Tichys Einblick
Der Preis der Politik der Illusionen

Folgt die CDU der SPD in den Untergang?

Die CDU hat sich unter Merkel auf eine Politik der Illusionen festgelegt, nicht nur mit Blick auf den Euro und die EU-Politik insgesamt, sondern auch in vielen anderen Bereichen.

© Sean Gallup/Getty Images

Kann man zum Niedergang der SPD noch irgendetwas sagen, was nicht dem Prinzip widerspricht „De mortuis nihil nisi bene“ (Über Tote darf man nicht schlecht sprechen)? Das scheint kaum möglich zu sein. Soweit ist die CDU noch nicht. Sieht man sich freilich die letzten Meinungsumfragen an, dann scheint auch diese frühere Volkspartei sich in einem Niedergang zu befinden, der nicht leicht zu stoppen sein wird. Dass dieser nicht noch drastischer ausfällt, ist nur auf die älteren Wähler über 60 zurückzuführen, die aus Gewohnheit oft den Parteien treu bleiben, die sie immer schon gewählt haben. Blickt man auf Wähler unter 30, z. B. im Kontext der EU-Wahl, dann können in Deutschland überhaupt nur noch die Grünen mit einem Stimmenanteil von gut 30 % als mögliche Volkspartei gelten, CDU und SPD nicht mehr, da sie kaum 15 % erreichen.

Angesichts solcher Verschiebungen im Wählerverhalten hat auch in der CDU ansatzweise jene Panik eingesetzt, in der die SPD mittlerweile komplett versunken ist. Die einen plädieren dafür, das Zentrum der Partei noch weiter nach links zu verschieben, vor allem in der Umweltpolitik, aber mittelfristig sicher auch in anderen Fragen, die anderen hoffen durch Schärfung eines wahlweise wirtschaftsliberalen oder konservativen Profils wieder mehr Wähler mobilisieren zu können.

Hass, Drohungen, Gewalt
Bei Anne Will: Der Anfang vom Ende der AKK
Was dabei leicht übersehen werden kann, ist, dass die CDU auch zum Opfer ihres eigenen Erfolges geworden ist. Seit Merkel die Bundesregierung führt, also seit einer halben Ewigkeit, hat die CDU die Strategie verfolgt, fundamentale Probleme sei es gesellschaftlicher, politischer oder wirtschaftlicher Art grundsätzlich zu verharmlosen, wenn nicht ganz totzuschweigen, jedenfalls jene Probleme, deren offene Erörterung zu einem Links-Rechts Konflikt in der Politik hätte führen können. Zum Teil war dies der Preis für die Große Koalition mit der SPD und die von Merkel schon vor Jahren angestrebte zukünftige Koalition mit den Grünen. Aber es ging auch darum, durch partielle Übernahme des Programms des politischen Konkurrenten dessen Angriffe ins Leere laufen zu lassen. Dieses Rezept war lange Zeit erfolgreich, und die SPD konnte man auf diese Weise als Rivalen mittlerweile fast vollständig ausschalten. Gegenüber den Grünen scheint diese Methode aber zu versagen, ja hier entfaltet diese Taktik eher eine gegenteilige Wirkung. Zu unverbraucht wirken die Grünen angesichts der Tatsache, dass sie seit 2005 im Bund keinen Minister mehr gestellt haben, und daher auch für nichts verantwortlich gemacht werden können. Und während die freundlich gesinnten Medien aus Habeck leicht einen deutschen Trudeau, wenn nicht gar einen neuen Kennedy machen können und aus Baerbock die dazugehörige Ocasio-Cortez – wenn auch vielleicht einstweilen ohne die prononciert sozialistischen Tagträume der amerikanischen Abgeordneten – wirkt das Personal der Union vergleichsweise verstaubt und kann allenfalls mit Retro-Charme aufwarten. Der kommt leider nur bei einem relativ kleinen Kreis von wirklichen Connaisseuren an.

