Früher schoben Parteien erfolglose Politiker mit Vorliebe nach Brüssel ab. Dass die SPD sich in den letzten Jahren dazu genötigt sah, Personen wie den dreifach gescheiterten Ministerpräsidentenkandidaten Heiko Maas zuerst zum Justiz- und später zum Außenminister zu machen, verdeutlichte bereits vor Jahren eine Wende in der SPD, die man im Grunde nur auf Personalmangel zurückführen kann. Zum selben Typus gehört Franziska Giffey. Wer früher auf die Hinterbank in Brüssel spekulierte, wird heute auch mal unverhofft zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, wenn es die Parteitaktiken einer ausgedünnten Sozialdemokratie zulassen.
Giffey trat im Mai 2021 infolge der Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit als Bundesfamilienministerin zurück. Zu dem Zeitpunkt gärte die Causa schon seit zwei Jahren. Ähnlich wie bei Anette Schavan (CDU), die nach ihrem Rücktritt wegen einer Plagiatsaffäre von der Kanzlerin nicht im Stich gelassen wurde – nur ein Jahr später wurde sie zur Botschafterin beim Heiligen Stuhl ernannt –, erwies sich die SPD solidarisch mit der eigenen Genossin. Anders als bei Schavan wagte man es sogar, die einstige Berliner Bezirksbürgermeisterin als Kandidatin um das Amt des Berliner Bürgermeisters aufzustellen. Die Verliererin sollte jetzt Gewinnerin sein.
Die glücklichste Verliererin der Republik hat die damalige Wahl zwar eingeholt. Beobachtet man jedoch den aktuellen Berliner Wahlkampf, dann setzt die SPD vor allem auf eines: Giffey. Auf einem Plakat sitzt die Bürgermeisterin bei Nacht, liest Akten und erscheint staatsmännisch. Die Botschaft: Schlaflos sorgt sich die beste Bürgermeisterin aller Zeiten um das Wohl der Bundeshauptstadt. Und sie macht auf volksnah: Giffey zusammen mit Handwerkern, Giffey zusammen mit Migranten, Giffey zusammen mit dem kleinen Mann.
Dem SPD-Wahlkampf haftet die Atmosphäre an, dass Giffey sich nach Jahren erfolgreicher Amtszeit zur Wiederwahl stellt – obwohl die Regierung Giffey noch keine 13 Monate hält. Wahltaktisch muss sie einen unangenehmen Spagat vollführen. Einerseits ist sie erst einige Monate in Amt und kann damit nur Versprechungen, keine Erfolge vorweisen; andererseits muss sie für 20 Jahre SPD-Politik im „Failed state“ Berlin haften.
Den desaströsen Status der Bundeshauptstadt hat Giffey dabei sogar direkt zugegeben. In einem denkwürdigen Interview mit Sandra Maischberger kam die Moderatorin ihrer journalistischen Pflicht nach und zwang die Regierende Bürgermeister gleich mehrfach zum Offenbarungseid. In derselben Stadt, in der Polizei und Justiz unterversorgt sind, will sich die SPD für ein 19-Euro-Ticket einsetzen. Als „persönliche Niederlage“ will sie den Silvesteraufstand nicht deklarieren – denn das würde alle Projekte in Neukölln diskreditieren. Dass Giffey als Bezirksbürgermeisterin für Neukölln zuständig war, sie dieses aber – durchaus richtig – als Problemviertel beschreibt, steht auf einem eigenen Blatt. Dass die Mehrzahl der Verantwortlichen für die Silvesterkrawalle einen Migrationshintergrund hat, geht Giffey dagegen kaum über die Lippen.
Zu den vielzähligen Glossen, die man über Berlin und sein Parteien-Establishment schreiben könnte, zählt noch ein weiteres Stück. Die NZZ berichtet, dass die Abteilung 236 der Berliner Staatsanwaltschaft mit der Aufgabe betraut wurde, die Silvesternacht aufzuarbeiten und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Üblicherweise beschäftigt sich die Abteilung mit „Straftaten im Zusammenhang mit sportlichen Großveranstaltungen“. Während die stellvertretende Chefredakteurin des RND bereits am Sonntag Videospiele für die Gewaltausbrüche mitverantwortlich machte, rückt man die Täterschaft damit zumindest indirekt in die Nähe von Fußball-Hooligans.
Wann das „Programm“ gegen jugendliche Gewaltkriminalität zu erwarten ist, bleibt dabei ebenso im Vagen wie die weiteren Details. Giffey will Bodycams für Polizei und Feuerwehr, die Koalitionspartner von der grünen und dunkelroten Seite dürften solche Vorstöße jedoch kritisch sehen. Alles weitere will man daher bis zum 22. Februar klären. Das sind zehn Tage nach der Abgeordnetenhauswahl.