Als eine der wenigen besonnenen Stimmen bei der journalistischen Kommentierung der Bluttat von Hanau plädiert der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung (NZZ), Eric Gujer, dafür, „nicht alles aus einer verständlichen Empörung heraus in einen Topf zu werfen – Terroristen und Populisten.“ Er verweist dabei auf die 1970er Jahre, in denen „eine vernünftige Mehrheit Linksterrorismus nicht mit Linksextremismus gleichsetzte.“ Die politische wie gesellschaftliche Isolierung der linksterroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) gelang unter anderem vielmehr deswegen, weil Versuche, für die Mordtaten der RAF die damaligen linken Systemkritiker aus Wissenschaft, Kultur und Politik verantwortlich zu machen, erfolgreich abgewehrt worden sind. Gleichzeitig wandten sich einige der Wortführer der radikalen Linken öffentlich gegen die RAF. So appellierte etwa der spätere grüne Außenminister Joschka Fischer nach dem „Deutschen Herbst“ 1978 an deren Anführer: „Genossen, werft die Knarren weg.“
Die von der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt verfolgte Strategie gegen die RAF gehorchte dem Prinzip, ihre Mitglieder gerade nicht in ihrem Selbstbild und ihrer Selbstdarstellung zu bestärken, Teil eines weltweiten bewaffneten Kampfes für eine gerechtere Welt zu sein, sondern als gemeine Kriminelle zu qualifizieren. Die Strategie der heutigen Bundesregierung gegen die sich häufenden rechtsterroristischen Gewalttaten folgt demgegenüber einer gänzlich anderen, um nicht zu sagen gegenteiligen Logik. Die Täter werden selbst dann umgehend zu politischen Tätern und Repräsentanten einer ganzen politischen Bewegung erklärt, wenn, wie im Falle des mutmaßlichen Mörders von Hanau, von den zuständigen Polizeibehörden festgestellt worden ist, dass es sich um einen psychisch schwer kranken, politischen Amokläufer handelt.
Strategie gegen die RAF
Vorrangiges Ziel dieses Vorgehens ist nicht, wie im Falle der RAF, die Brandmarkung und Isolierung der terroristischen Täter als kriminelle Einzeltäter, sondern deren Kennzeichnung als fester Bestandteil einer wachsenden „rechtspopulistischen” Bewegung, und das heißt in Deutschland der AfD. Sie ermuntere und befördere als „politischer Arm des Hasses“ (Cem Özdemir) die rechtsterroristischen Täter zu ihren Taten und müsse daher als Ganzes vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Entsprechende Forderungen, die letztlich wohl auf ein Verbot der Partei durch das Bundesverfassungsgericht abzielen, wurden in den vergangenen Tagen sowohl von der SPD wie den Grünen gestellt.
Mit ihrer öffentlichen Charakterisierung seitens der etablierten Parteien, ein originärer Bestandteil des „Rechtspopulismus” zu sein, dürften auch Terroristen einverstanden sein. Sie bestätigt sie nämlich in ihrem Selbsverständnis als Teil einer politischen Bewegung, zu der sich unter anderem bei der letzten Bundestagswahl rund sechs Millionen AfD-Wähler bekannt haben. Auf diese Weise politisch aufgewertet darf sich nicht nur der gemeine Linksterrorist, sondern auch der gemeine Rechtsterrorist weit wichtiger und wirkmächtiger fühlen als mit der Einstufung als bloßer Krimineller. Im eigenen Milieu steigt er im Ansehen, findet leichter Anhänger und Nachahmer. Ein Vorgehen, das kaum dazu geeignet sein dürfte, die rechtsterroristische Szene zu isolieren und potentielle Gefährder von weiteren Attentaten abzubringen.
Nicht einverstanden ist mit dem Vorwurf, Wegbereiter rechtsterroristischer Attentate zu sein, aus nachvollziehbaren Gründen hingegen die AfD. Sie sieht darin den Versuch ihrer Gegner, ihre politischen Ziele und Inhalte so sehr in Verruf zu bringen, dass sie für ihre bisherigen Wähler und mögliche zusätzliche Wähler als nicht (mehr) wählbar erscheint. Und in der Tat kann man angesichts des Verhaltens der politischen Gegner der AfD den Eindruck gewinnen, sie seien der Meinung, mit den rechtsterroristischen Attentaten endlich das geeignete Mittel in der Hand zu haben, den weiteren Aufstieg der AfD zu stoppen oder gar umzukehren, nachdem dies bislang mit anderen Mitteln nicht gelungen ist. Diese offenkundige Instrumentalisierung rechtsterroristischer Attentate für parteipolitische Zwecke hat allerdings nur Aussicht auf Erfolg, wenn der ihr zugrunde liegende Vorwurf an die Adresse der AfD, Wegbereiter des Rechtsterrorismus zu sein, nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist.