Aber die Probleme sind auch struktureller Art. Die CDU ist unter Merkel nicht nur dazu übergegangen, dem Wähler zu suggerieren, dass ein rascher Ausstieg sowohl aus der Nuklearenergie wie auch – etwas später – aus den fossilen Brennstoffen wirtschaftlich ganz unproblematisch sei, sondern hat sich mit ihrer Rhetorik des „Wir schaffen das“ auch ein Narrativ zu eigen gemacht, in dem für die gravierenden Probleme einer ungebremsten Massenimmigration von beruflich meist wenig qualifizierten Personen schlechterdings kein Platz mehr ist. Das Erstaunliche ist, ein großer Teil der Wähler, vor allem der Jüngeren, glaubt diese sedierenden Erzählungen. In der Welt freilich, die durch solche politischen Placebo-Medikamente – denn darum handelt es sich leider doch –  geschaffen werden, fühlen sich vor allem die Wähler der Grünen wohl. Deren Politik als überzogen oder unrealistisch anzugreifen, wird dann fast unmöglich, da man ja eben noch die Probleme, die sich hier ergeben können, für nicht diskutierbar erklärt hat. Man steht also ohne Waffen dar.

Die wirtschaftspolitischen Konzepte der CDU sind durch den Euro obsolet geworden

Noch gravierender ist diese Selbstentwaffnung aber vielleicht auf dem Feld der Wirtschaftspolitik. In früheren Jahrzehnten konnte die CDU Wähler immer auch dadurch gewinnen, dass sie sich als wirtschaftsfreundliche Partei präsentierte, die durch eine pragmatische Politik Wohlstand zu garantieren vermochte, anders als die SPD mit ihren Umverteilungsplänen oder die generell eher wirtschaftsfernen Grünen. Dabei war es vor allem die CDU, die das spezifisch deutsche Konzept einer sozialen Marktwirtschaft verteidigte. Die CDU war aber auch jene Partei, die in den 1990er Jahren die Einführung des Euro vehementer betrieb als jede andere und die ihren Wählern auch nach Ausbruch der Eurokrise 2009-2010 am konsequentesten allerlei Ammenmärchen über die Auswirkungen dieser Entscheidung erzählt hat. Der Euro wurde und wird geradezu als Garant des deutschen Wohlstandes dargestellt; die katastrophalen Folgen, die die faktisch eben doch bestehende Haftung für die Schulden der anderen Euroländer hat – mag sie einstweilen auch vor allem auf dem Umweg über die Zinspolitik und die Geldschöpfung der EZB und demnächst über die Bankenunion gewährleistet werden – sind ein Tabuthema. Dem Wähler wird suggeriert, wir Deutsche lebten in einem durch den Euro garantierten Wohlstandsparadies. Dass die Nullzinspolitik der EZB, die eine notwendige Folge der Überschuldung vieler Euroländer ist, in Deutschland eine starke Umverteilung von unten nach oben, von normalen Arbeitnehmern, Sparern und Mietern zu den Besitzern von Immobilien und anderen Sachwerten nach sich zieht, wird natürlich verschwiegen. Würde man darüber sprechen, müsste man ja zugeben, dass der Euro eben doch eine fragile und falsch konstruierte Währung ist. Das will man vermeiden.

Ebenso wenig kann darüber gesprochen werden, dass in einem Wirtschaftssystem mit permanent unterbewerteter Währung – im Vergleich zu der Währung der wichtigsten Absatzmärkte Deutschlands – und realen (nach Abzug der Inflation) Zinssätzen nahe Null ein wirtschaftliches Handeln, das auf die permanente Steigerung von Produktivität ausgerichtet ist, für die einzelnen Akteure zunehmend überflüssig wird und damit oft ausbleibt, was langfristig natürlich in den gesamtwirtschaftlichen Niedergang führt. Wer sich einmal darauf eingelassen hat, seinen Wählern eine Scheinwelt ohne echte Probleme vor Augen zu stellen, der beginnt am Ende selber in dieser Scheinwelt zu leben. Man könnte das vielleicht fast vergleichen mit der Situation der politischen Führung der DDR in deren Spätphase. Man hatte die Statistiken über die Wirtschaftsleistung so erfolgreich gefälscht, dass man am Ende selber an den eigenen Erfolg glaubte und von dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, der sich Ende der 1980er Jahre abzeichnete, entsprechend überrascht war.

