Das ZDF war in Hamburg, Köln und Hagen. Aus allen drei Städten brachte das Team des Magazins frontal Bilder und Töne mit, die zeigen, wie stark sich der muslimische Antisemitismus mittlerweile auf Deutschlands Straßen ausbreitet. Auf dem Kölner Heumarkt solidarisierte sich unlängst eine skandierende Männermenge mit Mohammed Deif, dem Stabschef und Oberbefehlshaber des militärischen Arms der Hamas, der Qassam-Brigaden, die jeden Kompromiss mit Israel ablehnen. Und die Polizei stand untätig daneben. Ein Bürger, der das Geschehen beobachtet hat, merkt zu Recht an, dass diese Bilder aus einem Land, das das Existenzrecht Israels als Teil der eigenen Staatsräson bezeichnet, paradox wirken müssen.
In Hagen hat ein syrischer »Flüchtling« an Jom Kippur einen Bombenanschlag auf die jüdische Synagoge begangen, inspiriert von einem salafistischen Prediger aus Saudi-Arabien.
In Hamburg gab es im September eine Gewalttat auf offener Straße. Jede Woche treffen sich Hamburger Juden und ihre Freunde zur »Mahnwache für Israel und gegen Antisemitismus« in der Innenstadt. Für Michael T. endete eine Mahnwache im September mit einem Faustschlag ins Gesicht und schweren Verletzungen. Er muss operiert werden und droht zu erblinden. Zuvor waren er und seine neben ihm stehende Mutter beleidigt worden: »Hurensöhne«, »Free Palestine«, »Scheißjuden« und »ich ficke deine Mutter« – so lautete der bunte Strauß. Der mutmaßliche Täter ist ein sechzehn Jahre alter »Lockenkopf«, Aram A. Er lebt in Berlin und ist bei einer Filmagentur unter Vertrag. Auch in einem Film über Holocaust-Überlebende hat er schon mitgespielt – als Mobber namens Ali.
Die Forscherin Ulrike Becker vom Mideast Freedom Forum Berlin glaubt, dass der muslimische Antisemitismus heute stark unterschätzt wird. Und nach einer solchen Recherche würde man eigentlich erwarten, dass auch die öffentlich-rechtlichen Redakteure die Augen öffnen und noch einmal über ihr internalisiertes Weltbild nachdenken. Aber das ist nicht unbedingt der Fall, wie der Tweet zeigt, mit dem das Magazin seinen Beitrag bewirbt.
»Die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland hat einen Höchststand erreicht. Die meisten Täter werden dem rechten Spektrum zugeordnet. Doch es gibt oft auch Anfeindungen durch Muslime.« Diese Worte begleiten den so wohlrecherchierten Beitrag »Geförderter Antisemitismus – Judenhass in islamischen Verbänden«, und doch reflektieren sie die gesellschaftliche Realität heute mehr schlecht als recht.
Andreas Müller, der Initiator der Mahnwache, stellt klar: »Jeder redet über Antisemitismus von rechts. Wir hier sind in den sechs Jahren noch nie von Nazis oder Rechten angegriffen worden. Wir werden immer von Muslimen bedrängt, bespuckt … ›Ihr Scheißjuden, warum steht ihr hier?‹ Das hören wir eigentlich ständig. Das ist schon normal.«
Das ist nun schon eine sehr hartnäckige Realität, der man sich aber dennoch erwehren kann – und muss. Wozu wäre man sonst ein öffentlicher Sender mit Bildungsauftrag im Sinne der vorgesetzten Staatsorgane? Das ZDF beharrt also auf der gängigen medialen Erzählung, nach der antisemitische Straftaten in Deutschland vor allem von Rechtsextremen begangen werden.
Diese Sicht der Dinge schienen auch ältere Jahresberichte des Bundeskriminalamtes (BKA) zu stützen, deren Zahlenwerk allerdings mittlerweile massiv in Frage gestellt wird. Erst im Sommer hatte sich herausgestellt, dass antisemitische Taten, deren Motiv unklar ist, jahrelang als rechtsextrem eingestuft wurden. Die offiziellen Zahlen, wonach um die 90 Prozent der antisemitischen Straftaten rechtsextrem motiviert sein sollen, stimmen also vermutlich schlicht nicht. Hinter diesen Taten könnten ebensogut links motivierte und islamistische Täter stehen.
Heute fußt die Mehrheit der antisemitischen Gewalttaten auf religiösen und ausländischen Ideologien
Weitere Unkorrektheiten könnten aufgedeckt werden. Aber vielleicht will man mit der milden Skandalisierung dieser Vorgänge auch nur den raschen Zuwachs einer anderen Gruppe von antisemitischen Straf- und Gewalttaten kaschieren. Tatsächlich deutet sich in den neueren Zahlen eine Wende an. Noch für 2020 ergab sich, wie die Antwort auf eine parlamentarische Frage der AfD-Fraktion erbrachte, ein Anteil von 95 Prozent für rechtsextrem motivierte antisemitische Straftaten.
Die Zahlen fürs zweite Quartal 2021, nach denen wenig später einige Abgeordnete der Linkspartei fragten, sehen da schon deutlich anders aus. Plötzlich gab es nur noch 72 Prozent rechtsextrem-antisemitische Straftaten, die allerdings zu 99 Prozent keine Gewalt umfassten. Vermutlich geht es zum großen Teil um Propagandadelikte. Und natürlich gibt es einen antisemitisch getönten Rechtsextremismus in Deutschland, von dem aber relativ selten Gewalt gegen Juden ausgeht. Zu kritisieren ist er dennoch.
Aber zugleich ist das genannte Verhältnis zwischen Gewalt- und sonstigen Straftaten bei den Fällen mit anderer Motivation (ausländische oder religiöse Ideologie, »nicht zuzuordnen«) deutlich ungünstiger. Im zweiten Quartal 2021 gab es demnach acht antisemitische Gewalttaten mit einer ausländischen oder religiösen Ideologie als Motiv, aber nur fünf mit rechtsextremem Motiv. Hinzu kamen noch drei, deren Motivlage unklar ist.
Insofern sollte auch das ZDF, zumal wenn es über die wachsende Gewalt gegen Juden in Deutschland berichtet, seine Zahlen und Fakten noch einmal überprüfen.