Als eine Partei, die vor allem durch ihre Kritik an der von allen etablierten Parteien mit einem „humanitären Imperativ“ begründeten Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung immensen Auftrieb erhielt, darf die AfD nicht einfach einer Politik das Wort reden, die zwar nicht den Schutz der Zuwanderer, dafür aber den Schutz der einheimischen Bevölkerung vor zu viel Zuwanderung zur alleinigen gesinnungsethischen Maxime erklärt. Auch die AfD muss sich vielmehr der verantwortungsethischen Frage stellen, welche Nebenfolgen ihre politischen Ziele und Inhalte für ihr Land und das Zusammenleben der in ihm ansässigen Bevölkerungsgruppen haben können.
Zu ihnen gehören nicht nur die sogenannten „Bio-Deutschen“, sondern auch alle Personen mit Migrationshintergrund, unabhängig von der Frage, wie lange sie schon in Deutschland leben und welchen rechtlichen Aufenthaltsstatus sie haben. Selbst diejenigen Asylbewerber, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, im Land aber weiter geduldet werden, haben ein Anrecht auf eine respektvolle und anständige Behandlung. Pauschale Verunglimpfungen als „Sozialschmarotzer“, „Messerstecher“, „Frauenschänder“ oder „Glaubenskrieger“ verbieten sich, selbst wenn außer Frage steht, dass zahlreiche „Schutzsuchende“ den deutschen Sozialstaat ausnutzen und Angriffe auf Leib und Leben unter ihnen weiter verbreitet sind als unter den Einheimischen.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Kanzlerin Merkel wurde und wird von vielen Seiten zurecht zum Vorwurf gemacht, dass sie mit der Grenzöffnung des Jahres 2015 und ihrer anhaltenden Weigerung, Artikel 16a des Grundgesetzes und die Dublin-Regeln der EU anzuwenden, die die Zuwanderung aus sicheren Drittstatten über den Asylweg nach Deutschland verbieten, einen maßgeblichen Beitrag dazu leistet, dass die zunächst hohe Aufnahmebereitschaft breiter Bevölkerungsschichten gegenüber Asylbewerbern schrittweise erodiert. Das ist ein in der internationalen Migrationsforschung ebenso bekanntes wie gut dokumentiertes Phänomen. Der englische Migrationsforscher Paul Collier schreibt dazu in seiner weltweit durchgeführten Studie mit dem Titel „Exodus“ mit Blick auf die Aufnahmegesellschaften: „Nach meiner Einschätzung werden die Folgen der Migration in etwa eine umgekehrte U-Kurve bilden, mit Gewinnen bei mäßiger Migration und Verlusten bei massiver Migration.“ Zu den Verlusten zählt Collier unter anderem auch Rückgänge bei der gegenseitigen Rücksichtnahme sowie beim gegenseitigen Vertrauen und der Kooperation zwischen Einheimischen und Zuwanderern.
Mit anderen Worten: Anhaltende Massenzuwanderung, wie wir sie in Deutschland seit 2015 erleben, führt in jeder Gesellschaft in aller Regel zu zunehmenden Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern sowie unter Einheimischen und unter Zuwanderern oder birgt zumindest das hohe Risiko in sich, dass es zu solchen Spannungen kommt. Das lehrt nicht nur die Migrationsforschung, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Diese Spannungen äußern sich normalerweise unter anderem in zunehmenden gegenseitigen Vorurteilen und Ressentiments und können schlimmstenfalls auch in gegenseitigen oder auch nur einseitigen Hass umschlagen. Dies kann sich im Laufe der Zeit zwar wieder legen, den Zusammenhalt einer Gesellschaft aber auch auf Dauer beeinträchtigen.
