Tichys Einblick
Zur zweiten Weltumrundung im Rückwärtsrudern

Am Ende steht Friedrich Merz wohl nicht mal für Friedrich Merz

Wo ist Friedrich Merz nicht schon überall zurückgerudert - nun fügt er dieser Wegstrecke eine weitere Markierung hinzu und zeigt sich bereit, auch noch das letzte Tafelsilber der CDU dabei über Bord zu werfen. Am Ende steht Friedrich Merz wohl nicht einmal mehr für Friedrich Merz.

picture alliance / Chris Emil Janßen

Friedrich Merz ist der Kanzlerkandidat der Union, und wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes eintritt, wird er auch Bundeskanzler. Man weiß nur noch nicht, unter wem Friedrich Merz Kanzler wird, unter Robert Habeck, unter Olaf Scholz oder doch unter Saskia Esken? Dementsprechend hält sich der Kanzlerkandidat auch alle Türen offen, bis auf die eine, eine bürgerliche Politik, d.i. eine Politik für die Bürger und nicht für die Aristokratie von Neu Versailles zu machen.

Alle Türen, bis auf die eine, offen zu halten, bedeutet für Friedrich Merz, rhetorisch zur Schuldenbremse zu stehen und im selben Atemzug Vorschläge durchzustechen, wie man sie umgehen kann. Bedeutet für Friedrich Merz den Abtreibungskompromiss des Paragraphen 218 zum Tafelsilber der Union zu erklären und zu warnen, dass diejenigen, die an ihm rütteln, einen gesellschaftlichen „Großkonflikt“ entfachen würden und im selben Atemzug zu erklären, „aber natürlich kann man sich nach so vielen Jahren noch einmal neu mit dem Thema beschäftigen. Wir sehen ja, dass es auch da einen gesellschaftspolitischen Wandel gibt.“ Und da der Paragraph 218 nun wirklich das letzte Kästchen vom Tafelsilber der CDU ist, das Merkel noch nicht für die Anrede Frau Bundeskanzlerin verramscht hat, fügt Friedrich Merz bittend, geradezu flehend hinzu: „Ich bin selbstverständlich offen, darüber zu diskutieren, aber doch bitte nicht auf den letzten Metern vor der Wahl…“.

Im Klartext: zwingt mich bitte, bitte nicht, vor der Wahl zuzustimmen, nach der Wahl bin ich zu allem bereit. Aber vor der Wahl würde es Wählerstimmen kosten. Denn die CDU hätte nur die Wahl, aus dem Brandmauerfenster zu fallen und möglicherweise mit der AfD, mit „Zufallsstimmen“ dagegen zuzustimmen oder mit der SPD zu votieren und Wähler zu verlieren. Darin besteht die Strafe für skrupellosen Opportunismus. Merz hat sich und die Union in eine Falle manövriert und Olaf Scholz den Boden für eine Aufholjagd bereitet, die dieser instinktsicher kräftig nutzt. Scholz, das muss man ihm bei aller harscher Kritik zugestehen, besitzt zwar kein politisches Ziel wie Merkel, aber dafür Machtinstinkt wie Merkel, Merz beides nicht.

Auf die Frage: „Angenommen, Sie könnten den deutschen Bundeskanzler direkt wählen und hätten die Wahl zwischen Olaf Scholz, Friedrich Merz und Robert Habeck. Für wen würden Sie sich am ehesten entscheiden?“, kommt Friedrich Merz zwar noch auf Platz 1 mit 30 %, ein Prozent Verlust, Olaf Scholz zwar nur auf 22 %, doch hat er sich um 7% verbessert. Im direkten Vergleich zwischen Scholz und Merz kommt Merz zwar noch auf 35 %, Scholz hat sich aber auf 33 % herangearbeitet. Und das ist erst der Anfang des Wahlkampfs, der noch längst nicht entschieden ist.

In der Ukraine-Frage eilt Merz seinem Etappen-Oberst a.D. Kiesewetter und den Grünen Baerbock und Habeck hinterher. Wie Baerbock will Merz alles für die Ukraine tun: „Ich […] habe den Vorschlag gemacht, der Regierung in Kiew das Recht zu geben, zu sagen: Wenn das Bombardement auf die Zivilbevölkerung nicht innerhalb von 24 Stunden aufhört, werden die Reichweitenbegrenzungen der vorhandenen Waffen gemeinschaftlich aufgehoben.“ Die sind inzwischen aufgehoben. Und weiter: „Falls das nicht ausreicht, wird eine Woche später der Taurus geliefert.“ Man muss dazu wissen, dass im Gegensatz zu den französischen, den britischen und den amerikanischen Waffen, über die Selenskij verfügt, nur der Taurus Marschflugkörper über die Reichweite verfügt, Moskau treffen zu können. So ultimatums- und kriegsbegeistert wie Friedrich Merz und Roderich Kieswetter und Robert Habeck, der sich vor dem Wehrdienst erfolgreich gedrückt hatte, sind die Deutschen in ihrer Mehrheit jedoch nicht. Und darauf setzt Scholz in seinem Wahlkampf.

Sein Ziel wird darin bestehen, die Union in die Defensive zu drängen, in eine Situation, wo sie sich ständig erklären, sich ständig rechtfertigen, ständig taktieren muss. Will Friedrich Merz ein anschauliches, leicht verständliches Beispiel für diese Taktik haben, muss er nur das Märchen vom Hasen und vom Igel lesen. Wer Hase und wer Igel ist, verrät nicht nur Statur und Köpergröße, sondern, dass Hase Merz nur noch auf Igel Scholz reagieren kann.

