Einen Bericht über sein Berlin-Demo-Erlebnis, der schon die Anreise als besondere Erfahrung schildert, aber auch das Geschehen selbst persönlich beleuchtet, wollen wir allen Interessierten näher bringen.
Dass der DLF seinen Verkehrsfunk abgeschafft hat, wurde mir das erste mal voll bewusst, als 2.000 m vor der Abfahrt Klein Marzehns der Verkehr auf der A9 Richtung Berlin schlagartig dick wurde und Warnblinkanlagen den heranrauschenden Hintermann auf den Stau aufmerksam machten. Jeweils zur vollen und halben Stunde hatte ich nach Verkehrsmeldungen gesucht – und keine gehört. Auch bei anderen Sendern nicht.
Wie alle anderen entschied ich mich, in Klein Marzehns abzufahren, um den Stau irgendwie zu umgehen. Direkt an der Abfahrt blockierten diagonal über die Fahrbahn aufgestellte Blink-Hütchen und ein VW Passat der Polizei („Vollsperrung“) die A9. Ich suchte nach der zusätzlichen Information „Unfall“, aber es gab sie nicht. Erst, als ich von der Autobahn herunter war, wurde mir das Ausmaß bewusst: viele Kilometer bis in die nächsten Gemeinden hinein quälte sich langsam eine schier endlose PKW-Schlange mit Kennzeichen aus L, HAL, SOK, SÖM, J, KYF, Z, WB usw. Offenbar wollten sie alle nach Berlin.
In einem Kreisverkehr nahm einer entnervt die volle Schleife und fuhr zurück. Ich winkte kurz aus dem offenen Fenster. Er hielt. Ob er etwas wisse, fragte ich. Na die haben die A9 dichtgemacht, meinte er. Wegen der Demo, oder? Na klar. Stau bis Berlin? Davon müssten wir ausgehen.
Ich beschloss, mich quer durch das Land, über Jüterbog bis zur A13 durchzuschlagen. Die ersten Kilometer kamen mir PKW aus dem Süden wie versprengte Schafe entgegen; alle schienen einen alternativen Weg nach Berlin zu suchen. Möglicherweise waren die Sperrung noch viel ausgedehnter. Nach 20 Kilometern war ich ganz allein auf weiter Flur. Auf den rund 90 Kilometern Umweg hatte ich Zeit zum Nachdenken und begriff, dass „der Staat“ (also die, wie man heute sagt, Regierenden) tatsächlich Angst vor dem Volk haben muss. Keine strategische Vorsicht, keine reine Gegenmaßnahme, sondern wirkliche Angst, wenn er schon 90 Kilometer vor der Siegessäule damit beginnt, dann Zustrom zur Demo zu sabotieren. Wie viele Tausende deshalb Berlin zu spät oder gar nicht erreichten, ist schwer abzuschätzen.
Mit fast zwei Stunden Verspätung kam ich über das Schönefelder Kreuz und die A113 problemlos bis auf wenige Kilometer an den Tiergarten heran. Ich parkte das Auto, stieg aufs Rad um und war 10 Minuten später am Ort des Geschehens. Kennedy hatte schon gesprochen. Den hätte ich gerne live gehört. Egal.
Die Straße des 17. Juni war komplett besetzt – im wörtlichen Sinne, denn die meisten saßen auf mitgebrachten Decken. Wollte man die Leute mit wenigen Worten beschreiben, müsste man sie vielleicht bürgerliche Hippies nennen. Die Stimmung war ausgesprochen relaxt. Nirgends gab es Gerempel, alle gingen sehr rücksichtsvoll miteinander um, derweil durch die Lautsprecher nicht nur vehement kritisiert und angeprangert, sondern auch immer wieder Liebe und Frieden beschworen wurden.
Am sowjetischen Ehrenmal hatten junge Männer den T34-Panzer erklommen. Ich fühlte mich an Bilder erinnert, die man von den großen Anti-Vietnamkriegs-Demos aus den USA kennt. Nachdenklich bewegte ich mich Richtung Siegessäule. Hie und da durch schwere, süßlich-erdige Wolken von Marihuana-Rauch. Menschen lagen mit geschlossenen Augen da, lauschten den Reden und ließen sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Berlin hatte an diesem Tag so ziemlich das beste Wetter der ganzen Republik: heitere 24 bis 25 Grad.
Ich traf Leute aus meiner Region, sah Flaggen aus Portugal, Polen, Schweden, Australien, Russland und den USA. Es gab das bayerische Blau-Weiß, zamst Dirndl und Ledahosn, es gab ein als Steam-Punks verkleidetes Paar, welches das diesjährige WGT nachholte, es gab Krishna-Jünger und Damen, die aufreizend herausgeputzt meinen Blick suchten und den ihren tief und bedeutungsschwer hineinbohrten. „Hey, und jetzt macht mal alle das Herz! Schicken wir noch einmal ganz viel Liebe raus, denn nichts braucht die Welt so sehr, wie unsere Liebe!“ bellten die Boxen. Und die Leute standen auf, formten mit ihren Händen ein Herz und johlten obligatorisch auf den bekannten Party-Schlachtruf: „Hallo Berlin, seid ihr noch da?“
Je länger ich mein Rad durch die Reihen bugsierte, schob, hob, je öfter ich stehenblieb, mich umschaute, je mehr Reden ich hörte, je mehr Menschen ich beobachtete, desto klarer wurde mir, dass diese Bewegung bestenfalls das Potential hat, eine zweite Love Parade zu werden. Man kann sie gewähren, ihre Forderungen stellen lassen und genauso weiter machen wie bisher. Vielleicht wird aus Querdenken sogar ein kulturelles Berliner Highlight – Freiheit als Event. Aber weh – ich meine: wirklich weh – tat diese Demo keinem. Genau das hätte sie jedoch tun müssen, denn die andere Seite setzt auch auf Schmerz und wird deshalb auch nur durch Schmerz lernen.
Was die Macher um Querdenken meiner Ansicht nach noch nicht begriffen haben (und sie in meinen Augen etwas naiv macht) ist, dass die andere Seite nullkommanull Interesse an einem „gesellschaftlichen Dialog“ hat, den Querdenken anzustoßen versucht. Der Staat tut, als wäre er gut, doch hinter seiner scheinbar betulichen, unnachgiebig-sanften Art verbirgt sich eine eiskalte, glasharte Unterwerfungsabsicht. Bis zu dieser Erkenntnis ist Querdenken noch nicht vorgedrungen. Man kann mit postulierter „Liebe“ und mit freundlichem Winken keine Schlacht gewinnen, wenn die Gegenseite konsequent das Ziel verfolgt, Menschen zu entrechten. Wer nicht bereit ist, für die Freiheit echte Opfer zu erbringen, hat sie schon verloren.
Fazit dieses Tages waren vier Erkenntnisse:
– 1. Der Staat hat wirklich Angst vor dem Volk; seine Selbstsicherheit ist z.T. echt (weil längerer Hebel) aber auch z.T gespielt
– 2. der Staat (die Regierenden und ihre Zuarbeiter) ist endgültig der Feind des Bürgers
– 3. es muss weh tun auf der anderen Seite, denn die andere Seite tut dem Bürger auch weh
– 4. eine Demokratie ist nur mit einer mobilen Bevölkerung möglich – ergo: Bekämpfung des Autos = Bekämpfung der Demokratie