Tichys Einblick
Friedrich Merz

Gegen den rot-grünen Zeitgeist der CDU kommt auch er nicht an

Friedrich Merz verspricht den Mitgliedern und Funktionären seiner Partei eine liberal-konservative Wende, mit der er die AfD halbieren möchte. Das widerspricht jedoch nicht nur dem rot-grünen Zeitgeist seiner Partei, sondern auch eines Großteils ihrer Wähler.

Sean Gallup/Getty Images

„So viele Grüne können wir gar nicht verlieren, wie wir auf der anderen Seite dazugewinnen können“ – mit dieser Behauptung warb der (inoffizielle) Bewerber um den CDU-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur, Friedrich Merz, bei einem Auftritt vor Mitgliedern der Unions-Fraktion und mittelständischen Unternehmern im „Ballhaus Berlin“ für eine Art unausgesprochener liberal-konservativer Wende seiner Partei. Mit dieser Wende will Merz rund die Hälfte der von der Union zur AfD abgewanderten Wähler zurückgewinnen, ohne deswegen weitere Wähler an die Grünen zu verlieren. Gelingen soll dies durch eine Öffnung der innerparteilichen Diskussion für unter Merkel tabuisierte Themen wie der Migration, der Energiepolitik und der Europapolitik. Zukünftig soll es laut Merz auch wieder erlaubt sein, sich kritisch von Merkels Politik abzusetzen, ohne deswegen gleich bezichtigt zu werden, ein „Krebsgeschwür“ oder gar ein „Nazi“ zu sein.

Dass Merz selbst den grassierenden Verunglimpfungs-Reflexen vieler seiner Parteifreunde nach „rechts“ keineswegs abhold ist, zeigt seine auf der Berliner Veranstaltung vorgenommene Charakterisierung der AfD-Abgeordneten als „Gesindel“; damit hat er möglicherweise aber nur den Rest von dann vielleicht noch sieben Prozent AfD-Abgeordneten gemeint, die dank der von ihm in Gang gesetzten und vorangetriebenen liberal-konservativen Wende der CDU im nächsten Bundestag noch übrig bleiben sollen. Bei den anderen Hälfte hat sich Merz mit einem Tweet vorsichtshalber entschuldigt, nachdem ihn seine Berater vermutlich darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die fast sechs Millionen Wähler, die der AfD bei der letzten Bundestagswahl ihre (Zweit-)Stimme gegeben haben, durch seinen Gesindel-Vorwurf indirekt als verunglimpft betrachten dürften.

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Da Merz zumindest einen Teil dieser Wähler bei der kommenden Bundestagswahl für die Union gewinnen möchte, will er sich derlei Beschimpfungen in Zukunft wohl eher verkneifen und stattdessen den liberal-konservativen Stimmen in und außerhalb seiner eigenen Partei wieder mehr Raum verschaffen. Seine inner- und außerparteilichen Gegner fürchten deswegen einen „Rechtsruck“, der die CDU weitere Stimmen Richtung Grüne, vielleicht auch Richtung, SPD, FDP oder gar Linke kosten könnte. Dieses Risiko hält Merz indes für sehr überschaubar, unterschätzt dabei aber die mentalen Auswirkungen der von Merkel vor fünfzehn Jahren in Gang gesetzten links-grünen Wende innerhalb der CDU. Diese wurde von ihr zwar nicht öffentlich ausgerufen, dafür aber unter dem Titel einer „Modernisierung“ klammheimlich und außerordentlich wirksam Schritt für Schritt vorangetrieben. Ob strategisch geplant oder den jeweiligen Umständen und Opportunitäten geschuldet, spielt für das Ergebnis keine Rolle.