Die ganze Konfusion der Union offenbart das Interview, das Friedrich Merz der Stuttgarter Zeitung gegeben hat. In einem ist Merz jedoch bewunderungswürdig ehrlich, denn er sagt im Interview: „Man kann den Menschen durchaus etwas zumuten“ – und dürfte damit sich als Kanzler meinen. In diesem kleinen Satz, der die Botschaft darstellt, zeigt sich die ganze Orientierungslosigkeit, der ganze grüne Opportunismus des Friedrich Merz: „Es geht um die richtige Motivation, das Richtige zu tun.“ Fragen wir nicht, ob Merz Motivieren oder Animieren meint, denn Motivieren kann man nur sich selbst, Animieren hingegen andere. Fragen wir nicht, wer über die Richtigkeit der Motivation entscheidet, denn unsere Motive halten wir alle für richtig. Was ist der Maßstab und wer bestimmt ihn? Und wer bewacht eigentlich diejenigen, die über den Maßstab wachen? Selbst, wenn wir das alles außen vorlassen, bleibt das Kardinal-Problem: Es geht nämlich nicht um die „richtige Motivation“, das ist grüner Stuhlkreis, sondern schlicht und ergreifend einzig und allein darum, das Richtige zu tun. Redet Merz über die richtige Motivation, um das Richtige nicht tun zu müssen? Denn das richtige könnte man selbst mit „falscher“ Motivation machen, es bliebe dennoch richtig. So wie es vollkommen gleichgültig ist, wer im Bundestag dem Richtigen zustimmt, weil das Land dringend das Richtige benötigt, so ist es auch vollkommen gleichgültig, aus welcher Motivation heraus das richtige getan wird. Der Grund des Satzes ist nur eine andere Formulierung für die demokratiefeindliche Brandmauer-Ideologie.

Woher kommt eigentlich die innige Liebe der Politiker zu Mauern? Erich Honecker liebte den Antifaschistischen Schutzwall, für dessen Errichtung er die persönliche Verantwortung trug, heiß und klassenkämpferisch und innig, koste es, was es wolle, auch an Menschenleben. Friedrich Merz berührt an jedem Morgen, an dem er erwacht, die Brandmauer, um nicht die Verbindung mit ihr zu verlieren, so wie der Riese Antäus mit seinen Füßen die Erde berühren musste, um seine Kraft zu erhalten. Woher die Liebe der Politiker zu Mauern stammt, beantwortet ein Blick auf die Geschichte des Riesen Antäus, denn wenn er die Verbindung zur Erde verliert, verlässt ihn augenblicklich seine ganze Stärke.

Wenn die Parteien der Brandmauer-Front nicht mehr die Brandmauer aufrechterhalten, dann erlischt die Macht der Grünen und der Roten. Die Brandmauer dient dem Machterhalt der Grünen und der Roten, sie ist gleichzeitig ein Monument des Verrats der Union an Demokratie und Freiheit und eine Absage an Wohlstand und Zukunft in Deutschland. Sie gehört als politisches Mittel ins Arsenal von Diktaturen und nicht von Demokratien. Die wehrhafte Demokratie ist nichts anderes als die verwehrte Demokratie.

Friedrich Merz glänzt wirklich mit Aussagen, die die Klarheit einer Milchglasscheibe besitzen: „Das Wichtigste ist, den Unternehmen Planungssicherheit zurückzugeben. Nicht alles, was an Entlastungen perspektivisch kommen sollte, muss gleich am ersten Tag in Kraft treten. Aber die Stoßrichtung muss klar und verlässlich sein: Es wird Schritt für Schritt Entlastungen für die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger geben.“ Heißt soviel wie irgendwann. Irgendwann, sagt Friedrich Merz, kommt irgendwas, aber er kann noch nicht sagen was, weil er noch nicht weiß, was Robert Habeck oder Olaf Scholz oder Saskia Esken ihm erlauben werden.

Am gradlinigsten und ehrlichsten ist es, wie Friedrich Merz den Bürgern verkauft, die Schuldenbremse auflösen zu wollen: „Ich bin bereit, am Ende darüber zu sprechen, ob eine Reform der Schuldenbremse für die Bundesländer hilfreich sein kann oder nicht ….Wir stehen zur Schuldenbremse.“ Heißt, wir stehen zur Schuldenbremse, drehen ihr aber den Rücken zu. Was andere dann damit machen, liegt nicht mehr in unserer Verantwortung. Wir erlauben den Bundesländern, bspw. für die Finanzierung der Turbomigration oder für die Infrastruktur, mehr Schulden aufzunehmen, weil wir eventuell die Mittel des Bundes für die Länder kürzen. Dadurch könnte der Bund sich indirekt über die Länder doch stärker verschulden. Man muss den Ländern nur Mehrausgaben und höherer Verschuldungsmöglichkeit gestatten. Ist das noch Blackrock-Taktik oder schon Hütchenspielerei? Auf alle Fälle ist es grüne Ideologie in Unionssprache geäußert.

Merz muss aufpassen, dass seine Kanzlerschaft nicht die Paraphrase provoziert: „Wer hat uns verraten? Christdemokraten.“ Nur ein einziges seiner Versprechen kommt ohne Hintertür aus, nämlich, dass die Brandmauer steht, denn es kommt auf die richtige Motivation an. Ansonsten wird er durch den Wahlkampf und in der neuen Bundesregierung durchpropellern.


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