Heute ist es also so weit. Die Vereinigten Bürger von England, Wales, Schottland und Nordirland dürfen darüber entscheiden, ob sie der als lästig empfundenen Europäischen Union den Rücken kehren oder sich weiter dem gefühlten Zwangsdiktat aus Brüssel unterwerfen wollen. Die Wetten stehen im wett-begeisterten Königreich derzeit leicht zugunsten der „Bleiber“ – doch die europäische Politik wie die Weltwirtschaft fürchten sich vor den „Gehern“.
Ich will jetzt, wo Ihr, liebe Briten, endlich selbst über Eure Zukunft entscheiden dürft, gar nicht über Eure Pro- und Contra-Argumente richten. Dazu war ich viel zu weit weg. Nur eines ist mir aufgefallen: Eure EU-Gegner argumentierten ständig damit, durch die EU kämen zu viele Fremde ins Land. Darf ich Euch daran erinnern, dass ein Großteil dieser Zuwanderer aus früheren britischen Kolonien stammt? Aus Indien und Pakistan, Irak und Schwarzafrika? Wir können ja mal durchzählen, ob nicht eigentlich Europa Eure Zuwanderer übernimmt und nicht Ihr unsere. Doch lassen wir das einfach mal im Raum stehen.
Weltweite Schreckenszenarien
Schreckensszenarien wurden in den vergangenen Wochen an die Wand gemalt. Englands Wirtschaft würde in die Knie gehen (was mittelfristig zutreffen kann), das britische Pfund einen ungeahnten Wertverfall erleben (was zumindest kurzfristig zu erwarten steht), die „City“ ihre nunmehr bald 200-jährige fiskalische Dominanz verlieren (was sehr gut möglich ist).
Auch die EU selbst und die Länder der Rest-EU blieben nicht verschont. Deutschland als wichtigster Handelspartner des Königreichs in der EU würde in eine Phase des wirtschaftlichen Negativwachstums gezwungen. Und in allen Ländern der EU scheinen überall die Kritiker nur darauf zu warten, es den Briten gleich zu tun – diese Bündnis freier Europäischer Staaten würde sozusagen in einem Zuge im- und explodieren.
Was ist tatsächlich zu erwarten?
Doch nun lehnen wir uns mal zurück – und blenden wir die üblichen, kurzfristigen Turbulenzen an den Börsen ebenso aus wie kurzfristigen Folgen der Marktumstellungen , die sich nach spätestens einem Jahr wieder gefangen haben werden, wenn andere Probleme auf der Agenda stehen. Blicken wir einmal auf das, was tatsächlich zu erwarten ist.
Doch auch für die EU selbst wäre der Brexit ein heilsamer Schock. Denn die Wirrungen, denen das Chaotische Königreich unweigerlich bei einem Brexit anheimfallen müsste, werden in den anderen EU-Ländern all jenen Bürgern ihr eigenes Schicksal vor Augen führen für den Fall, dass sie sich selbst für einen ~exit entscheiden sollten. Die EU-Austrittsbefürworter von Finnland bis Spanien, Griechenland bis Deutschland würden nach einer kurzen Euphorie über den Farage/Johnson-Sieg in eine tiefe Depression fallen. Und die in der Union verbliebenen Länder Europas wären gut beraten, auf dem Höhepunkt der britischen Austrittsagonie selbst entsprechende Referenden abzuhalten. Falls dann tatsächlich noch jemand Lust verspürt, dem britischen Sprung ins tiefe Loch zu folgen – sei es drum, Reisende soll man nicht aufhalten.
Bitte, liebe Briten, geht
Deshalb, liebe Briten, seid so nett und opfert Euch. Stimmt mehrheitlich für den Brexit, damit diese unsägliche Debatte um EU-Austritte endlich mal ein Ende hat. Denn stimmt ihr für die EU, dann wird das Austritts-Gemeckere kein Ende nehmen und die scheinbar Austritts-Willigen werden ständig weiteren Zulauf haben.
Und das auch deshalb, weil die Politiker Europas und die verkrustete, selbstverliebte Bürokratie in Brüssel und Straßburg ohne Euren Austritt weiterhin keine Notwendigkeit erkennen werden, diese in ihrer ursprünglichen Idee so einmalig wichtige und friedensstiftende Europäische Union wieder auf die Füße eines Konstruktes für die Menschen und nicht für die Wirtschaftsführer und Bürokraten zu stellen.
Deshalb, liebe Briten – opfert Euch. Opfert Euch für uns, die wir durch Euren Austritt die Chance auf eine neue, eine bürgernahe, im wahrsten Sinne des Wortes reformierte EU erhalten werden.
Eure Schotten und Waliser werden ohnehin schon bald wieder bei uns sein und gemeinsam mit uns eine neue EU der Bürger schaffen. Ihr, liebe Engländer mit den drei Löwen – Ihr dürft weiterhin in der Fußball-EM antreten und gegen uns verlieren. Ansonsten aber dürft Ihr als europäischer Kleinstaat Euer eigenes Ding machen. Und falls es Euch in 50 Jahren oder so gelüstet, doch wieder Teil Europas zu sein, dann dürfen Eure Kinder und Enkel gern anklopfen. Vielleicht haben Euch unsere Kinder und Enkel bis dahin ja den Austritt verziehen und nehmen den verlorenen Sohn in biblischer Nächstenliebe wieder auf.