Tichys Einblick
Indiv. Autonomie statt kollek. Repression

Freiheit ist immer die beste Antwort

Die gegenwärtige Pandemiepolitik schafft den mündigen Bürger ab. Dies ist nicht nur zivilisatorisch finster, sondern auch dämlich. Eine auf emanzipierte und eigenverantwortlich agierende Menschen ausgerichtete Strategie wäre erfolgreicher gewesen.

IMAGO/Arnulf Hettrich

Von Beate sei die Rede. Von einer vollkommen fiktiven Unternehmerin, die ein ebenso frei erfundenes Kaffeehaus in bester Innenstadtlage betreibt. Wodurch sie neben ihrem eigenen Auskommen auch das ihrer Angestellten sichert. Beate möchte niemanden mit Covid-19 infizieren und erst recht nicht selbst daran erkranken. Sie zweifelt nicht an der potentiell mit einer Infektion verbundenen Gefährdung. Beate muss nun entscheiden. Sie könnte ihr Lokal vorübergehend zusperren, um eine Übertragung des Erregers zwischen ihr, ihrem Personal und ihren Kunden vollkommen auszuschließen. Oder sie macht ganz einfach weiter wie bislang und ignoriert das Virus. Auch der Kompromiss einer eingeschränkten Öffnung wäre möglich, mit Abstands- und Hygieneregeln oder der Begrenzung des Zutritts auf den Kreis bereits immunisierter Personen.

Für jede dieser Optionen sprechen gute Gründe, jede ist vertretbar und berechtigt. Schon dieser im Grunde banale, weil allgemeingültige Umstand wird von den Verfechtern einer rigiden Pandemiebekämpfung konsequent ausgeblendet. Viel gravierender aber ist die weithin verbreitete Haltung, Beate dürfe die erforderliche Abwägung nicht selbst vornehmen. Obwohl es doch kein Argument für das ein oder andere Vorgehen gibt, das nicht von ihrer persönlichen Situation abhängt. Beate zu diktieren, aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer den Betrieb ihrer Gaststätte auszusetzen, ist ein egoistischer Akt.

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Denn die Auffassung, alles Handeln habe sich bedingungslos an der Verminderung des Ansteckungsrisikos ausrichten, können nur jene vertreten, deren Lebensumstände dies auch zulassen. Man muss sich Verbote gewerblicher Tätigkeiten leisten können. Weil der eigene Arbeitsplatz nicht betroffen ist, der heimische Schreibtisch ohnehin mehr Bequemlichkeit bietet und das Gehalt weiterhin pünktlich eingeht. Man muss Kontaktverbote ertragen können. Weil man ohnehin nur wenige soziale Bindungen außerhalb der eigenen Familie pflegt. Man muss auf Freizeitvergnügungen verzichten können. Weil man auch sonst keinen Sport treibt und selten oder nie in Museen geht, in Theater, Kinos, Stadien oder Tierparks.

Natürlich, das soll nicht unterschlagen werden, mag man auch durch Faktoren wie Lebensalter oder Vorerkrankungen besonders vulnerabel sein. Aber wäre SARS-CoV-2 tatsächlich ein effektiver Killer, gäbe es keine unterschiedlichen Perspektiven. Würde ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung plötzlich dahingerafft wie einst durch die Pest im Mittelalter, hätte Beate den Betrieb ganz ohne jeden Zwang schon aus Eigeninteresse eingestellt. Die Notwendigkeit des Selbstschutzes dominiert in einer solchen Situation alle anderen Aspekte, auch für die dann ebenso freiwillig ausbleibenden Gäste. Da jedoch die Lage eine andere ist, gilt es, Zielkonflikte zu bedenken.

Covid-19 erweist sich nun einmal als eine seltene Krankheit, die zudem meist harmlos und ohne langfristige Folgen verläuft. Die seitens der Politik zum Handlungsmaßstab erhobenen Inzidenzwerte sind daher außergewöhnlich niedrig angesetzt, um als Begründung für Eingriffe überhaupt zu taugen. Ein positiver Test unter tausend Einwohnern im Verlauf einer Woche genügt bereits, um einen Inzidenzwert von einhundert zu erreichen, ab dem dann für alle substantielle Freiheitseinschränkungen bis hin zu einer nächtlichen Ausgangssperre gelten. Obwohl doch das eingesetzte PCR-Verfahren noch nicht einmal eine Antwort auf die Frage bietet, ob die betroffenen 0,1% der Bevölkerung eines Landkreises tatsächlich erkranken werden oder zumindest ansteckend sind. Unter diesen Bedingungen muss der Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen nach Gesundheitsschutz auf der einen und freier Entfaltung der Persönlichkeit inklusive wertschöpfender Tätigkeiten auf der anderen Seite all jenen als schlichte Notwendigkeit erscheinen, denen die Bewahrung von Freiheitsrechten am Herzen liegt.

