Darf man als Deutscher europäische Nachbarländer noch kritisieren? Da hat man durchaus Zweifel, denn Deutschland leistet seit einigen Jahren seinen eigenen Beitrag dazu, die EU zu schwächen, das muss man offen so sagen. Da ist zunächst unsere Verteidigungspolitik, die seit gut 20 Jahren, wenn nicht länger von der Illusion eines ewigen Friedens ausging und die Bundeswehr daher zu einer Operettenarmee hat werden lassen, die im Ernstfall wohl schon nach zwei Wochen, wenn nicht früher die weiße Fahne hissen müsste. Geändert hat sich an dieser Politik auch seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges nicht gar so viel, auch wenn die Rhetorik eine andere geworden ist. Dazu kommt die deutsche Energiepolitik, die in ihrer Mischung aus Sendungsbewusstsein, Hybris und mangelnder Kompetenz mittlerweile die Strompreise in fast ganz Europa in die Höhe treibt, weil im Winter Deutschland oft auf massive Stromimporte angewiesen ist. Dass der Niedergang der deutschen Industrie, der zumindest zum Teil auch selbstverschuldet ist, auch nicht gerade dazu beiträgt, das Gewicht Europas in der Welt zu vergrößern, muss kaum betont werden.
Dennoch muss erlaubt sein, darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht die Einzigen sind, die zum Niedergang Europas nach besten Kräften einen wesentlichen Beitrag leisten.
Frankreich hat hier den Wettbewerb mit Deutschland noch nicht aufgegeben und liegt, wenn man fair ist, auch gar nicht so schlecht im Rennen. Seitdem Macron im Sommer in einer Kurzschlusshandlung, wenn nicht sogar in einer Art Tobsuchtsanfall – die Franzosen hatten bei den Europawahlen gewagt, anders zu wählen als gewünscht – das französische Parlament aufgelöst hat, hat das Land keine voll handlungsfähige Regierung mehr. Das ist umso bedenklicher, weil mittlerweile die Staatsschulden komplett aus dem Ruder laufen. Mit einem laufenden Haushaltsdefizit von ca. 6 % des BIP und Gesamtschulden von rund 110 des BIP ist die Lage recht bedenklich. Auf seine Staatsanleihen muss Paris mittlerweile ähnlich hohe Zinsen zahlen wie Griechenland, dessen nomineller Schuldenstand deutlich höher ist, auch wenn die Forderungen der europäischen Partnerländer gegenüber Griechenland, die immer noch das Gros der Staatsschulden ausmachen, faktisch natürlich weitgehend fiktiv sind, weil niemand ernsthaft erwartet, dass Griechenland diese Schulden je abträgt.
Dennoch, die Finanzmärkte sind nervös, und während deutsche Anleihen einstweilen noch ein AAA-Rating genießen, werden die französischen Bonds von einschlägigen Rating Agenturen nur noch mit AA- bewertet. Dabei verfügt der französische Staat mit einer enorm hohen Abgaben- und Steuerquote eigentlich über recht üppige Einnahmen – das Problem sind die Ausgaben, besonders für den extrem grosszügigen Sozialstaat. In Frankreich liegt das Nettoeinkommen von Rentnern nicht selten über dem von Personen, die noch berufstätig sind und der Staat gibt etwa 14 % des BIP jährlich für die Pensionen aus – der Durchschnitt in der OECD liegt eher bei 9 %, und auch in Deutschland liegt die Belastung der Volkswirtschaft durch Zahlungen für Renten und Pensionen einstweilen noch bei etwa 10 %.
Eigentlich ist dieses System so nicht zu halten, denn obwohl die demographische Entwicklung in Frankreich günstiger ist als bei uns, älter werden auch die Franzosen. Dass Reformen unausweichlich sind, kann eigentlich jeder vernünftige Mensch einsehen – nur dass diese Art von Vernunft offenbar in Frankreich nicht sehr verbreitet ist. Macron, der französische Präsident, war als typischer Vertreter der exklusiven Elite des Landes, des Staatsadels, nie wirklich populär, aber richtig verhasst wurde er vor allem durch seine eigentlich äußerst vorsichtige Rentenreform, durch die er das Renteneintrittsalter 2023 von 62 auf 64 Jahre anhob, eine Maßnahme, die sich freilich erst 2030 in vollem Umfang auswirken soll. Im Grunde handelte es sich um eine homöopathische und auch völlig unzureichende Reform, die er dennoch nur auf dem Wege der Notverordnung nach Art. 49.3 der Verfassung durch das Parlament brachte, da sich eine Mehrheit für diese Kurskorrektur unter den Abgeordneten nicht fand.