Macrons „Rückeroberung“
Massenzuwanderung wirkt von daher auf die jeweiligen Aufnahmegesellschaften, insbesondere wenn es sich um eine staatlich weitgehend unkontrollierte Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen handelt, nicht integrierend, sondern desintegrierend. Es geht dabei um etwas, was die Soziologie seit Emile Durkheim eine „soziale Tatsache“ nennt. Ein derzeit besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist Frankreich. Dessen Präsident Emanuel Macron hat vor einigen Tagen bei einem Besuch im Elsass die „Rückeroberung“ muslimischer Stadteile in die „republikanische Gesellschaft“ angekündigt hat. In Deutschland müsste er gegenwärtig damit rechnen, wegen einer solchen Ankündigung seitens der etablierten Parteien und Medien mindestens der „Menschenfeindlichkeit“ bezichtigt und vom Verfassungsschutz zum Prüffall erklärt zu werden. Tatsächlich geht es aber wohl darum, dass in Frankreich aufgrund des anhaltenden Zustroms muslimischer Zuwanderer die desintegrierenden Mechanismen inzwischen so stark geworden sind, dass der französische Präsident nicht mehr von „Parallelgesellschaften“, sondern von „Separatismus“ spricht, der sich in seinem Land trotz aller Integrationsanstrengungen immer weiter ausbreitet.
Wer wie die deutsche Bundesregierung über einen Zeitraum von rund fünf Jahren über den Asylweg unter Umgehung geltender Gesetze mehr als zwei Millionen Zuwanderer aus fremden Kulturen ins Land lässt und den weiteren Zustrom allenfalls drosselt, aber nicht drastisch eindämmt, nimmt angesichts solcher Erfahrungen billigend in Kauf, dass sich die politischen und sozialen Konflikte wie in Frankreich weiter verschärfen und schließlich in Migrantenfeindlichkeit oder gar Rassismus umschlagen. Die Bundesregierung trägt deswegen zusammen mit der Asyllobby aus Parteien, Wirtschaft, Verbänden und Medien ein gerüttelt Maß an politischer Mitverantwortung für die von ihr beklagte Spaltung und Verrohung der Gesellschaft, die mittlerweile in rechtsterroristischen Attentaten ihre vorläufige Zuspitzung findet.
AfD weniger Erzeuger als Produkt einer Stimmung
All ihre bisherigen Appelle, sämtliche seit der Grenzöffnung in großer Zahl schon eingewanderten und zukünftig noch einwandernden Asylbewerber willkommen zu heißen, und all ihre Versuche, das teils kriminelle Fehlverhalten vieler Asylbewerber nicht öffentlich zu machen, haben nicht verhindert, dass sich in breiten Bevölkerungsschichten pauschale Vorurteile und Ressentiments gegen Asylbewerber und andere Migranten herausgebildet haben. Dabei spielt keine Rolle mehr, wer die einzelne Person ist, warum sie nach Deutschland gekommen ist und wie sie sich hier verhält. Einzelschicksale verschwinden immer hinter der Stigmatisierung ganzer Gruppen. Wahrscheinlich haben die einschlägigen Beschwichtigungsversuche der Bundesregierung und der Asyllobby diese Entwicklung, die unverkennbar mit einem drastischen Vertrauensschwund zwischen und innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen einhergeht, nicht nur nicht gebremst, sondern forciert.
Die Verschärfung und Verrohung der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Merkels Asyl- und Migrationspolitik vollzog und vollzieht sich weiterhin daher zunächst auch ganz ohne das Zutun der AfD. Sie ist insofern weniger der Erzeuger als das Produkt einer Stimmung in breiten Bevölkerungsschichten, die sich keineswegs nur gegen die Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung, sondern eben auch gegen die Zuwanderer richtet. Mit jedem weiteren Nachschub an zusätzlichen Asylbewerbern wächst das Risiko, dass sich diese Stimmung weiter intensiviert und ausbreitet. Die Wähler der AfD wählen unter anderem diese Alternative, weil sie bislang als einzige Partei ihrem Unbehagen mit einer anhaltenden Massenzuwanderung offen Ausdruck verleiht, für das sie von den anderen Parteien und ihren Verbündeten in Medien und Wissenschaft schon seit Jahren des Rassismus und des Nazismus bezichtigt werden.
Das befreit die AfD aber nicht von jeglicher Mitverantwortung für die Intensivierung und weitere Verbreitung ausländerfeindlicher Ressentiments, die zweifellos auch einen Nährboden für rechtsterroristische Attentäter bilden. Diese fühlen sich, wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 21. Februar schreibt, „plötzlich nicht mehr als verschrobene Minderheit, sondern quasi als militärischer Arm einer völkischen Bewegung“, wenn nicht nur rechtsextreme Sektierer, sondern einzelne Vertreter einer Partei, die derzeit die größte Oppositionsfraktion im Bundestag stellt, öffentlich vom „Bevölkerungsaustausch“ und vom „Volkstod“ schreiben und reden oder bei der Bewertung des Nationalsozialismus eine „geschichtsphilosophische Wende um 180 Grad“ fordern.
