Tichys Einblick
Unkalkulierbare Zeiten:

Für Olaf Scholz hat der Wahlkampf schon begonnen

Was wir jetzt erleben, was der Bundeskanzler betreibt, ist politische Hütchenspielerei. Dass Olaf Scholz sich bereits im Wahlkampf befindet, auch wenn er öffentlich noch eine Scheindiskussion über den Termin der Vertrauensfrage entfacht, belegt, dass in seinem Wahlkreis bereits die „Bewerbung für die Bundestagskandidatur im Wahlkreis 61“ in Umlauf gebracht wird

picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Wer immer Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Amtszeit als Bundeskanzler beobachtet hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Bundeskanzler an Realitätsverlust leidet. Dass in der Berliner Blase, im deutschen Politikhauptbetrieb und im Medienstaatsaktionismus das Verhältnis zur Wirklichkeit freundlich ausgedrückt, ein sehr spezielles ist, dürfte inzwischen eine Binsenweisheit sein, doch auch unter diesen Umständen ist Scholzens Zugang zur Realität noch spezieller. Nachdem er Christian Lindner entlassen hatte, verkündete er frohgemut, dass er im Januar im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und er den Deutschen dann Ende März 2025 gestattet zu wählen. Bis dahin wollte er noch alle Gesetze durchbringen, die er sehr gern durchbringen will, inklusive einer saftigen Neuverschuldung, möglicherweise benötigt man auch Zeit für die Operation Abendsonne, die übrigens längst im Gange ist. Der Union gestattet der Herr Bundeskanzler huldvoll, daran mitzuwirken, da er ihre Stimmen benötigen wird, besonders bei der Aussetzung der Schuldenbremse, nach dem Motto: wir verschulden unserm Steuerzahler sein klein Häuschen.

Der Unionsfraktionschef Friedrich Merz hatte einen Termin bei Scholz, der nur 24 Minuten dauerte. Klar weiß Olaf Scholz, dass er die Vertrauensfrage stellen muss – und nicht erst im Januar. Was wir nicht wissen, ist, woran sich Olaf Scholz in der Cum Ex Affäre erinnern kann und woran nicht. Aber woran er sich überhaupt erinnern kann, wollen wir mal blumig Hütchenspielerei nennen. In seiner Christian-Lindner-Rauswurf-Rede am Mittwoch hatte er ja auch eher einen Hütchen-Spieler-Jargon gewählt. Die eigentliche Frage lautet für Scholz daher nicht: wann stelle ich die Vertrauensfrage, sondern, was gebt ihr mir, liebe Union, dafür, dass ich sie etwas eher stelle als im Januar? Der Deal sieht vermutlich so aus: wenn ihr diese Gesetze mit mir verabschiedet, stelle ich eher die Vertrauensfrage und ihr kommt nicht in die Verlegenheit, dass die AfD mit euch stimmt.

Der Union kann man nur raten, sich auf keinen Deal einzulassen. Im Gegenteil, man könnte sukzessive bürgerliche Mehrheiten vorbereiten, weil die Zeit dafür nie so günstig war wie jetzt. Wir stehen in einer Regierungskrise, aus der sehr schnell eine Staatskrise werden kann. In dieser Situation kann die Union Initiativen im Bundestag aus staatspolitischer Verantwortung starten und wenn die AfD mitstimmt, wird etwas ja nicht dadurch falsch, das aus der Sicht einiger, die „Falschen“ mitstimmen. Kein Chirurg verzichtet auf den Assistenten bei einer lebenswichtigen Operation, weil ihm dessen Nase nicht passt. Es geht nicht darum, wer wofür stimmt, sondern darum, wofür gestimmt wird. Könnte sich die Union vielleicht dazu durchringen, endlich erwachsen zu reagieren und Verantwortung für das Land zu übernehmen, anstatt über die Posen für die Medien nachzudenken? Helmut Kohl wusste noch, dass man auch gegen die Medien regieren kann, Angela Merkel hat das Bündnis mit den Medien zur Grundlage ihrer Macht gemacht. Was dabei herauskommt, wenn die Befindlichkeiten von Tina Hassel oder Anne Will die Politik in Deutschland bestimmen, haben wir gesehen. Es geht im Übrigen nicht darum, was man von der Union erhofft, sondern darum, sie immer wieder an ihre Pflicht zu erinnern, was im Umkehrschluss zeigt, wo sie ihrer Pflicht und ihrer Verantwortung nicht nachkommt.