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Der Ansatz, Regierungen und Verwaltungen sollten sich zur Formulierung entsprechender Kompromisse von qualifizierten Fachleuten beraten lassen, entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung angesichts der zu berücksichtigenden komplexen Zusammenhänge. Allerdings gibt es keinen kundigeren Experten für Beates spezifische Situation als eben Beate selbst. Nur sie vermag die sich für sie konkret ergebenden gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen der ein oder anderen Reaktion auf das Virus umfassend zu bewerten. Dies anzuerkennen ist fundamentales Gebot für jedes Gemeinwesen, das sich humanistischen Idealen verpflichtet fühlt.

Die gegenwärtig etablierte und nach wie vor von breiter Zustimmung getragene Pandemiepolitik stellt sich vor diesem Hintergrund als ein Akt allgemeiner Entmündigung dar. Wer seine Furcht zur grundlegenden Maxime erhebt, wer zudem die Quelle der Bedrohung primär in den Handlungen, ja in der puren Existenz seiner Mitmenschen zu erkennen glaubt, der findet Beschwichtigung nur in der Disziplinierung aller durch eine zentrale Autorität. Die zwar über die Machtmittel verfügt, um Unterwerfung zu erzwingen, aber gegen die Verbreitung eines nanometergroßen Moleküls wenig ausrichten kann. Das gesuchte Seelenheil lässt sich daher nur auf spirituellem Weg erfahren. Etwa durch das Gefühl, auf einer als moralisch geboten empfundenen Seite zu stehen. Dieses Streben ist zunächst im höchsten Maße selbstsüchtig, weil es allein zur rein subjektiv erlebbaren eigenen Tröstung auch die Entrechtung von Beate fordert, deren Wünsche und deren Verhältnisse vollständig ignorierend. Dieses Streben markiert außerdem einen Rückfall in die Barbarei einer despotischen Willkürherrschaft, weil es als beständige und die Exekutivorgane absolut bindende Leitplanken erdachte und erstrittene Errungenschaften wie Grund- und Menschenrechte zu einer jederzeit beliebig löschbaren Verfügungsmasse degradiert. So nimmt die deutsche Demokratie gerade Charakterzüge eines theokratisch-totalitären Regimes an, in dem das quasireligiöse Dogma von der Notwendigkeit der Eliminierung einer bestimmten chemischen Struktur Kontrolle und Reglementierung der Menschen bis in ihre private Sphäre hinein begründet.

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Aufgeklärt hingegen darf sich nur nennen, wer sich und seine Mitbürger als emanzipiert versteht. Wer sich und seine Mitbürger nicht lediglich als von äußeren und unbeeinflussbaren Kräften getriebene passive Objekte begreift, sondern vor allem als eigenständig handelnde und gestaltende Subjekte. Zivilisation ist dann und nur dann, wenn den Menschen individuelle Autonomie zukommt. Wenn also Beate selbst darüber befinden darf, ob sie ihr Café öffnet oder schließt.

Das bedeutet nicht Anarchie. Gewisse Richtlinien sind unerlässlich, damit ein ausdifferenziertes und arbeitsteilig organisiertes Gemeinwesen überhaupt funktioniert. Man sollte schon sicher sein, nicht vergiftet zu werden, wenn man ein Stück Kuchen bei Beate genießt. Sich auf die Einhaltung von Verkehrsregeln durch andere verlassen zu können, gestattet erst die eigene Mobilität. Die Prüfung der Sicherheit von Produkten durch unabhängige Gutachter gewährleistet deren sorgenfreien Gebrauch. Diese Liste ließe sich mit beliebig vielen weiteren Beispielen ergänzen. Und allen ist die Motivation gemein, durch Vorschriften das zur Wahrnehmung von Freiheiten notwendige Vertrauen zwischen einander unbekannten Parteien zu schaffen.

