„Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“, so lautet ein Slogan der zumeist linksradikalen Demonstranten gegen den Marsch für das Leben. Ein unzutreffender Spruch. Tatsächlich würden dann Advent und Weihnacht ausfallen: Kein Glühwein, kein Weihnachtsmarkt, kein „Last Christmas“ und keine Geschenke – Lebensrechtler hingegen würde es trotzdem geben. Denn um Abtreibung abzulehnen, bedarf es keiner religiösen Weltanschauung:
Ein Menschenleben zu beenden, kann nicht rechtens sein. Auch dann nicht, wenn dieser Mensch bewusstlos, sehr hilflos, schwerstbehindert, noch sehr klein oder nicht voll entwickelt ist. Dieser einfachen Tatsache, und nicht etwa religiösen Überzeugungen, trägt die gesetzliche Regelung zur Abtreibung in Deutschland Rechnung: Das Strafrecht geht einen komplex und paradox erscheinenden „Kompromiss“ ein, indem Abtreibung zwar rechtswidrig ist, aber unter weit gefassten Bedingungen straffrei bleibt.
Das Gesetz erkennt damit an, dass es von dieser Tatsache keine Ausnahme geben kann, ohne sich auf eine abschüssige Bahn zu begeben. Denn wenn heute das Leben eines Menschen rechtmäßig beendet werden kann, weil er „nicht gewollt“ ist, wer garantiert, dass morgen nicht eine Mehrheit andere Bedingungen dafür durchsetzt, ab wann ein Menschenleben so wenig wert ist, dass man es vernichten darf?
Flankiert von mainstreammedialer Unterstützung, die vor Desinformation und billigster Banalisierung nicht zurückschreckt, wurde von einer fraktionsübergreifenden Gruppe von Abgeordneten der SPD, Grünen und Linken ein Gesetzentwurf vorgelegt, der Abtreibung bis zur zwölften Woche legalisieren soll.
Vorerst scheiterte dieses Vorhaben am Mittwoch im Rechtsausschuss. Allerdings nicht aufgrund der ethischen und juristischen Expertise der Beteiligten, sondern wegen eines unwürdigen Brandmauerpolitpokers: Da die Abgeordneten der AfD für den entsprechenden Antrag gestimmt hatten – obwohl die AfD gegen den Vorstoß ist –, enthielten sich jene von SPD und Grünen, obgleich die Initiative unter anderem aus diesen Parteien hervorgegangen war.
Ein seltener Anlass, um dieser Form von Politik, die Inhalte und Ziele als marginal betrachtet gegenüber der Frage, wer für diese Inhalte und Ziele stimmt, etwas Positives abzugewinnen. Ausgesessen ist die Sache durch dieses zynische Strategiespiel aber noch nicht; der Rechtsausschuss beschäftigt sich am 18. Dezember nochmals mit dem Thema.
Die Haltung derer, die Abtreibung legalisieren wollen, ist von Maß- und Gedankenlosigkeit geprägt: Zum einen sterben in Deutschland bereits über 100.000 Kinder pro Jahr durch Abtreibung. Viele Frauen entscheiden sich nicht selbstbestimmt dafür, sondern weil sie unter sozialem, finanziellem oder psychischem Druck stehen. Anstatt hier anzusetzen und Hilfsangebote auszuweiten, birgt eine Legalisierung die Gefahr, dass sich Gesellschaft und Politik gänzlich aus der Verantwortung, Hilfe anzubieten, entlassen: Denn warum sollte man verhindern wollen, was legal ist?
Zum andern wird hier ein Konsens aufgegeben, der nicht bloß willkürliches Ergebnis einer Mehrheitsentscheidung ist, sondern eine nicht verhandelbare Grundlage der Rechtsstaatlichkeit: Unrecht kann nicht zu Recht erklärt werden. Ob es den Abtreibungsbefürwortern gelingen kann, eine Gesetzesänderung vorzulegen, die vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde, ist daher fraglich. Abtreibung aus dem Strafrecht zu verbannen, hieße de facto, sämtliche Lehren aus der deutschen Geschichte im Hinblick auf schrankenlosen Rechtspositivismus zu verwerfen. Dies käme einer moralischen Bankrotterklärung der deutschen Justiz gleich, deren langfristige Folgen nicht absehbar sind.
