Der 1. Mai ist spätestens seit dem Jahr 1987 ein besonderer Tag für jeden Berliner. Am Tag der Arbeit – oder vielleicht treffender: Tag der arbeitslosen Krawall-Macher dank Papas Kohle – werden in Kreuzberg bis heute traditionell alle Läden verrammelt, die Straßen großflächig abgesperrt und die Autos möglichst weit weg in Sicherheit gebracht, um sie vor Pyromanen zu schützen. Die Gewaltbereitschaft und die Ausschreitungen sind in den letzten Jahren zwar spürbar zurückgegangen, doch genau das könnte sich jetzt wieder ändern – Bundeslockdown und Ausgangsbeschränkungen hin oder her oder gerade deswegen.
Schon letztes Jahr – zu einer Zeit in der ja tatsächlich noch relativ unsicher war, wie gefährlich das Corona-Virus ist – versuchte die Polizei weitestgehend vergeblich das geltende Demonstrations- und Versammlungsverbot durchzusetzen. Laut rbb waren trotz aller Verbote und vorheriger Drohungen rund um die Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg mehrere Tausend unterwegs, die auf Abstands- und Hygieneregeln pfiffen – dagegen konnten auch die immerhin 5.000 Polizeibeamten im Einsatz wenig ausrichten. Es konnte durch konsequentes Eingreifen der Polizei und z.T. auch durch die Anwendung körperlicher Gewalt lediglich verhindert werden, dass sich aus den Menschenmassen ein großer Demonstrationszug formierte – der Schwarze-Block musste in diesem Jahr also auf seinen großen Auftritt verzichten. Damit verlief der 1. Mai zwar vergleichsweise ruhig, von einem friedlichen Maiauftakt kann man laut GdP aber trotzdem nicht sprechen. Die Polizei hat mehr als 120 Ermittlungsverfahren eingeleitet und etwas mehr als 350 Personen vorläufig festgenommen oder deren Personalien aufgenommen. In der Nacht wurden 18 Beamte durch Rangeleien und Flaschenwürfe verletzt.
Um 18 Uhr müssen wir Zuhause sein, dann brennen die Straßen
Es ist nicht so, dass ich mich nach diesen Festen zurücksehne – ich hasse die Kreuzberger Straßenfeste sogar wie die Pest. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sie hauptverantwortlich für die Deeskalation der letzten 18 Jahre sind. Als ich zur Grundschule ging war das „MyFest“ in der Hauptsache noch ein Kinderfest, bei dem sich jeder Spross, der den Erlebnis-Parcours auf dem Mariannenplatz meisterte, ein T-Shirt verdienen konnte. Das „Räuber und Gendarm“-Shirt war eine Art Prestige-Objekt unter Kreuzberger Kindern – man musste quasi eins haben, um dazu zu gehören. Mal abgesehen von dem Fakt, dass der Gendarm in diesem Fall der Bösewicht war und jeder der Räuber seien wollte, war das Fest natürlich in Gänze pädagogisch und ideologisch wertvoll. Am besten erinnere ich mich an die letzte große Station, bei der man sich seinen Stempel nur abholen konnte, wenn man einen großen schweren Sack Kaffeebohnen auf seinem Rücken einmal um den Platz getragen hat – um zu spüren, wie es den armen Kindern in Brasilien oder Guatemala geht, während unsere Eltern genüsslich ihren Morgenkaffe schlürfen. Anschließend mussten wir die Bohnen verkaufen und unser Verhandlungsgeschick beweisen – was nicht wirklich meine Stärke war. Ich hatte Angst vor dem großen fremden Erwachsenen, der in seiner Rolle des Kaffee-Exporteurs alias des fiesen Kapitalistenschweines richtig aufging. Ich nahm nicht mehr als 1 traurigen Cent für meinen mühsam geschleppten Sack mit nach Hause.
Und „nach Hause“ war das Stichwort – jeder wusste, dass man vor 18 Uhr weg sein musste, denn dann brannten die Straßen. Und das haben sie damals wirklich noch. Die revolutionäre 1.Mai-Demo endete auch in den Jahren nach der Jahrtausendwende immer noch in wilden Straßenschlachten zwischen den Demonstranten und der Polizei. Überall in Kreuzberg brannten Autos, deren Besitzer unvorsichtig oder blöd genug gewesen waren, sie nicht in Sicherheit zu bringen. Der Vater einer meiner besten Freundinnen schaffte es so sogar ins Fernsehen.
