Nehmen wir mal an, die AfD wäre gerade an der Bundesregierung beteiligt. Machen Sie mit, es wird lustig, versprochen. Als kurzes Gedankenexperiment: Die AfD ist in Berlin und in ein paar Landesparlamenten Teil der jeweiligen Mehrheitskoalitionen. Dann kommt Corona, und es passiert Folgendes (beispielhaft, Liste kann beliebig fortgesetzt werden):
- Der Bundestag erlaubt es einzelnen Ministern, durch die Verfassung geschützte Grundrechte per einfacher Verordnung auszusetzen.
- Berlin lässt eine friedliche Demonstration von 40 Menschen für das Grundgesetz (!) von der Polizei mit Hinweis auf das Infektionsschutzgesetz auflösen.
- Sachsens Landesregierung erklärt öffentlich, sie wolle Menschen, die die Quarantäne-Vorschriften nicht beachten, notfalls in psychiatrische Kliniken zwangseinweisen.
- Mecklenburg-Vorpommern schließt seine Grenzen und verbietet die Einreise – auch für Menschen, die dort mit regulärem Wohnsitz gemeldet sind.
- Schleswig-Holstein schickt Bürger aus Hamburg kurz hinter der Landesgrenze wieder zurück; die Hansestadt ist damit zeitweise de facto abgeriegelt.
Bei einer AfD-Regierungsbeteiligung: Was wäre dann wohl so los in Deutschland? Wir kommen gleich drauf zurück.
„Was zu Gunsten des Staates begonnen wird, geht oft zu Ungunsten der Welt aus.“
(Karl Kraus: Schriften – Erste Abteilung, Band 8 – Aphorismen)
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Die Berliner Zeitung – dies für Bürger außerhalb des Bundeshauptslums – ist ein chronisch defizitäres Druckerzeugnis, das kürzlich von einem ehemaligen Mitarbeiter der Stasi aufgekauft wurde. Seitdem ist das Blatt für Berlins linke Schickeria das, was früher das Neue Deutschland für die SED-Nomenklatura war: ein Zentralorgan also.
Amelie Fried ist da Autorin. Sie wirft sich leidenschaftlich für die o. a. Corona-Beschränkungen ins Zeug, verteidigt die Bundesregierung und beschuldigt Kritiker, „Verschwörungstheorien“ anzuhängen:
„Ganz ehrlich, die Debatte darum, ob unsere Grundrechte derzeit zu Recht eingeschränkt sind oder wir uns schon auf dem Weg in eine Diktatur befinden, geht mir unglaublich auf die Nerven.“
Genervt ist auch Tim Herden, Redakteur im Berliner Büro des Mitteldeutschen Rundfunks MDR. Obendrein findet er die öffentliche Diskussion um massive Grundrechtsbeschränkungen populistisch:
Fried und Herden sind zwei geradezu archetypische Vertreter des zeitgenössischen links-grünen Milieus in Deutschland. Das kann einem gefallen oder auch nicht. Was einem aber so oder so auffallen sollte:
Da argumentieren zwei ausgewiesene Linke FÜR Einschränkungen der Bürgerrechte und FÜR mehr Macht für die Staatsorgane. Gleichzeitig argumentieren sie GEGEN Bürgerproteste und GEGEN öffentliche Debatten.
Damit sind wir wieder bei unserem kleinen Gedankenexperiment:
Bei einer Regierungsbeteiligung der AfD wäre der Aufschrei über die jetzigen Corona-Regelungen – auch und gerade links – geradezu unermesslich: Weil man vermuten würde, das sei nur der Einstieg in ein dauerhaft autoritäres System, das anzustreben man der AfD sowieso unterstellt.
Warum aber gibt es den Aufschrei jetzt tatsächlich nicht – sondern sogar das Gegenteil?
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Der erste Grund lautet: Weil der linke Zeitgeist unserer politischen Klasse das Ziel eines autoritären Systems nicht unterstellt. Nur bei der AfD vermutet man böse Hintergedanken – bei CDU, CSU, SPD, Bündnis‘90/Grünen, FDP und sogar SED/PDS/Linker vermutet das Milieu keine dunklen Motive:
Tatsächlich ist das Gegenteil richtig: Die, die jetzt warnen, haben nicht vergessen, welche Sorglosigkeit es war, die die Diktatur erst möglich gemacht hat.
Beim grünen Ex-Bundestagsabgeordneten Volker Beck zeigt sich exemplarisch das fundamentale Missverständnis: Demokratie basiert nicht auf gutem Willen – sondern auf festen Regeln, die für alle verhindern, dass es autoritär wird.
Diese Regeln weichen wir gerade großflächig auf.
Das Vertrauen in die demokratischen Grundüberzeugungen und den guten Willen unserer Politiker und Beamten in allen Ehren, aber: Macht korrumpiert jeden. Wenn sich alle lieb hätten, bräuchten wir überhaupt keine Regeln, also auch keine Gesetze. Gesetze sind für den Konfliktfall – auch für den Fall eines Konflikts zwischen Bürger und Staat. Gesetze setzen dem Staat Grenzen – unabhängig davon, wer den Staat gerade repräsentiert.
Diese Grenzen müssen immer und uneingeschränkt und bedingungslos gelten – ansonsten ist der Bürger vom Wohlwollen der Staatsorgane abhängig. Dieser Zustand ist dann das Gegenteil von Rechtsstaat: Wenn wir für den Fortbestand unserer freiheitlichen Gesellschaft auf den guten Willen von irgendjemandem angewiesen sind, dann ist das eine Willkürherrschaft.
Wer das in diesen Zeiten öffentlich sagt oder schreibt, muss sich von Fried und Herden und vielen anderen Hysterie vorhalten lassen. Aber die so argumentieren, verwechseln Wachsamkeit mit Panik – und Rechtsstaat mit Gottvertrauen.
Die Skeptiker sind nicht panisch: Die Nicht-Skeptiker sind naiv.
„Eine revolutionäre Dialektik (…) muss den langen Marsch durch die Institutionen als (…) Tätigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen begreifen.“
(Rudi Dutschke: „Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf“ – Rede in Berlin, 17./18. Februar 1968)
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Der zweite Grund lautet: Der Staat heute ist gleichermaßen link wie links.
Im generationsinternen Kampf der 68er zwischen dem Team „Revolution durch Gewalt“ (Baader, Meinhof, Teufel) und dem Team „Marsch durch die Institutionen“ (Fischer, Cohn-Bendit, Trittin) hat die zweite Fraktion gewonnen: die Karrieristentruppe.
Während sich die bürgerliche Mehrheit dieser Generation einer geregelten Erwerbstätigkeit zuwandte und in wertschöpfenden Berufen ihren Lebensunterhalt verdiente, besiedelte der links-intern siegreiche Teil der 68er-Alterskohorte weit überproportional den erweiterten Öffentlichen Dienst: Politik, Beamtentum, Verwaltung, Schulen, Universitäten, öffentlich-rechtliche Medien:
— Benedikt Brechtken (@ben_brechtken) April 11, 2020