Was wir jetzt erleben, was der Bundeskanzler betreibt, ist politische Hütchenspielerei. Dass Olaf Scholz sich bereits im Wahlkampf befindet, auch wenn er öffentlich noch eine Scheindiskussion über den Termin der Vertrauensfrage entfacht, belegt, dass in seinem Wahlkreis (Potsdam, Ludwigsfelde, Teltow, Kleinmachnow, Stahnsdorf, Michendorf, Nuthetal und Schwielowsee) bereits die „Bewerbung für die Bundestagskandidatur im Wahlkreis 61“ im Umlauf gebracht wird.

In der Bewerbung heißt es: „Liebe Genossinnen und Genossen, gestern Abend habe ich den Bundespräsidenten um Entlassung von Finanzminister Christian Lindner gebeten. Der für uns alle unerträgliche Streit in der Bundesregierung hat damit ein Ende. Deutschland braucht Klarheit und Stabilität: Deshalb streben wir einen geordneten Übergang zu vorgezogenen Neuwahlen Anfang 2025 an.“ Gestern Abend bedeutet, dass Scholz die perfekt mit Bildern gestaltete Bewerbung am Donnerstag erstellte. Der Mann lässt eben nichts anbrennen, schließlich: „Als Bundeskanzler trage ich Verantwortung für das Wohl aller Menschen in unserem Land. Diese Verantwortung möchte ich auch weiterhin als euer Abgeordneter tragen.“ Wenn schon nicht Bundeskanzler, dann wenigstens Abgeordneter, denn „Abgeordneter des Deutschen Bundestages ist immerhin das höchste Amt, in das man in unserem Land direkt gewählt werden kann.“ Zu den Begegnungen, die er allen voran aufzählt, weil sie ihm „sehr in Erinnerung geblieben“ sind, gehört an erster Stelle: „Der achtjährige Jakob zum Beispiel, der mit Gitarre spielen Geld für seine ukrainischen Mitschüler sammelt.“ Und um das einmal klar zu sagen, schreibt Olaf Scholz: „Nach wie vor besteht die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land aus Anständigen, die nicht meckern, sondern machen.“ Damit meint er sicher die Mitarbeiter der zahllosen NGOs, die eben „machen“. Man kennt diese Diktion aus Diktaturen, wo die Unanständigen, die Miesepeter, die Meckerer, die es wagen zu kritisieren, anstatt alles das zu machen, was die Regierung oder der Herr Bundeskanzler befehlen, an den Prangert gestellt werden. Aber gelernt ist gelernt und was Hänschen lernt, vergisst Hans nimmermehr. Und gelernt hat Olaf Scholz diesen Ton schon in jungen Jahren in den Gesprächen mit den Chefs der FDJ.

Übrigens, über die Wirtschaft spricht Scholz nicht wirklich, dafür um so mehr über die Ukraine. Aber warum soll er auch über die Wirtschaft reden, die hat seine Regierung ohnehin gerade in den Niedergang getrieben, ihm geht es um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit. Und für historisch Interessierte: natürlich setzte der Niedergang bereits mit Merkel ein, aber da war Olaf Scholz ja auch schon Minister.

Stellt sich noch eine Frage: Hat Friedrich Merz eigentlich auch schon so eine schöne „Bewerbung für die Bundestagskandidatur“ wie Olaf Scholz?


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