Der Umgang mit der Pandemie weicht eklatant von dieser Intention ab. Die Verordnungen auf Bundes- und Landesebene verankern das Misstrauen als oberste Direktive, an der sich alles Handeln zu orientieren habe. Die Bürger werden mit den Keimen gleichgesetzt, die sie unvermeidbar in sich tragen. Viren sind obligatorische Begleiterscheinungen jener chemischen Mechanismen, die das Fundament des Lebens bilden. Schon ihr bloßes Vorkommen als nicht hinnehmbar zu betrachten zwingt letztendlich dazu, das Leben insgesamt als inakzeptable Komplikation zu bekämpfen. Was sich in seiner praktischen Umsetzung durch Vorschriften äußert, die festlegen, welche Luft man wann und wo atmen darf und welche nicht. Ganz abgesehen von der Irrationalität, die den Aufenthalt im Supermarkt, in der Drogerie und am Arbeitsplatz als gerade noch hinnehmbar deklariert, den in Beates Gaststätte aber nicht, bedeutet dies sogar einen Rückfall hinter die bereits in der Antike etablierte römische Rechtsauffassung des „im Zweifel für den Angeklagten“. Die bei einer Epidemie übliche Vorgehensweise der Isolation nur von valide identifizierten Überträgern wird durch einen generellen, allein aufgrund ihrer puren biologischen Existenz verhängten Schuldspruch für alle Menschen ersetzt.

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Was aus der Menschenwürde geworden ist
Offensichtlich hat das neue Coronavirus bei den meisten Regierenden und vielen Regierten einen mentalen Kurzschluss verursacht, der ein vernunftgetriebenes Kalkül verhindert. Gerade die kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der vergangenen Jahrtausende zeigen doch auf, wie närrisch es sein kann, sich vollständig dem Regiment seiner Reflexe und Instinkte zu überlassen.

Wenn der Löwe namens SARS-CoV-2 zu attackieren droht, flieht man eben besser nicht in die Richtung, in der das aus Insolvenzen, Arbeitsplatzverlusten, Einsamkeit und emotionaler Verkümmerung bestehende Wolfsrudel lauert. Mindestens sind bei der Bekämpfung eines bestimmten Erregers, so sehr man diese auch unter der Motivation des Gesundheitsschutzes befürworten mag, alle anderen Gesundheitsrisiken ebenfalls zu berücksichtigen. Auch und gerade solche, die als Folgen psychosozialer und wirtschaftlicher Zerstörungen aufkommen. Das Ziel muss darin bestehen, der sich stellenden Herausforderung in allen Aspekten optimal zu begegnen, medizinisch, gesellschaftlich und ökonomisch, statt rücksichts-, einsichts- und kompromisslos Kollateralschäden beliebigen Ausmaßes in Kauf zu nehmen. Der heimlich mitschwingende Gedanke, das Wolfsrudel könne ja nicht alle (Gastronomen, Künstler, Dienstleister) fressen, ein paar würden schon durchkommen, ist töricht und inhuman. Denn erstens gilt dies für den Löwen auch und zweitens gebietet es der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen, allen eine Chance auf Entkommen zu eröffnen. Dem greisen und vorerkrankten Rentner ebenso wie der jungen und gesunden Unternehmerin Beate.

Die Exekutive sollte über die Gefährdung durch den Löwen aufklären. Sie darf auch Verhaltensempfehlungen aussprechen. Vor allem aber muss sie Wahlfreiheit schaffen. Letzteres ist, was der Souverän in einer Demokratie von direkt oder indirekt gewählten Amtsträgern erwarten darf und einzufordern hat. Das bedeutet beispielsweise, Beate mindestens von monetären Zwängen zu befreien, indem man ihren Umsatzausfall dann durch Ausgleichszahlungen auffängt, wenn sie ihren Laden dichtmacht. Ob sie dieses Angebot aber tatsächlich annimmt, bleibt ihr überlassen. Flexibilisierung statt Einengung ist gefragt. Denn wo sich alle unterschiedliche Auswege suchen, gehen Löwe und Wolf gleichermaßen leer aus.

Die Grundrechte lediglich als Abwehrrechte gegenüber einer übergriffigen Administration zu verteidigen, greift daher zu kurz. Sie sind auch Ausdruck des Wissens über die höhere Resilienz einer Gesellschaft, die Individuen nicht zur Unterordnung unter das Gutdünken anderer zwingt. Es gibt für jeden einen perfekten Fluchtweg aus der Zwangslage zwischen Löwe und Wolf, es ist nur für alle ein anderer. Freiheit ist auf jede Notlage die beste Antwort, selbst auf solche, die eher gefühlt denn real sind. Denn es gibt keine Krise, die durch den Verzicht auf Freiheitsrechte nicht noch verschärft würde. Viele Wölfe sind zusammengenommen immer hungriger als ein einzelner Löwe. Beate könnte aber beiden ausweichen, wenn man sie nur ließe.


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