Seitdem befindet sich das Land eigentlich im Zustand der Dauerrevolte und dass Macrons Partei die Parlamentswahl, die er unklugerweise für den 30. Juni dieses Jahres angesetzt hatte, verlor, überrascht eigentlich nicht. Im Parlament haben jetzt diejenigen eine Mehrheit, die entweder einen radikalen Staatsozialismus und eine umfassende Umverteilung aller Vermögenswerte wollen wie der Jakobiner, Chauvinist und Deutschenhasser Mélenchon, oder diejenigen, die, um an die Macht zu kommen, bereit sind, jeden Joker auszuspielen und unhaltbare Versprechungen zu machen, wie Marine Le Pen, auch wenn sie in ihrem fiskalpolitischem Vabanque-Spiel wohl nicht ganz so weit gehen würde wie ihr sozialistischer Gegner. Mélenchon und Le Pen können aber nur so erfolgreich sein, weil einerseits die allermeisten Franzosen entweder fest davon überzeugt zu sein scheinen, dass sie ein erbliches Recht haben, über ihre Verhältnisse zu leben – jemand anders, der die Rechnung bezahlt, wird sich schon irgendwie finden, davon ist man überzeugt, egal ob es nun die eigenen „Reichen“ sind oder die naiven Deutschen mit ihrer absurden Europabegeisterung – oder Reformen zwar befürworten, aber nur unter der Bedingung, dass sie selbst keinen einzigen Cent an Einbußen erleiden.
Frankreich war immer schon ein Land der Revolten und schwer bis gar nicht regierbar
Man kann Macron wohl vorwerfen, dass er durch sein majestätisches und zum Teil anmaßend wirkendes Auftreten und seinen politischen Stil den Widerstand gegen seine vorsichtigen Reformen noch zusätzlich vergrößert hat, aber das Grundproblem ist, dass Frankreich von jeher ein Land der Revolten war, nicht erst seit 1789, auch deshalb, weil es im Grunde genommen nie gelang, integrative Institutionen zu schaffen, die ein hinreichend großes Maß an Konsens und an Legitimität auch für unpopuläre Maßnahmen generieren konnten. Der Cäsarismus einzelner politischer Persönlichkeiten als heroischer Führergestalten, von Napoleon I. und Napoleon III. über Petain bis hin zu de Gaulle und jetzt zu Macron konnte und kann das Fehlen solcher Institutionen nicht dauerhaft kompensieren.
Das politische Legitimationsdefizit war vor 1789 spürbar und ist ein bleibendes Problem geblieben. Wenn Engländer im 16. Jahrhundert keine höheren Steuern zahlen wollten, dann weigerten sie sich im Parlament, solchen Steuern zuzustimmen, wenn die Franzosen es nicht wollten, dann inszenierten sie eine regionale Steuerrevolte, verprügelten die königlichen Steuerpächter und Fiskalbeamten oder hängten sie am nächsten Baum auf und steckten die Rathäuser und Gerichtsgebäude in Brand, oft durchaus mit einem gewissen Erfolg. So sehr viel anderes blieb ihnen freilich auch nicht übrig, da die französischen Generalstände nur sehr selten einberufen wurden und nur begrenzte Kompetenzen hatten. Sicher, mit dem Beginn der selbständigen Regierung Ludwigs XIV. 1661 fand diese Kultur der Revolten und der Unbotmäßigkeit erst mal ein Ende, aber als der Sonnenkönig 1715 starb, hinterließ er ein finanziell ruiniertes Land, da er seit 1688 nahezu ununterbrochen Krieg geführt hatte und das in dieser Spätphase seiner Regierung anders als in früheren Jahren meist ohne große Siege erringen zu können. Es blieb um 1720 einem schottischen Finanzimpresario, John Law, überlassen, die Schulden wegzuzaubern, indem er die Eigentümer von königlichen Schuldverschreibungen überredete oder nötigte, ihre Schuldtitel gegen Aktien einer vermeintlich hochprofitablen Kolonialgesellschaft einzutauschen. Die Kolonialgesellschaft musste leider nach kurzer Zeit Konkurs anmelden, aber der Staat war seine meisten Schulden los.