Kein überzeugendes Angebot
Die Union zwischen den Stühlen
In Deutschland ist ein System der monetären Staatsfinanzierung nach 1949 immer abgelehnt worden. Im Wesentlichen geschah dies auch auf Grund der Erfahrungen, die man zweimal mit dem vollständigen Zusammenbruch der eigenen Währung gemacht hatte, in den 1920er Jahren und nach 1945. Für Italien und in einem allerdings geringeren Maße in Frankreich gehörte die Finanzierung von Staatsausgaben über die Notenpresse verbunden mit regelmäßigen Abwertungen der nationalen Währungen hingegen lange Zeit zu einem bewährten Instrument, um angesichts des Druckes, den starke linksextreme Parteien auf das politische System ausübten, den Sozialstaat ausbauen zu können und um Wahlgeschenke in ausreichender Höhe zu finanzieren. Diese Politik war gewissermaßen alternativlos. Auch nach Einführung des Euro wurde und wird sie mit Hilfe der EZB faktisch fortgesetzt, in Italien sicherlich ausgeprägter als in Frankreich, aber auch in Frankreich ist der Versuch von Macron, fundamentale Reformen im sozialen Bereich durchzusetzen, einstweilen gescheitert, so dass eine Reduktion der Staatsverschuldung unmöglich erscheint.

Spätestens mit der nächsten großen Wirtschaftskrise wird die EZB die Politik der finanziellen Repression (Schulden werden durch negative Realzinsen reduziert) und der monetären Staatsfinanzierung über Anleihenkäufe etc. noch einmal massiv ausweiten müssen, möglicherweise dann sogar abgesichert durch eine Abschaffung des Bargeldes, so dass auch Kleinanleger den Negativzinsen nicht entgehen können. Die ersten Signale, die in diese Richtung zeigen, gibt es schon jetzt. Wir bewegen uns damit aber wirtschaftspolitisch in einer komplett anderen Welt als derjenigen der alten Bundesrepublik. Damit sind auch die wirtschaftspolitischen Prinzipien und Rezepte der traditionellen Marktwirtschaft, die die CDU immer vertreten hat, obsolet geworden.

Die Akzeptanz für eine liberale Wirtschaftspolitik schwindet

Eine marktwirtschaftliche Ordnung wird im übrigen am ehesten dort Akzeptanz bei der Bevölkerung finden, wo auch für die untere Mittelschicht Vermögensbildung zur Alterssicherung möglich ist. In Deutschland erfolgte diese Vermögensbildung traditionell weniger als in anderen Ländern über den Kauf von Immobilien, sondern über Lebensversicherungen, Betriebsrenten und Sparguthaben. Dieses System bricht jetzt schrittweise zusammen, weil die Zinsen für Anleihen zu niedrig sind, und die untere Mittelschicht wird in den größeren Städten durch die steigenden Preise überdies aus dem Markt für Immobilien einschließlich von Mietwohnungen zunehmend hinausgedrängt. Man muss sich unter diesen Umständen nicht wundern, dass plötzlich sozialistische Enteignungsphantasien aufkommen, und das nicht nur in Städten wie Berlin, wo man von rationaler Politik schon seit vielen Jahren vollständig Abschied genommen hat. Mit solchen Maßnahmen löst man natürlich auch keine Probleme, wie die Erfahrung zeigt, aber dass eine solche Diskussion überhaupt entsteht, zeigt, dass das alte marktwirtschaftliche Systeme der Bundesrepublik rapide an Glaubwürdigkeit verliert. Das ist auch eine Folge der neuen, durch den Euro geschaffenen Bedingungen, denn wenn man den Schutz von Eigentum propagiert, muss das eben auch für den Kleinanleger und Sparer gelten, nicht nur für die wirklich Wohlhabenden, und das ist eindeutig nicht mehr der Fall.

Die politische Klasse biedert sich an
Deutsches Klima: Gewalt gegen die Gesellschaft ist erlaubt
Die CDU hat auf diese Herausforderungen keine Antwort, weil sie die Lage zu lange und zu rückhaltlos schöngeredet hat. Sie hat so getan, als könne man unter den Bedingungen einer Nullzinspolitik und einer weitgehenden monetären Staatsfinanzierung noch genauso Wirtschaftspolitik betreiben wie in der alten Bundesrepublik. Daher hält sie an einer Schuldenbremse fest, die nur sinnvoll wäre, wenn unsere Nachbarländer ihr Schuldenwachstum auch begrenzen würden, sonst aber komplett sinnlos ist, weil sie nur zusätzliche Begehrlichkeiten in Rom und Paris weckt und überdies die Ungleichgewichte bei der deutschen Leistungsbilanz mit ihren gigantischen Überschüssen verstärkt. Im Vergleich zu den aus der Zeit gefallenen finanzpolitischen Vorstellungen der CDU ist der von den Grünen geforderte milliardenschwere und über Schulden finanzierte Klimafonds vielleicht noch nicht einmal eine gar so schlechte Idee.
Die Politik der Illusionen stößt an ihre Grenzen

