Der Atomausstieg Deutschlands ist eine Hypothek. Immer und immer wieder. Früher legte sich Berlin an die russische Kette, heute an die amerikanische, um Gas als Atomstromersatz zu importieren. Aus China importiert Deutschland Seltene Erden und Solarzellen für die Energiewende. In Südamerika sucht es vergeblich nach einem Zugang zu Lithium, um Batterien für seine E-Autoindustrie zusammenzuklauben. Probleme, die es ohne Energiewende in dieser Form nicht geben würde.
Schuld daran sind nicht in erster Linie hegemoniale französische Attitüden, sondern eher deutsche Verbohrtheit. Es geht um Wasserstoff – und seine Erzeugung. Deutschland möchte, dass nur der „grüne Wasserstoff“, der mittels Strom aus Windkraft- und Solaranlagen gewonnen wird, das EU-Label „erneuerbar“ bekommt. Frankreich hält dagegen: auch der mittels Atomstrom gewonnene „rote Wasserstoff“ soll als erneuerbar gelten und keine Nachteile erfahren.
Schon macht das Narrativ die Runde: die Franzosen versuchen, „ihren“ Wasserstoff zu bevorteilen. Doch in Wirklichkeit geht es darum, dass Deutschland den „grünen Wasserstoff“ zugunsten seiner eigenen Energiewende-Industrie bevorteilen möchte, indem es den „roten Wasserstoff“ aus Frankreich benachteiligt. Schließlich will man sich den Austritt aus der Atomenergie vergolden lassen.
Das sind Strategien, die auf nationaler Ebene funktionieren mögen, aber ihre Grenzen erreichen, wenn auf supranationaler Ebene klassische Atomstromländer ihre Interessen artikulieren können. Denn Deutschland beginnt damit einen prinzipiellen Streit: es will seinen Nachbarländern vorschreiben, wie es seine Klimaziele erreicht. Dass der CO2-Ausstoß Frankreichs wesentlich geringer ist als der Deutschlands, obwohl man in Berlin die „wahre Lehre“ vertritt, scheint einige grün-rote Vertreter zu wurmen.
Kurzerhand muss der moralische Sieg her: der französische Wasserstoff sei eigentlich gar kein sauberer Wasserstoff. Obwohl der sich wenig vom deutschen unterscheidet, was die CO2-Emissionen angeht. Patzig heißt es von der Bundesregierung: „Wir lehnen dies als Bundesregierung gemeinsam mit anderen Staaten klar ab.“ Gegenüber der Tagesschau sagt ein EU-Beamter: „Atomenergie ist keine erneuerbare Energieform.“ Es geht also doch nicht um Klimaschutz oder CO2, sondern um den deutschen Sonderweg im Speziellen und die EE-Industrie im Allgemeinen.
Das sind vielleicht nicht die feinen französischen Sitten. Aber anders versteht man es wohl nicht in einem Land, dass Gaskraftwerke im Sinne einer „Brückentechnologie“ als klimafreundlich deklariert und in einem irrationalen Hass jeden Funken Kernenergie als Teufelswerk verurteilt. Im Sommer dürfen dann wieder die französischen Kernkraftwerke als Ausrede herhalten, wenn der eigene Strombedarf nicht gedeckt werden kann.
Vermutlich ist der Streit eine Patriotismuskompensation: dieselben Parteien, die den Nationalismus als überwunden schelten, sind plötzlich die eifrigsten Nationalisten, wenn es um ihren reindeutschen Strom geht. Der Erbfeind ist wieder da, doch statt ums Elsass geht es heute um die Farbe von Wasserstoff. Vielleicht entdeckt Olaf Scholz auch noch die Wacht am Rhein für sich?