Allerdings hatte auch das Vertrauen möglicher Kreditgeber in die französische Krone als Schuldner durch diese „Umschuldung“ – faktisch ein Staatsbankrott – sehr stark und dauerhaft gelitten. Die Folge war, dass Frankreich im 18. Jahrhundert deutlich höhere Zinsen zahlen musste als zum Beispiel England, obwohl das Land so viel ärmer als der Nachbar nördlich des Kanals nicht war. Spätestens in den 1770er Jahren hatten die Schulden nach zwei langen und erfolglosen Kriegen (1740-48 und 1756-63) auch wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie zu Beginn des Jahrhunderts und stiegen nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in den Frankreich eingegriffen hatte, ins Unermessliche. Diese Finanzkrise machte die Einberufung der Generalstände dann 1789 unausweichlich, – der Rest der Geschichte ist bekannt.
Eine Finanzkrise wie in den 1780er Jahren blieb Frankreich dann zwar im 19. Jahrhundert nach 1815 erspart, sogar nach der Niederlage von 1871, aber die Revolution hatte das Land dauerhaft in zwei verfeindete Lager gespalten, ein eher linkes republikanisches, meist auch stark kirchenfeindliches und ein konservatives, katholisches, das lange an der Monarchie als Staatsform festhielt und die nach 1871 entstandene Dritte Republik eigentlich ablehnte. Vor allem nach 1918 destabilisierte diese politische Polarisierung das Land und leistete ihren Beitrag zur unrühmlichen Niederlage von 1940. Nach 1945 waren die konservativen Hardliner, die eine demokratische Republik eigentlich ablehnten, durch ihre Kollaboration mit Deutschland während des Krieges freilich diskreditiert, auch wenn sie im Front National, der 1972 gegründet wurde, später zum Teil eine neue Heimat fanden. Aber erst Marine Le Pen gelang es in den letzten gut 10 Jahren das Rassemblement National, die Nachfolgepartei des Front National zu einer Partei zu machen, die politisch nicht mehr vollständig marginalisiert werden kann, und nicht mehr als gänzlich toxisch gilt. Die Verbindungen zur zum Teil faschistischen und antisemitischen Tradition des Front National wurden jedenfalls weitgehend gekappt.
Macrons Präsidentschaft sollte ein Neubeginn sein und die Polarisierung des Landes überwinden – aber am Ende scheiterte der Präsident
Macrons großes Anliegen war es eigentlich, die politische Polarisierung zwischen Links und Rechts, die neben der traditionellen Kultur der ewigen Revolte ein Hauptgrund für die Unmöglichkeit ist, in Frankreich notwendige Reformen wirksam umzusetzen, zu überwinden. Seine eigene politische Bewegung positionierte sich bewusst zwischen den traditionellen Lagern. Was er damit freilich vor allem erreichte, war, die gemäßigte Linke (die Sozialisten) und die gemäßigte Rechte (primär die Nachfolger der Gaullisten) massiv zu schwächen. Der Aufschwung des Rassemblement National auf der Rechten in den letzten Jahren und das Volksfrontbündnis auf der Linken, das bei der letzten Wahl entstand, verdanken sich wesentlich diesem Umstand. Damit ist Frankreich mehr denn je unregierbar geworden und es ist völlig unklar, wie man einen Ausweg aus dieser sehr düsteren Lage finden soll.
