Die Freien Wähler (FW) sind bislang nur in Bayern eine nennenswerte politische Größe. Dort sitzen sie seit 2008 jeweils als drittstärkste Partei im Landtag. Bei der bayerischen Landtagswahl von 2018 steigerten sie sich auf 11,6 Prozent. Weil die CSU 2018 gegenüber 2013 von 47,7 (damals noch mit Horst Seehofer) mit Markus Söder auf 37,2 Prozent abgestürzt war, öffneten sich für die FW die Tore ins Landeskabinett. Dort nehmen die FW seither mit ihrem Landes- und Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger (50) das Amt des Wirtschaftsministers sowie des Stellvertretenden Ministerpräsidenten, mit Michael Piazolo das Amt des Kultusministers und mit Thorsten Glauber das Amt des Umweltministers wahr.
Außerhalb Bayern gelang den FW bislang nur einmal ein Einzug in ein Landesparlament, und zwar im März 2021 mit 5,4 Prozent in Rheinland-Pfalz. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Brandenburger Vereinigte Bürgerbewegung / Freie Wähler (BVB/FW) seit 2019 mit exakt 5,0 Prozent im dortigen Landtag sitzt; sie ist aber keine Gliederung der FW-Bundespartei. Bei der Bundestagswahl von 2013 und von 2017 waren die FW jeweils bei exakt 1,0 Prozent hängengeblieben, bei der Wahl zum „Europaparlament“ fuhren die FW 2019 dann 2,2 Prozent ein.
So weit, so gut. So weit, so schlecht für die CSU. Von daher ist es zu erklären, dass Regierungschef Söder nun vor allem seinen Stellvertreter Aiwanger ins Visier genommen hat. Aiwanger macht es Söder freilich auch leicht, denn mit seinem Umgang mit seiner eigenen (Nicht-)Impfung gegen Corona („jetzt noch nicht, vielleicht später“) liefert er Söder regelmäßig eine Steilvorlage.
Ob Aiwanger dabei wirklich auf die Stimmen von Impfskeptikern, Impfgegnern, Impfverweigerern und „Querdenkern“ schielt, sei dahingestellt. Wenn es denn so wäre: Mit letzteren allein dürfte er den Einzug in den Reichstag oder gar in ein schwarz-gelb-oranges Bundeskabinett nicht schaffen. Denn wenn sich Aiwangers bundespolitische Ambitionen zerschlagen, dann gibt es dafür andere Gründe, und zwar eine Reihe grundsätzlicher Fehler und Versäumnisse.
Problem 2: Aiwanger hadert mit einer Corona-Impfung, vor allem mit einer direkten Impfpflicht und mit einer Impfpflicht durch die Hintertür. Dafür gibt es zumal nach den Desastern und Hilflosigkeiten der Corona-Politik des Bundes nachvollziehbare Gründe. Aiwanger fällt mit seinem Hadern aber so ziemlich allen FW-Kommunalpolitikern in den Rücken. Die 14 FW-Landräte (darunter seine Lebensgefährtin Tanja Schweiger als Landrätin des Landkreises Regensburg) und die rund 600 FW-Bürgermeister haben sich unter zum Teil schwierigen Umständen die Haxen (wie man in Bayern sagt) ausgerissen, um eine halbwegs solide Informations-, Nachverfolgungs-, Test- und Impf-Infrastruktur aufzubauen. Da schütteln ob Aiwanger’scher Alleingänge nicht wenige den Kopf. Aiwanger gelingt es auch nicht zu erklären, unter welchen Nebenwirkungen der Corona-Impfung denn die vielen Menschen, die er kenne, wirklich zu leiden haben. Damit zumindest argumentiert er gerne.
Problem 4: Bei all den markanten Forderungen im FW-Wahlprogramm wird man freilich den Eindruck nicht los, dass die FW nicht nur im Wählerpotential von Union und AfD fischen wollen, sondern auch im Beritt der „Roten“ und „Grünen“. Man bekennt sich zum Atomausstieg (Aiwanger ist übrigens in seiner Eigenschaft als bayerischer Wirtschaftsminister auch Energieminister). Man fordert die Eindämmung des Konsums von Zucker, Salz und Transfetten, die Entkriminalisierung des Drogenkonsums und will das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 senken. Damit ist man dann seitens der FW doch ganz nahe bei den diversen Rot-Grünen und doch nicht das, was man sein möchte: nämlich die “wahrhaft bürgerliche” Partei.
Problem 6: Aiwangers aktuelle Profilierungsversuche kommen zu spät. Er hätte einen Bruch der Koalition mit der CSU vor einem Jahr provozieren oder gar vollziehen sollen. Das hätte ihn und seinen zwei anderen FW-Ministern zwar Ministerposten gekostet. Söder hätte eine Minderheitsregierung installieren oder eine Koalition mit den ihm längst nicht mehr unsympathischen „Grünen“ eingehen müssen. Aber es hätte den Freien Wählern zumal angesichts eines mehr und mehr ergrünten Söders über Bayern hinaus viel Aufmerksamkeit, ja Sympathie im bürgerlichen Lager beschert. Gründe für ein solches Schisma hätte es genug gegeben: etwa die Energiepolitik oder das von Corona-Hardliner Söder forcierte Erdrücken von Wirtschaft, zumal von Gastronomie und Tourismus usw. Jetzt aber ist Aiwanger mit seinen FW monomanisch fixiert auf das Thema Impfen, und damit ist die Chance weiterreichender Profilierung verspielt. Deshalb wird es wohl nix mit Jubel am Abend des 26. September.
Schlussbemerkung: TE-Leute und der Verfasser dieser Analyse haben in den letzten Tagen versucht, mit Aiwanger ein Interview zu führen. Es wäre dies für den FW-Chef durchaus die Möglichkeit gewesen, sich programmatisch etwas breiter aufzustellen. Beide Anfragen aber wurden abschlägig beschieden.