Dieses besteht unter anderem darin, dass sich unter den Funktionären, Mitgliedern, Anhängern und Wählern der CDU der links-grüne Zeitgeist inzwischen so stark verbreitet hat, dass er weite Teile der Partei und ihres Umfelds beherrscht, die Partei wahrscheinlich sogar dominiert. Bei dieser Entwicklung handelt es sich unter anderem um die Spätfolge des Scheiterns der von Helmut Kohl zu Beginn der 1980er Jahre geforderten „geistig-moralischen Wende“. Sie sollte als Reaktion auf die links-grüne Kulturrevolution der 1970er Jahre den mit ihr einhergehenden Niedergang des politischen Konservativismus stoppen, schlug aber fehl. Merkel zog daraus, nachdem sie zunächst noch versucht hatte, den weiteren Vormarsch des links-grünen Zeitgeistes einzudämmen, den Schluss, sich und ihre Partei diesem Zeitgeist anzupassen und wurde so selbst zu einer seiner wichtigsten Protagonistinnen. Vor allem deswegen wird Merkel heute keineswegs nur von den Funktionären und Mitgliedern ihrer eigenen Partei, sondern auch der Grünen, der SPD und selbst der Linken wie ein Popstar verehrt.

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Gegen diese Entwicklung eine liberal-konservative Wende in Gang zu setzen, ist ein Kraftakt, der, sollte es sich um mehr als ein rein wahltaktisches Manöver handeln, weit mehr verlangt als nur einige Zugeständnisse an Forderungen einiger konservativer, weitgehend einflussloser Kräfte in der CDU. Alexander Dobrindt hat zu der Zeit, als sich die CSU noch an Merkel rieb, eine „konservative Revolution“ in Deutschland angekündigt, möglicherweise ohne zu wissen, dass er damit begrifflich an ein politisches Konzept der 1920er Jahre anknüpfte, dem unter anderem auch Björn Höcke zugeneigt ist. Nachdem die CSU bei den letzten Landtagswahlen in Bayern aber deutlich mehr Stimmen an die Grünen als an die AfD verlor, brach Dobrindt seine revolutionären Schalmeien-Klänge schnell wieder ab und wechselte zur neuen, inzwischen grün intonierten Melodie seines Parteivorsitzenden Markus Söder. Ob damit bei den kommenden Landtagswahlen die an die Grünen verlorenen Wähler wieder zur CSU zurückkehren, wird man sehen.

Der Ausgang der EU-Wahlen im letzten Jahr gibt zu derlei Erwartungen allerdings wenig Anlass. Sie standen unter der Führung des CSU-Politikers Manfred Weber seitens der Union unter dem Zeichen der „Klimarettung”, dann aber vor allem des Kampfes gegen den Vormarsch des „Rechtspopulismus” in Deutschland und Europa. Zwei Herzensanliegen der Grünen, die so, ganz im Sinne des Zeitgeistes, auch den Wahlkampf der Union bestimmten. Das kostete die CDU im Vergleich zu ihren Ergebnissen bei der Bundestagswahl 2017 rund 1,25 Millionen Wähler, die zu den Grünen abwanderten. Rechnet man die zwischen 2013 und 2017 schon zu den Grünen abgewanderten rund 330 000 Unionswähler mit hinzu, dann verlor die Union von 2013 bis 2019 rund 1,6 Millionen Wähler an die Grünen. Das liegt nur leicht unter den rund 1,8 Millionen Wählern, die im selben Zeitraum von der Union zur AfD gewechselt sind.

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Wie Friedrich Merz angesichts dieser Zahlen und Entwicklungen zu seiner eingangs zitierten Einschätzung kommt, die weiteren Verlustpotentiale in Richtung der Grünen seien weit geringer als die Gewinnpotentiale aus Richtung der AfD, bleibt vorerst sein Geheimnis. Möglicherweise hat er erkannt, dass das Bespielen grüner Melodien wie im EU-Wahlkampf, insbesondere wenn diese Melodien drohende Klima- und Faschismus-Apokalypsen intonieren, die Wähler nicht zur Union, sondern zu den Grünen treibt. Das heißt aber im Umkehrschluss keineswegs, dass diese Wähler der Union treu bleiben oder wieder zu ihr zurückkehren, wenn sie die grünen Melodien nicht mehr lauthals mitsingt, sondern zu einer etwas konservativeren Intonation wechselt. Der Wechsel zu den Grünen wird dann nicht mehr vollzogen, weil der gemeine links-grün gesonnene Unionswähler angesichts des drohenden Weltuntergangs aufgrund des Klimawandels und des durch die Rechtspopulisten drohenden Faschismus lieber gleich das Original im Kampf gegen diese Bedrohungen wählt, sondern weil die Union gegen diese Bedrohungen nichts zu unternehmen gedenkt, sie sogar befördert.

