Tichys Einblick

Gefahr im Verzug – die Einigung EU-Europas steht auf dem Spiel

Warum sollen neue Verträge geschlossen werden, wenn der Einstieg in die Schuldenunion durch Dauerverstoß gegen die bestehenden Verträge längst realisiert wurde?

© Carsten Knall/Getty Images

Dass das EU-Europa von heute „eine der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte“ sei, wie es der britisch-australische Historiker Christopher Clark in seiner auf Phoenix laufenden Dokumentationsserie „Europa Saga“ hervorhebt, dürfte über die treffende historiographische Standortbestimmung hinaus sicher auch mit der Einschätzung der meisten Europäer über ihren erfolgreichen Zusammenschluss nach den schrecklichen Katastrophen der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts übereinstimmen. Welcher Europäer, ob in Ost, West, Nord oder Süd könnte sich dem Gefühl tief empfundener Zugehörigkeit und Zuneigung entziehen, wenn die Freude- und Freiheits-Ode Friedrich von Schillers in der Vertonung Ludwig van Beethovens nicht nur bei offiziellen Anlässen sondern gerade auch bei zahlreichen Zusammenkünften Jugendlicher aus ganz EU-Europa ertönt, um mit dem Singen der Hymne einer zur Selbstverständlichkeit erhobenen Gemeinsamkeit Ausdruck zu verleihen?

Schritt für Schritt
Was die EU-Funktionäre wollen
Dieses von weitreichendem politischen Erfolg, innerem Zuspruch und internationalem Ansehen getragene EU-Europa, für dessen Entstehen wir den Gründungsvätern dankbarer sein sollten, als wir dies tatsächlich sind, ist unversehens in schweres Wetter geraten. In historischer Betrachtung werden Staaten und Staatenbünde von äußeren Mächten in Gefahr gebracht. EU-Europa, das sich in sechs Jahrzehnten von der Sechser-Gemeinschaft der EWG zur 28 Staaten und 500 Millionen Einwohner umfassenden EU entwickelt hat, ist heute als drittstärkste Wirtschaftskraft der Welt viel zu mächtig, als dass es von außen ernsthaft in Gefahr gebracht werden könnte.

Die Gefährdungen, denen EU-Europa seit Jahren schleichend und inzwischen in existenzbedrohendem Ausmaß ausgesetzt ist, sind hausgemacht. Sie bestehen in fahrlässiger Abkehr von den Gründungsideen und in einer zunehmenden Aufkündigung der Statuten und Regelwerke, die für ein reibungsloses Zusammenwirken der Institutionen sowie für ein gedeihliches Miteinander der Europäer untereinander unverzichtbar sind.

Auf den ersten Blick und im EU-Alltag ist von diesen Gefährdungen wenig zu spüren. Vor allem in Erwartung der Urlaubssaison, wo sich Europäer wieder an ihren Stränden, in ihren romantischen Kulturlandschaften und an ihren historischen Stätten gegenseitig besuchen, scheint alles im Lot zu sein. Auch die Freude der Fußballfans ist ungetrübt, wenn sie den Wettbewerben in den Champions- und Europaligen entgegenfiebern. Aber unter der Oberfläche rumort es heftig und in letzter Zeit mit anschwellendem Getöse.

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Dabei geht es weniger um die traditionellen Zwistigkeiten in etlichen Ländern, die unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur EU und aus unterschiedlichsten Gründen innenpolitisches Konfliktpotential angehäuft haben, ob in Spanien, Italien, Ungarn oder Polen. Es geht um die EU-induzierten Konfliktherde und Baustellen, die entweder auf institutionelle Fehlentwicklungen oder auf dauerhafte Vertragsverletzungen von Institutionen und/oder Mitgliedstaaten zurückzuführen sind.