Die CDU hat sich unter Merkel auf eine Politik der Illusionen festgelegt, nicht nur mit Blick auf den Euro und die EU-Politik insgesamt, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Solange die CDU von dieser Politik der Illusionen, des Leugnens fundamentaler struktureller Probleme, nicht loskommt, wird sie jede Wahl gegen die Grünen verlieren, denn Märchen erzählen und Erlösungsphantasien wecken, das können die Grünen namentlich dort, wo sie noch keine Regierungsverantwortung tragen, einfach sehr viel besser und sehr viel unterhaltsamer. Jemand wie Habeck macht das ja als Romancier sogar von Berufs wegen, und vielleicht nicht einmal schlecht. Dazu kommt noch ein Weiteres: Die Ideen der Grünen mögen einem oft realitätsfern erscheinen, aber immerhin haben die Grünen ein paar Ideen. Viele Ideen hatte die CDU als Kanzlerwahlverein, der nach eigenem Bekenntnis nur den status quo verwalten wollte, ohnehin nie, dafür galt sie eben früher als Partei, die das Bestehende mit hinreichender Sachkompetenz verteidigte. In Wirklichkeit ist die CDU aber eine Partei, die Deutschland in den letzten 20 Jahren radikal verändert hat, ohne darüber viel zu reden, durch die Abschaffung der nationalen Währung, durch eine riskante alternative Energiepolitik und durch den zumindest zeitweiligen – oder vielleicht doch faktisch eher dauerhaften – vollständigen Verzicht auf jeden Versuch, Immigration auf nationaler Ebene zu steuern und zu beschränken. Wer ein Land so radikal verändert, der muss dann eben doch mehr bieten als ein vages „Es wird schon alles irgendwie gut gehen“ kombiniert mit dem Hinweis darauf, dass jede Kritik an diesen Veränderungen böser Rechtspopulismus sei. Wer radikale Veränderungen umsetzt, braucht eine Vision. Die haben die Grünen durchaus, mag es auch oft eine Vision naiver, eher unpolitischer Idealisten, wenn nicht sogar, im schlimmeren Fall, intoleranter Moralisten sein. Ihnen schwebt die CO 2-neutrale, postnationale, vollständig multikulturelle Gesellschaft vor, die möglichst bald zur reinen Provinz der Vereinigten Staaten von Europa wird, regiert von Präsident Macron zum Wohle der Mittelmeerstaaten der EU – und Frankreichs natürlich. Die CDU hat eine solche Vision nicht und wird sie auch morgen nicht haben, weil sie nicht die richtige Partei für Visionen ist, das hat sich auch unter Merkel nicht geändert.

Die CDU wird sich daher nur erneuern können, wenn sie sich der Tatsache stellt, dass Deutschland ein Land im – vielfach selbstverschuldeten –  Niedergang ist, das sich allzu viele Experimente jetzt einfach nicht mehr leisten kann. Der Weg zu dieser Einsicht wird aber erst offen sein, wenn die Ära Merkel zu Ende gegangen ist und die Stimmführer des Jubelchores ihrer Anhänger in der Partei keine maßgebliche Rolle mehr spielen. Der Weg dorthin ist unendlich weit und bis dahin wird sich der Niedergang des alten Kanzlerwahlvereins wohl fortsetzen und vermutlich sogar noch einmal dramatisch beschleunigen. Wer Merkel für eine geniale Kanzlerin hält, und dies auch öffentlich propagiert, dem wird jedenfalls die Erkenntnis nicht erspart bleiben, dass die wahre Merkel der Zukunft Baerbock heißen wird – oder vielleicht Habeck – und eben nicht AKK und erst recht nicht Friedrich Merz.

Die mobile Version verlassen