellia, Universität Udine, hat er das Buch veröffentlicht: Bruno Tellia /Berthold Löffler: Deutschland im Werte-Dilemma. Kann der Islam zu Europa gehören? Olzog Verlag München 2013

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