Die derzeit im Mittelpunkt des Interesses stehende, weil starke Sprengkraft für den Bestand der EU enthaltende Baustelle, ist der Brexit, dessen Erschütterungspotential nicht nur in seiner wirtschafts- sondern mehr noch in seiner sicherheitspolitischen Dimension liegt. Denn mit Großbritannien verlässt nicht nur die nach Deutschland zweitgrößte Wirtschaftsmacht sondern auch die neben Frankreich zweite Atommacht die Gemeinschaft. Offen ist, welche Wirkung es auf den zukünftigen Zusammenhalt in der EU haben wird, dass der Brexit durch das eigenmächtige Vorpreschen des in der Migrationsfrage Führung beanspruchenden Deutschland ausgelöst wurde. Denn abgesehen von den Briten haben sich die meisten EU-Mitgliedsländer in der einen oder anderen Form der deutschen Migrationspolitik entgegengestellt, wodurch die viel beschworene Einheit Europas erstmalig in der EU-Geschichte einer tiefgreifenden Zerreißprobe ausgesetzt wurde. Nicht ganz so dramatisch wie die Briten sind die ehemals dem Ostblock angehörenden Visegrádstaaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen durch Gefolgschaftsverweigerung in dieser Frage aus dem Geleitzug der Gemeinschaft ausgeschert. Aber alles in allem dürfte das innere Zerwürfnis der EU in der Migrationsfrage mit dem Auszug der Briten aus der Gemeinschaft nicht beendet sein.

Macrelogie
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Noch kritischer als der Brexit ist im Hinblick auf den dauerhaften Bestand der EU die seit zwei Jahren von der Europäischen Zentralbank (EZB) betriebene Geld- und Währungspolitik einzuschätzen. Von seinen Zerstörungswirkungen auf die der Europäischen Union zugrunde liegenden rechtlichen Fundamente her betrachtet, kann das Regime des derzeitigen EZB-Präsidenten Mario Draghi durchaus als nicht erklärter Wirtschaftskrieg der Südstaaten der Union gegen die Nordstaaten eingestuft werden. Dazu passt, dass sich nach Bildung der Großen Koalition in Berlin eine Nord-Allianz von acht nordeuropäischen EU-Ländern gebildet hat, die dem endgültigen Abgleiten der Euro-Zone in eine Schulden- und Haftungsunion massiven Widerstand entgegensetzen will.

Noch nie in der durchaus bewegten Geschichte der EU hat es vergleichbare Anschläge wie die seit dem 1. März 2016 auf die Maastricht-Verträge gegeben:

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Was unter dem Strich bleibt ist die gegen den Willen der Nordstaaten-Gläubiger und unter Verletzung der rechtlichen Statuten bereits jetzt erzwungene Haftungsübernahme für Teile der Hyperverschuldung der Südstaaten. Allein Deutschland steht bereits vor dem Eintritt in die von Macron als „Erneuerung Europas“ umschriebene EU-Haftungs- und Schuldenunion (EHSU) mit Summen in der Kreide, über die, wie in einer parlamentarischen Demokratie eigentlich üblich, bisher kein Bundestag beschlossen hat.

Mit dem gegen die EU-Statuten verstoßenden Anleihekaufprogramm und ergänzt um die Target-2-Risiken aus der Importfinanzierung für zahlungsunfähige Kunden deutscher Produkte in den Südstaaten steht Deutschland bereits heute mit 1,6 Billionen Euro in der Kreide, was mehr als dem Vierfachen des Bundeshaushalts entspricht. Die Frage, die sich die Befürworter der Macronschen Erneuerungspläne (Europäischer Währungsfonds, Gemeinschaftsbudget der Euro-Zone, Euro-Finanzminister, Bankenunion mit gemeinsamer Einlagensicherung) stellen lassen müssen, lautet: Warum sollen neue Verträge geschlossen werden, wenn der Einstieg in die Schuldenunion durch Dauerverstoß gegen die bestehenden Verträge längst realisiert wurde?

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