Der neue, nach dem Sturz seines Vorgängers (Michel Barnier) durch ein Misstrauensvotum ernannte Ministerpräsident, François Bayrou war schon immer ein Zentrist, und verkörpert somit in adäquater Weise Macrons ursprüngliches politisches Programm des „Sowohl als auch“ (en même temps). Er erscheint jedoch wie eine Figur aus der Vergangenheit und es ist schwer zu sagen, wie es ihm gelingen kann, für einen Haushaltsentwurf oder andere Gesetze im Parlament eine Mehrheit zu finden. Der französischen Romancier Houellebecq hat vor Jahren von Bayrou in seinem Roman Soumission ein wenig schmeichelhaftes Porträt gezeichnet. Der große Bewunderer Heinrichs IV. als dessen geistigen Nachfolger er sich ein Stück weit sieht (er kommt wie der erste Bourbone aus dem Béarn am Fuße der Pyrenäen), erscheint dort als ein Mann ohne wirkliche Ideen, der auch bei einer möglichen islamistischen Machtübernahme als nützlicher Idiot und politisches Feigenblatt eine „konstruktive“ Rolle spielen könnte. Diese boshafte Polemik ist sicher weit überzogen, aber vermutlich wird Bayrou, der sich selbst wie Heinrich IV. für einen großen Humanisten hält, sich darauf beschränken müssen, irgendwie die Stellung zu halten, bis Macron im Juni nächsten Jahres das Parlament erneut auflösen kann. Ob es danach eine regierungsfähige Mehrheit für irgendeine Partei gibt, ist freilich recht ungewiss. Sollte Le Pens Rassemblement doch noch eine Mehrheit der Sitze in der Kammer erlangen, weil das Lager ihrer Gegner sich völlig zerstreitet und daher nicht mehr zu gemeinsamen Wahlbündnissen findet, hätte Macron immerhin die Genugtuung, dass er dann als Garant der Stabilität im Elysée von vielen Franzosen, die Len Pen und einen Ministerpräsidenten ihres Rassemblement ablehnen, als einziger Garant der Verfassung und der Stabilität gesehen werden könnte.
Die Haushaltsprobleme des Landes wären auf diesem Wege freilich auch nicht zu lösen, das ist klar. Im Grunde genommen wird Frankreich früher oder später einen neuen John Law brauchen, der durch einen Zaubertrick wie 1720 während der Regentschaft des Herzogs von Orléans die Schulden reduziert, da nicht absehbar ist, wie man die Kosten des Sozialstaates jemals in den Griff bekommen will. Nur dass die Experimente eines solchen Mannes dann nicht nur die Kreditwürdigkeit Frankreichs, sondern der gesamten Eurozone und die Stabilität des Euro als Währung dauerhaft untergraben würden, da in der Eurozone bekanntlich seit 2010 eine mittlerweile weitgehend bedingungslose gesamtschuldnerische Haftung aller Mitgliedsländer für die Schulden der anderen Partner gilt, und sei es auf dem Umweg über die EZB. Jedenfalls wird die EZB bei steigenden französischen Zinsen sicher immer mehr französische Staatsanleihen kaufen, um das Land über Wasser zu halten. Früher oder später muss das natürlich zu einer trabenden Inflation in allen Ländern des Euro führen.
In diesem Zusammenhang ist auch nicht uninteressant, dass die französischen Schulden eigentlich erst nach Einführung des Euro und besonders nach der Finanzkrise von 2008 außer Kontrolle gerieten. Bis zur Einführung des Euro war die nationale französische Währung im Falle finanzieller Turbulenzen auf Grund unsolider Staatfinanzen von der Gefahr der Abwertung bedroht, ein Desaster, das die politische Führung des Landes schon aus Prestigegründen und wegen der Rivalität zu Deutschland mit seiner starken Mark um jeden Preis vermeiden wollte. Dieser Umstand hatte dann doch eine gewisse disziplinierende Wirkung in Haushaltfragen. Doch mit der Einführung des Euro entfiel dieses bedrohliche Szenario und es gab eigentlich gar keinen Grund mehr, warum man nicht die Ausgaben immer mehr steigern sollte, auch wenn die Schulden dann entsprechend wuchsen. Wenn gefährliche Fehler folgenlos werden, und niemand für sie einstehen muss, wird es immer jemanden geben, der solche Fehler für vertretbar hält, mit gravierenden Konsequenzen für alle anderen, die für ihn mit haften.
All dies macht einmal mehr deutlich, welch eine groteske Idee des Euro von Anfang an war; übrigens sehr stark auch eine Idee des damaligen französischen Staatspräsidenten Mitterand aus Anlass der Wiedervereinigung, die den lang ersehnten Vorrang Frankreichs vor Deutschland in Europa, den man 1945 scheinbar auf ewige Zeiten errungen hatte, zu gefährden schien. Immerhin leisten wir ja nun auch unseren eigenen, keineswegs bescheidenen Beitrag zum Niedergang Europas durch unsere Energie- und z. T. auch Wirtschaftspolitik. Also sind wir mit den Nachbarn und „Freunden“ jenseits des Rheins trotz allem wieder in trauter Gemeinsamkeit im gemeinsamen Streben nach großen europäischen Zielen vereint. So hat dann der europäische Gedanke doch noch über die nationalen Sonderinteressen triumphiert, wenn auch vielleicht ein wenig anders als von den großen Europa-Enthusiasten erwartet.