Am sichtbarsten wird dieses durch die gezielte Hysterisierung der Politik forcierte Dilemma der Union am Beispiel Kernkraft. Die Entscheidung Merkels, auf deren Nutzung für die Stromerzeugung in Deutschland zu verzichten, war vor der von ihr verfügten Grenzöffnung des Jahres 2015 sicherlich wichtigste ihrer, dem links-grünen Zeitgeist gehorchenden Entscheidungen, vielleicht sogar die wichtigste überhaupt. Sollte die Union diese Entscheidung angesichts der zunehmenden Probleme der von ihr betriebenen Energiewende in irgendeiner Weise wieder rückgängig machen wollen, liefen ihr möglicherweise weitere 1,6 Millionen Wähler oder sogar noch mehr zu den Grünen weg. Die Nutzung der Kernenergie könnte aber ein liberal-konservatives Wahlkampf-Thema sein, mit dem Unionswähler weiter an die Union gebunden und auch Wähler der AfD zur Union zurückgeholt werden könnten. Angesichts zusätzlich drohender Wählerverluste in Richtung der Grünen, wird daher auch Merz, wie jeder andere mögliche Kanzlerkandidat der Union, es tunlichst unterlassen, die Rückkehr zur Kernergie zu einem Bestandteil der von ihm versprochenen liberal-konservativen Wende zu machen.

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Ähnlich wird es sich mit anderen Themen verhalten, bei denen die Union sehr wohl damit rechnen muss, gegen den links-grünen Zeitgeist ihrer Mitglieder, Anhänger und Wähler zu verstoßen und damit die Abwanderung zu den Grünen weiter zu befördern. Das gilt zum Beispiel für die Forderung nach einer Beendigung des systematischen Missbrauchs des Asylrechts zur Arbeitsmigration ebenso wie für die Forderung, den Zentralisierungsprozess der EU zu stoppen oder gar wieder rückgängig zu machen. Ähnliches gilt für klassisch konservative Forderungen in den Bereichen Familienpolitik oder auch Bildungspolitik und Sozialpolitik, ganz zu schweigen von der Außen- und Sicherheitspolitik. Überall droht der Union inzwischen das Risiko, einem erheblichen Teil ihrer bisherigen Wähler als zu „rechts“ zu erscheinen, so dass diese Wähler lieber grün wählen. Befördert wird dieses Risiko nicht zuletzt durch die Medien, die sich mehrheitlich in einen Hort des links-grünen Zeitgeistes, vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich, gewandelt haben und versuchen, die Grenzen nach „rechts“ immer enger zu ziehen.

Der inhaltliche Gestaltungsspielraum für die von Merz den Wählern in Aussicht gestellte liberal-konservative Wende der Union ist von daher ausgesprochen gering. Deswegen wird die „Repräsentationslücke“ für liberal-konservative Angebote, die er gerne schließen würde, weiterhin recht groß bleiben. Sie kann und wird im anstehenden Bundestagswahl voraussichtlich nicht nur von der AfD, sondern auch von der FDP und den im Bund möglicherweise antretenden Freien Wählern genutzt werden. Das im „Ballhaus Berlin“ abgegebene Versprechen von Merz, seine Partei im Bundestag wieder zu einer 35+x-Partei zu machen, könnte sich angesichts dieser Sachlage als recht leer erweisen. Das ahnen vielleicht auch die Mitglieder und Funktionäre seiner Partei, die ihn mehrheitlich zwar gerne weiterhin als liberal-konservatives Aushängeschild nutzen würden, gleichwohl aber wahrscheinlich Armin Laschet (mit knappem Ergebnis) auf Empfehlung von Annegret Kramp-Karrenbauer zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten küren werden. Er passt einfach besser zum links-grünen Zeitgeist, der inzwischen auch die Union beherrscht. Was die in der Union verbliebenen liberal-konservativen Kräfte dann tun werden, wird man sehen.

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