Wer so den Kampf verschiedener Völker um die Vorherrschaft in Deutschland und Europa beschwört, muss sich nicht wundern, wenn der Eindruck entsteht, er strebe eine Wiederbelebung des Nationalsozialismus in Deutschland an. Und er darf auch nicht das Unschuldslamm spielen, wenn sich rechtsextreme Sektierer durch seine Äußerungen in ihrer Vorstellung bestärkt sehen, die Herbeiführung einer solchen Herrschaft mit Gewalttaten beschleunigen zu müssen. Auch die Terroristen der RAF betrachteten sich als Speerspitze einer geschichtlichen Entwicklung hin zum Sozialismus, die sie mit ihren Gewalttaten beschleunigen wollten. Bestärkt wurden sie in ihrem Wahn unter anderem von zahlreichen Systemkritikern in Wissenschaft und Politik, die behaupteten, der „Spätkapitalismus“ befinde sich in einer ultimativen Krise und stehe kurz vor seinem Zusammenbruch. Auch diese Systemkritiker riefen nicht direkt zu terroristischen Gewalttaten auf, verurteilten sie in Einzelfällen sogar, beförderten mit ihrer Radikalität aber gleichwohl ein politisches und gesellschaftliches Klima, in dem sich die Terroristen der RAF recht heimisch fühlen konnten.
Wie weiter?
Manche dieser linksradikalen Systemkritiker von damals haben sich inzwischen zu rechtsradikalen Systemkritikern von heute entwickelt. Sie huldigen nun nicht mehr dem proletarischen Klassenkampf, sondern dem Kampf der Völker um ihre nationale Identität. Auch die AfD steht teilweise unter dem Einfluss dieser neu-rechten Lehre. Doch auch deren intellektuellen Vordenker und Wortführer sind keineswegs der eigentliche Verursacher migrantenfeindlicher Vorurteile und Ressentiments in breiten Bevölkerungsschichten, sondern wie die AfD zunächst nur Produkt und Nutznießer einer verfehlten Asyl- und Migrationspolitik. Mit ihrer Wahl in alle deutschen Parlamente verlor die AfD inzwischen allerdings diesen Charakter und wandelte sich zunehmend zum politischen Repräsentanten und Sprachrohr derjenigen Bevölkerungsgruppen, die keine anhaltende Massenzuwanderung aus fremden Kulturen über den Asylweg wünschen.
Damit ist die AfD zwangsläufig zu einem einflussreichen Mit-Erzeuger politischer Stimmungen geworden. Sie steht seitdem verstärkt vor der Frage, wie sie mit den Vorurteilen und Ressentiments umgeht, die neben der Ablehnung der Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung viele Bürger dazu bewogen haben, sie zu wählen. Will sie diese weiter befördern, um noch mehr Wähler zu gewinnen, oder lieber eindämmen, um zu verhindern, dass die Spannungen und Konflikte zwischen Einheimischen und Migranten sowie innerhalb dieser Gruppen weiter eskalieren und in noch mehr Gewalttaten münden? Derlei unangenehme Fragen stellen sich mittlerweile zunehmend den führenden Köpfen der AfD, ob sie das wollen oder nicht.
Inzwischen mehren sich angesichts des Anschlags in Hanau die Stimmen aus der AfD-Führung, die von ihren Parteifreunden fordern, politisch wie auch sprachlich abzurüsten. Dies begründete ihr Co-Vorsitzender Jörg Meuthen vor wenigen Wochen noch damit, der AfD nicht auf alle Zeiten sämtliche Wege zu der von ihm angestrebten „bürgerlichen Koalition der Mitte“ verbauen zu wollen. Dies wird aber nur möglich sein, wenn die AfD selbst aktiv ihren Beitrag dazu leistet, dass migrantenfeindliche Vorurteile und Ressentiments in der Bevölkerung nicht weiter um sich greifen, sondern eingedämmt werden. Dies ist der wohl wichtigste verantwortungsethische Beitrag, den die AfD zur Befriedung des Landes dringend zu leisten hat. Der wichtigste verantwortungsethische Beitrag der Bundesregierung besteht demgegenüber darin, dem anhaltenden Missbrauch des Asylrechts zur Arbeitsmigration dadurch Einhalt zu gebieten, dass Artikel 16a des Grundgesetzes wieder Anwendung findet. Nur so besteht eine Chance, dass es nicht zu einer weiteren Verschärfung, sondern zu einer Entschärfung des politischen Klimas in Deutschland kommt.