Ob diese Implikationen dem Großteil der Bevölkerung – oder auch nur den darüber beratenden Politikern – klar sind, darf bezweifelt werden. Umso sträflicher, dass eine Neuregelung nun in aller Eile durchgepeitscht werden soll, ohne sich zumindest einer sachlichen und intensiven Debatte zu stellen.
Denn der Informationsstand der Deutschen zum Thema Abtreibung ist keineswegs ausreichend. Was die rechtliche Lage betrifft, so halten sich laut einer aktuellen INSA-Umfrage 38 Prozent der Deutschen für eher schlecht (29 Prozent) oder sehr schlecht (9 Prozent) über die geltende Regelung informiert. Während sich 44 Prozent der Befragten für eine Erleichterung der Bedingungen für Abtreibung aussprechen, sind 36 Prozent dafür, die Regelung so zu belassen, wie sie ist, 9 Prozent dafür, sie (eher) zu erschweren.
Eine Diskussion, die die Engführung auf die „Selbstbestimmung“ der Frau aufgibt: Dies ist nicht nur ein absurdes Argument, weil die Frau hier ganz offensichtlich nicht über sich, sondern über einen anderen Menschen bestimmt, und weil der weibliche Fötus über dieses Recht zur Selbstbestimmung ebenso offensichtlich nicht verfügt; es ist auch deshalb absurd, weil das Recht auf Selbstbestimmung das Recht auf Leben voraussetzt: Wer tot ist, wird sich nie selbst bestimmen können.
Zudem wäre parallel zur rechtlichen Erörterung zu untersuchen, wie viel die Deutschen eigentlich über Schwangerschaft und embryonale Entwicklung, sowie über die Verfahren der Abtreibung wissen. Hier sind massive Wissenslücken zu vermuten. In der bereits genannten INSA-Umfrage werten nur 10 Prozent der Befragten das Recht auf Leben des Embryos höher als das der Selbstbestimmung der Frau. Was darauf deuten lässt, dass vielen nicht klar ist, dass es sich bereits hier um ein unverwechselbares Individuum – eben in einem sehr frühen Entwicklungsstadium – handelt, dem die Würde nicht erst zugesprochen werden kann, wenn und weil es den Geburtskanal passiert hat.
Spannend ist, dass hier gerade unter Jüngeren zumindest deutlich größeres Verständnis vorliegt: Während nur 4 Prozent der über 70-Jährigen das Recht auf Leben höher werten, sind es bei den unter 30-Jährigen immerhin 16 Prozent. Von einem Umdenken kann angesichts dieser Zahlen nicht die Rede sein, aber sie machen doch deutlich, dass unter jüngeren Deutschen eine differenziertere Sicht vorliegt, die offener sein könnte für die zahlreichen wissenschaftlichen Fakten, und für die rechtlichen und ethischen Überlegungen, die derzeit vom Selbstbestimmungsmantra übertönt werden.
Spricht man das Thema Abtreibung an, so schrillen beim Gegenüber zumeist die Alarmglocken: Reflexhaft rekurriert man auf den Konsens, dass dieser Sachverhalt „komplex“ sei, nuschelt vielleicht noch hinterher, das müsse „jeder selbst entscheiden“, und sieht in diesem Hinweis das Signal, das Thema abzuhaken. Sollte nicht andersherum die Komplexität Anlass sein, um darüber zu diskutieren?
Gleich, wie man zu diesem Thema stehen mag: Gerade aufgrund der Komplexität wäre eine Gesetzesänderung ohne vertieften Diskurs unverantwortlich. Das ist man angesichts der niedrigen Geburtenrate und zugleich über 100.000 Abtreibungen pro Jahr der Gesellschaft schuldig; das ist man angesichts der Not der Mütter und Väter in einem Schwangerschaftskonflikt den Betroffenen schuldig. Und das gebietet die Verantwortung für die Zukunft unseres Landes. Schließlich wird an dieser Stelle verhandelt, auf welchen ethischen, zivilisatorischen und humanitären Grundlagen unsere Gesellschaft aufgebaut sein soll. Der derzeitige unüberlegte und überhastete Angriff auf eine fragile, aber etablierte Regelung ist in jedem Fall schlicht unangemessen.