Man kann sich also vielleicht vorstellen, dass ich den ersten Mai als Kind vor lauter Angst aus tiefstem Herzen gehasst habe. Mein Vater wohnte früher zu allem Übel genau am Endpunkt der revolutionären 1. Mai-Demo, was für mich bedeutete, den halben Tag bei heruntergelassenen Rollläden und geschlossenen Fenstern in meinem Zimmer zu sitzen und mir die Ohren zuzuhalten, um nicht das ständige Geschrei, die Sirenen und den Knall der Feuerwerkskörper hören zu müssen.
Party gegen Pyromanen
Es gab jedes Jahr Krawalle, doch um so größer und populärer das „MyFest“ wurde, desto unspektakulärer wurden die Ausschreitungen. Das Fest entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zu einem riesigen Open-Air-Festival mit Bühnen, lauter Musik, jeder Menge Alkohol und Essenständen an jeder Straßenecke – und zog dementsprechend viele feierwütige Menschen und eine große Zahl von Touristen an. 2017 nahmen über den Tag verteilt schätzungsweise 200.000 Menschen am Straßenfest teil, weshalb 2018 erstmals der berühmtberüchtigte Görlitzer Park offiziell mit in die Partyplanung einbezogen wurde. Auch wenn ich damals selbst noch zum feuchtfröhlichen Kreuzberger-Partyvolk gehörte, fand ich das „MyGoerli“-Spektakel unerträglich.
Ich musste mich durch Horden von besoffenen, mit Drogen vollgepumpten Partypeople und durch ein Meer aus Scherben und Müll kämpfen, um überhaupt in meine Straße zu kommen. Jede Ecke und jeder Hauseingang stanken so penetrant nach Urin, dass einem fast der Atem wegblieb. Mein persönlicher Höhepunkt begegnete mir in Form von 10 britischen Touristinnen in unserem Hauseingang. Als ich in den Flur kam, sah ich aus dem Augenwinkel eine kauernde Gestalt neben mir, deren erschrecktes Gesicht verriet, dass ich sie grade beim Pinkeln erwischt hatte. Im Hof saßen zu meiner Empörung in jeder Ecke weitere kichernde volltrunkene Weiber, die sich unter anderem direkt neben unserer Tür und vor, hinter und im Sandkasten – in dem die türkischen Kinder aus meinem Haus doch recht häufig spielten – erleichterten.
Back to Black – die Linke-Szene macht mobil
Dank Corona ist dieses wie letztes Jahr nichts mit Party. Es gibt also keinen Ausgleich, dafür besonders viel Wut. Die Leute, und das betrifft die Linken genau wie alle anderen, sind zu großen Teilen sowieso schon bis aufs tiefste frustriert, weil seit einem Jahr quasi kein Leben mehr stattfindet. Dazu kommt, dass die linksextreme Szene alles andere als begeistert war, als das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel für nichtig erklärt hat. Nur Stunden später kam es bei der Demonstration am Kottbusser Tor zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die Polizisten vor Ort wurden nicht nur von etwa 100 Leuten mit Flaschen und Steinen beworfen, sondern auch körperlich angegriffen und zum Teil mit Holzlatten attackiert, während 1.000 weitere Demonstranten um sie herumstanden und polizeifeindliche Sprechchöre anstimmten – frei nach dem Motto „ganz Berlin hasst die Polizei“. Auf dem Blog des Bündnis Revolutionärer 1. Mai Berlin rühmen sich Linksextreme mit dem „massiven Widerstand gegen die Bullen“ und „beherzter körperlicher Gegenwehr“. Bereits bei der Demo soll per Lautsprecher für den „Enteignen-Block“ der Mai-Demo mobilisiert worden sein. Die Aktivisten sind sich sicher, dass „viele wütende Mieter:innen zum 1. Mai kommen werden“.
Das Bündnis „revolutionärer 1. Mai Berlin“ mobilisiert seine Anhänger bereits seit Wochen durch Plakat-Aktionen, mit Sprayereien und im Internet die „revolutionären Kämpfe unserer Vorfahren und Vorgänger*innen fortzuführen“. Unterstützung gibt’s dieses Jahr von einem Bündnis migrantischer Gruppen unter Führung des relativ jungen Antifa-Ablegers „Migrantifa“ – von Migranten für Migranten gegen den Kapitalismus. Die Reichen sollen für die Krise die Rechnung präsentiert bekommen. Wie gewalttätig das am Ende ausfallen wird, bleibt abzuwarten – ich habe allerdings gar kein gutes Gefühl, trotz und wegen der Corona-Maßnahmen.